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Im Gefängnis der guten Absichten
Sebastian Faulks - Die Traumtänzer

it ihnen hat es das Leben gut gemeint: Mary, die junge Hausfrau und Mutter zweier wohlgeratener Kinder unterstützt ihren erfolgreichen Mann Charlie in allen Lebenslagen. Als Gastgeberin ist sie perfekt. Ihre charmanten Abendeinladungen sind für Charlie, den Engländer, bei seiner Arbeit im diplomatischen Dienst mehr als nützlich. Die Feste der beiden sind legendär in Washington und an Gesprächsstoff mangelt es nicht, befindet sich doch Amerika im Augenblick, zu Beginn der sechziger Jahre, im Wahlkampf zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon.

Wäre da nicht eines Abends der New Yorker Journalist Frank Renzo aufgetaucht. Mary und er beginnen eine heiße Affäre. Und während sich ihre Kurzreisen nach New York mehren, nimmt der Alkoholkonsum ihres Mannes bedenkliche Ausmaße an. Charlie hat seinen Job satt. Die Bespitzelungen der vergangenen McCarthy Ära sind immer noch an der Tagesordnung und Amerika rüstet zum Kalten Krieg gegen die Sowjetunion.

Mary versucht die Tagespolitik zu verdrängen und pendelt zwischen den beiden Männern, ohne sich entscheiden zu wollen. Bis die Situation eskaliert: ihre Mutter in England stirbt, Charlie bricht in Moskau total zusammen und Frank reibt sich abwechselnd im Wahlkampf -Tross Kennedys oder Nixons auf.

Sebastian Faulks ist seit seinem Roman "Gesang vom großen Feuer" dafür bekannt, dass er sehr viel Wert auf die stimmigen historischen Ereignisse legt. Das erzielt er auch in seinem Roman "Die Traumtänzer". Mit dem richtigen Blick für die Atmosphäre zeigt er Amerika als ein Land, "ausgestattet mit der Fähigkeit, sich selbst zu erfinden und den Rest der Welt dann von der Notwendigkeit dieser Erfindungen zu überzeugen."

Vor diesem Hintergrund bewegen sich seine Figuren gleich Traumtänzern, fernab jeglicher Bodenhaftung, wie beispielsweise Mary, die zwischen Charlie und Frank schwebt und am liebsten den Vorteil beider behalten möchte. "Sie hatte das Abenteuer Ehe immer für ungleich interessanter gehalten als das schale Vergnügen eines Seitensprungs."

Dieses Buch ist ein leiser Roman, in dem sich das Unglück schweigend, auf leisen Sohlen nähert, sich perfide hinter der Maske des Glücks versteckt und dann doch in seiner ganzen Tragweite nicht zu leugnen ist. Kein Roman zum schnellen Verzehr, doch umso nachhaltig sättigend in seiner Wirkung.
manuela haselberger



  Sebastian Faulks -
  Die Traumtänzer
   Originaltitel: »On Green Dolphin Street«, © 2001
   Übersetzt von Wolfram Ströle
   © 2003, München, C. Bertelsmann Verlag, 415 S., 23.90 €

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Das Haus der van der Lindens, die Nummer 1064, unterschied sich von den anderen Häusern der Straße durch die Kletterpflanze, die die halbe Fassade bedeckte und bis zu den Kinderzimmern unter der Dachtraufe hinaufreichte. Nachts, im Schein der Straßenlaterne, umfing das Haus eine entrückte, ländliche Stille. Auf der Anliegerstraße davor parkten in einer langen Reihe neue Cadillacs, deren schimmernde Heckflossen entfernt an Haifische erinnerten. Charlie van der Lindens kastanienbrauner, zwei Tonnen schwerer Kaiser Manhattan, Baujahr 1953, wirkte unter ihnen sonderbar fremd und unstädtisch.

Das Haus beherrschte das Grundstück. Die Hälfte des Gartens dahinter hatte der Architekt für zwei zusätzliche Zimmer geopfert. Das verbliebene Gelände war zum Teil gepflastert. Ein früherer Mieter hatte einen aus Ziegeln gemauerten Grill und einen Basketballkorbring hinterlassen. Am Ende des Rasens stand eine eiserne Kinderschaukel, die Charlie eines Sommers nach einem Picknick im Garten zur Freude seiner Kinder dort montiert hatte und die seither unbenutzt vor sich hin rostete. Im Unterschied zu den behäbigen, bodenständigen Nachbarhäusern haftete dem Haus der van der Lindens etwas Vergängliches an. Wenn nachts in den Schlafzimmern entlang der Straße die Lichter erloschen wie die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen eines alten Mannes, erstrahlte das Haus der van der Lindens oft erst in vollem Glanz, und die Party strebte ihrem Höhepunkt zu. Die Autos der Gäste parkten am Bordstein bis hinauf zur Nummer 1082, dem Haus der Washingtoner Korrespondenten einer französischen Zeitschrift, die niemand kannte.

Louisa und Richard schliefen droben in ihren Zimmern. Sie zuckten gelegentlich zusammen, etwa wenn ein ausgelassener Schrei die Treppe heraufdrang oder ein Gast im Überschwang des Erzählens ein Glas umstieß und es auf den Fliesen des Flurs zerbrach. Dauerte eine Party sehr lange, ging Mary zwischendurch nach oben, um nach den Kindern zu sehen und sie wieder ordentlich zuzudecken. Die Kinder erinnerten sich manchmal am nächsten Morgen noch an ihren Geruch, an den Lippenstift und Gin und an ins Ohr geflüsterte Koseworte und die sanfte Berührung ihrer Finger.

Auch an jenem Dezemberabend hatten die van der Lindens Gäste eingeladen, zum letzten Mal in diesem Jahrzehnt. Sie feierten ihren elften Hochzeitstag. Ein solcher privater Anlass bedeutete eine willkommene Abwechslung. Wenigstens diesmal brauchten sie kein Interesse für einen prominenten Gast der Stadt, einen nationalen Feiertag oder einen wie hektisch Artigkeiten von sich gebenden Politiker zu heucheln. Geladen war eine Auswahl der üblichen Diplomaten und Journalisten, dazu einige Nachbarn, besonders nette und solche, die gekränkt gewesen wären, wenn man sie nicht eingeladen hätte, außerdem Weissman, Charlies Arzt, mit seiner haitianischen Verlobten.

"Auf den schottischen Nationalfeiertag!", rief Charlie mit gerötetem Gesicht. Er entkorkte die Scotchflasche, goss drei Fingerbreit davon über einige Eiswürfel und reichte das Glas Edward Renshaw, seinem liebsten Kollegen an der britischen Botschaft. "Was machen deine Finanzen dieser Tage?"
"Katastrophe. Prost!"

Mary van der Linden stand im Wohnzimmer. Der elektrische Schein der Tischlampe hinter ihr spielte in ihren dunklen Haaren. Ihre braunen Augen kehrten immer wieder zu Charlie zurück. Du bist mein ganzes Glück, schien ihr Blick sagen zu wollen: exzentrisch und keineswegs vollkommen, aber doch auf deine Art zuverlässig. Niemand wusste im Voraus, wann Mary lächeln würde, denn sie war mit ihrer Schüchternheit nicht immer die perfekte Diplomatengattin und empfand gesellschaftliche Empfänge als Last. Andererseits schien sie aus einer von den Fährnissen des Tages unabhängigen inneren Ruhe zu schöpfen, und wenn sie einmal lächelte, erhellte eine solche Heiterkeit ihr Gesicht, dass, wer sie sah, überrascht innehielt.
In der Küche schnitt Dolores, das im Haus wohnende puertoricanische Dienstmädchen, das die Botschaft zur Verfügung gestellt hatte, Wisconsin-Cheddar in Würfel und spießte diese zusammen mit einer Olive auf Plastikstäbchen. Dann stellte sie die Spießchen und Teller mit Salzbrezeln, Nüssen, Muscheldip und gesalzenen Crackern auf ein Tablett und schlängelte sich durch den von Gästen bevölkerten Flur.

Charlie legte eine Bossa-Nova-Platte auf das Grammofon, zog eine Zigarette aus dem Päckchen in seiner Brusttasche, zündete sie an, inhalierte tief und ließ den Blick über die Gäste wandern. Sein Gesicht hatte trotz der geplatzten Äderchen und der schlampigen Rasur unter dem Kinn noch etwas von seiner jugendlichen Attraktivität bewahrt. Die strubbeligen Haare und die gelockerte Krawatte gaben ihm etwas Schuljungenhaftes, das auch die schlaffer werdende Haut am Kinn noch nicht ganz überdeckt hatte. Er bemerkte Mary, die in die Tür zum Flur getreten war, und lächelte ihr verschwörerisch zu. Sie hatten es wieder einmal geschafft. Zusammen hatten sie die schwierige Auswahl der Gäste getroffen - konnte man die Frau dieses Mannes einladen? Trank jener nicht zu viel? -, die lästige Alltagsroutine bewältigt, die Kinder im Zaum gehalten und sie gerade noch rechtzeitig ins Bett gebracht. Charlie van der Linden hatte Probleme - nicht nur mit seiner Gesundheit, sondern mit dem Leben überhaupt. Doch als er jetzt den Blick seiner Frau auf sich gerichtet sah, hatte er das Gefühl, dass diese Probleme ihn gar nichts angingen, dass mit drei weiteren Gläsern Scotch, einem ruhigen Wochenende in einer ländlichen Pension im Shenandoah-Tal und ein wenig Nachdenken alles ins Lot zu bringen war.

"Wer ist der Mann, der sich gerade mit Mary unterhält?", Edward Renshaw hatte Charlie am Ellbogen gefasst.
"Ein Journalist, soviel ich weiß. Ich traf ihn heute Morgen zufällig beim Empfang in der spanischen Botschaft. Er behauptete, wir würden uns von früher kennen."
"Gehen wir doch hin und sagen guten Tag."
"Eddie", sagte Mary, "das ist Frank Renzo. Er ist für ein paar Tage in der Stadt."
"Freut mich, Sie kennen zu lernen." Frank Renzo war groß und hager, und seine kurz geschnittenen Haare zeigten einen ersten grauen Schimmer. Seinem Akzent nach stammte er aus einer Stadt des Mittleren Westens, womöglich Chicago.
"Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?", fragte Charlie.
"Danke, ich bin schon versorgt."
"Was führt Sie nach Washington?", erkundigte sich Edward Renshaw höflich.
"Nur ein Artikel für meine Zeitung. Ich komme aus New York."
"Tja dann, viel Vergnügen!", sagte Charlie. "Rufen Sie uns an, wenn wir etwas für Sie tun können."

Er drehte sich um und ging zu der Bar, die er in einer Ecke des Raums eingerichtet hatte. Mary sah ihm nach. Sonst stand hinter der Reihe von Flaschen ein von der Botschaft ausgeliehener Barmann, aber an diesem Abend hatte Charlie die Aufgabe als kleine Geste der Sparsamkeit selbst übernommen. Er schaufelte aus einem unter dem Tischtuch versteckten Eimer Eiswürfel in einen Kühler.
"Die Kennedys kaufen angeblich ein neues Haus in der N Street", sagte ein Journalist von der Washington Post. "Martha kennt den Makler, der sie herumgeführt hat. Jackie soll ganz begeistert gewesen sein."

"Ach ja?" Charlie gab Eiswürfel in ein Glas und goss Bourbon darüber. Die Würfel knackten. "Ich dachte, sie wollten das Haus von Joe Alsop kaufen." Er spürte, wie der Scotch in ihm zu wirken begann, wie die Anspannung von ihm abfiel und er sich jenem Zustand unkritischer Bonhomie näherte, den er so mochte. Er lächelte in sich hinein. Die Ironie war natürlich, dass er nur in angeheitertem Zustand, nur in solchen Momenten eines vollkommenen inneren Gleichgewichts gedanklich im Stande war, seine Probleme in der richtigen Perspektive zu sehen und zu wissen, dass er sie eines Tages lösen würde. Angeregt von der Gesellschaft seiner Gäste, lebte er auf. Bei anderen Gelegenheiten, wenn es ihm schlecht ging, argwöhnte er zuweilen, dass das Feuerwerk an Geistesblitzen und guter Laune, das er zur Unterhaltung der Gäste abbrannte, sich eines Tages erschöpfen würde und nur wenige seiner Gäste seinen Feldzug gegen Langeweile, Vergänglichkeit und Beschränktheit überhaupt würdigen konnten. Doch er hatte noch nicht jenen Punkt erreicht, an dem er sich gefragt hätte, ob er nicht krank war, ob seiner einsamen Flucht vor einem namenlosen Schrecken nicht etwas Krankhaftes anhaftete.
Menschenliebe durchströmte ihn, Tabak weitete seine Lungen, und er lächelte erneut.
"Wir treffen uns immer mittwochs, wenn wir die Kinder zur Schule gebracht haben", sagte Lauren Williams gerade zu Frank Renzo. "Zum Mittagessen macht Kelly die Vorspeise, Mary-Beth oder ich das Hauptgericht und Katy das Dessert. Katy bereitet die besten Desserts zu, die Sie sich vorstellen können."
"Und Sie nehmen sich immer etwas Bestimmtes vor?"
"Immer. Manchmal nur ein Buch, das wir alle gelesen haben, manchmal besuchen wir auch eine Veranstaltung."
"Und Sie sind nur zu viert?"
"O nein, es kommen noch mehr. Das ist nur der enge Kreis. Wir sind meist sieben oder acht. Auch Mary kommt oft."
"Was macht sie?"
"Sie meinen, was ihre Spezialität ist? Hm, manchmal bringt sie Wein mit. Sie kommt doch aus Europa. Ach, ich weiß auch nicht."
Lauren Williams begann zu lachen. "Katy, was bringt Mary zu unseren Treffen mit?"
"Mary?" Katy Renshaw sah Franks ernstes Gesicht und begann ebenfalls zu lachen. "Kultur, stimmt's, Mary?"
"Stimmt was?" Mary, die an einem anderen Gespräch teilgenommen hatte, drehte sich zu ihnen um.
"Sie schreibt sogar ein Buch", fügte Lauren Williams hinzu.
"Tu ich das?"
"Charlie sagt es."
"Er muss ja irgendwie erklären, was ich den ganzen Tag so treibe."
Mary ging mit einem Tablett in die Küche. Dort rührte Dolores in einer Pfanne.
"Glücklich und zufrieden, Dolores?"
"Ja, danke, Mrs. van der Linden. Sie auch?"

Gedankenverloren lehnte Mary mit dem Rücken am Herd und nippte an einem Glas mit Gin Tonic und klackenden Eiswürfeln. Glücklich...
Louisa hatte mit zwanzig Monaten geredet wie eine Drei- oder Vierjährige, ohne richtig zu verstehen, was sie sagte. In London hatte sie im Home Service den Seewetterbericht gehört und den Sprechern mit schräg gelegtem Kopf ernst und konzentriert geantwortet. Doggerbank, Fischerbank, Deutsche Bucht.

Übewältigt von Liebe, hatte Mary sich manchmal vorgestellt, Louisas Bewusstsein sei angefüllt mit den vagen Eindrücken einer früheren, reineren Welt. Sie hatte Wochen mit Louisa im Krankenhaus verbracht, wo Ärzte nach der Ursache einer heftigen Allergie suchten. Auch danach, zu Hause, waren Mutter und Tochter nur selten getrennt gewesen. Wenn sie badeten und Mary sich im Wasser zurücklegte, hämmerte die kleine Louisa mit den Fäusten auf die aus dem Wasser ragenden, geschlossenen Knie der Mutter ein, bis die Beine sich öffneten und das Kind in die Burg einließen. Zum Beispiel Amerika: Wie groß war es, wie weit weg, wie anders und dann, nach einer langen, nachdenklichen Pause: "Gibt es in Amerika auch Kinder?" Noch jetzt, mit zehn Jahren, hatte Louisa etwas Schwebendes, Ätherisches.

Andererseits konnten ganz alltägliche Begegnungen, die bei anderen Kindern keine Spuren hinterließen, sie verletzen. Ihr Bruder Richard war robuster. Mary hatte am Anfang gefürchtet, sie könnte ein zweites Kind nicht so lieben wie das erste. Richard war so anders als seine Schwester. Zu ihrer eigenen Verwunderung hatte sie dann feststellen müssen, dass er sich durch Beharrlichkeit einen ähnlichen Platz in ihrer Zuneigung eroberte wie Louisa und für sie genauso einzigartig und unersetzlich geworden war. Vielleicht war es sein Geruch, dem Mary zuerst verfiel, der Geruch seines Nackens am Haaransatz, wenn sie ihn bei der Rückkehr von einem auswärts verbrachten Abend aus der Wiege hob: jener schwache Duft nach Honig, Baumwolle, halb gebackenem Brot, Walderdbeeren und Wärme, so köstlich, dass sie immer wieder einen Vorwand fand, ihn anders hinzulegen, auch wenn er bereits so fest schlief, wie ein Kind nur schlafen konnte. Sein heftiges Temperament stand in deutlichem Kontrast zu Louisas zielloser, verträumter Neugier. Er wollte jeden Tag das gleiche Mittagessen, die gleiche Radiosendung und um genau die gleiche Zeit aufs Klo, wo er dann, die Katze fest unter den Arm geklemmt, auf dem hölzernen Sitz Platz nahm und "The Camptown Races" schmetterte, während ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Glücklich, dachte Mary, während sie die Schürze zusammenfaltete und über die Stuhllehne hängte und sich vor dem Spiegel über dem Küchentisch die Haare glatt strich, vielleicht nicht unbedingt glücklich, nicht auf die unbeschwerte Art, die das Wort nahe legte, aber wer hätte an ihrer Stelle nicht wenigstens von Zeit zu Zeit am liebsten laut gelacht vor Freude?

Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo im dichten Zigarettennebel Duncan Trench mit dem Finger auf Katy Renshaw deutete, Edwards amerikanische Frau. Trenchs wie aus gewaltigen Platten geformte Wangen und seine kleinen Augen erinnerten an ein Karpfengesicht, obwohl seine Hautfarbe Mary nicht an Fisch, sondern an halbgares Rindfleisch denken ließ.
"Wenn in North Carolina Neger den ganzen Tag in den Restaurants von Woolworth herumsitzen, obwohl sie dort nichts zu essen bekommen", sagte er gerade, "dann ist der Inhaber des Restaurants doch berechtigt, sie mit angemessenen Mitteln zu vertreiben. Sie hindern ihn daran, Geld zu verdienen."
Kaum jemand wusste, was genau Trenchs Funktion in der Kanzlei der Botschaft war. Was er sagte, war jedenfalls selten diplomatisch.
"Richtig", antwortete Frank Renzo. "Und er hindert sie am Essen."
"Sie können genauso gut in ein anderes Restaurant gehen."
"Aber sie wollen bei Woolworth essen. Der Truthahn für fünfundsechzig Cents schmeckt ihnen. Schon versucht?"
"Nein, aber darum geht es doch nicht. Was ich meine, ist..."
"Sollten Sie aber. Die Sauce fehlt, ansonsten schmeckt er prima."
"Solange die Neger sich weigern zu gehen, können die Kunden nicht bedient werden."
"Aber sie sind doch die Kunden."
"Sie wissen, was ich meine."
Mary sah, wie Duncan Trenchs Gesicht sich von Rindfleisch nach Borschtsch verfärbte. Schnell trat sie auf die Gruppe zu.
"Wer möchte noch einen Drink?", fragte sie. "Duncan, kennen Sie Kelly Eberstadt? Sie und ihr Mann sind nach Bethesda gezogen und -"
"Haben Sie schon mal von einem Jungen namens Emmett Till gehört?", wollte Frank wissen.
"Ich glaube nicht", erwiderte Trench, während Mary ihn am Ellbogen fasste und wegführte.
"Der hätte Ihnen gefallen. Ihr Typ." Frank Renzo sah Trench nach. Katy Renshaw starrte auf ihre glänzenden Schuhe.
Dann hob sie wieder den Kopf. "Tja", sagte sie munter. "Que sera, sera."
"Schönes Lied."
" Schöner Film. Mögen Sie Doris Day?"
"Klar", erwiderte Frank, "aber Jazz mag ich noch lieber."
" Charlie auch! Legen wir doch eine Platte auf, und tanzen wir."

Um kurz nach eins begannen die Gäste sich zu verabschieden, doch bis sie gegangen waren, hatte Charlie noch eine halbe Flasche Burgunder getrunken, die er im Küchenschrank fand, und als Schlummertrunk ein Glas Four Roses mit Eis. Dazwischen wankte er zur Haustür, gab Lauren Williams ein keusches Küsschen auf die gepuderte Wange, klopfte ihrem Gatten, dessen Namen er immer vergaß, auf die Schulter, drückte Katy Renshaw an sich und benutzte die Gelegenheit, das Gesicht in ihren duftenden Haaren zu vergraben.
"Zum Abschied vorgebeugt und voll der Küsse", murmelte er.
"Von wem ist das?"
" Was?"
"Wallace Stevens."
"In meinen Gesammelten Gedichten steht der Vers nicht, Charlie", sagte Edward Renshaw und legte einen Schal um die Schultern seiner Frau.
"Du hast Recht, Eddie. Ich habe ihn mir selbst ausgedacht."

Ein eisiger Nordwind pfiff durch die Nacht; es war klirrend kalt geworden. An den Türrahmen gelehnt, zündete sich Charlie noch eine Gute-Nacht-Zigarette an. Mary trat neben ihn. Die letzten Gäste starteten ihre Autos. Gegenüber wurde im Obergeschoss das Licht angemacht: das chinesische Paar, das zum Abendessen aus Schalen klare Suppe löffelte und um sieben zu Bett ging. Mary zuckte zusammen. Die Gäste waren leise gegangen, aber die Cadillacmotoren dröhnten so laut, dass die Sturmfenster in ihren Rahmen vibrierten.

Mary sah die Straße entlang. Eine hagere Gestalt kam mit hochgezogenen Schultern schwankend näher. Es war Frank Renzo. Er hielt mit der linken Hand die rechte umklammert und hinterließ auf dem schneebedeckten Gehweg eine blutige Spur.
"Mein Gott", schimpfte er leise. "Blöde Autotür."
Mary eilte ihm besorgt entgegen. "Was ist passiert? Kommen Sie rein." Sie führte ihn durch die Küche. "Das Blut macht nichts, das sind nur Fliesen."
"Was ist passiert?", fragte Charlie. "Haben wir Verbandszeug?"
"Droben im Bad."
Lesezitat nach Sebastian Faulks - Die Traumtänzer




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