Prolog
"Gnädiger Allah! Ich komme mir vor wie ein schlachtreif gemästetes Kalb!"
Masrur al-Adan grölte vor Lachen und ließ seinen Kelch donnernd auf den polierten Holztisch krachen - einmal, zweimal, dreimal. Eine Kette sichelförmiger Kerben folgte seiner Handbewegung. "Ich kann mich kaum rühren, so voll bin ich."
Das Feuer war mit Asche angehäufelt, Schatten liefen über die Wände. Masrurs Tafel - denn er war hier der Hausherr - war mit den Knochen von Kleingeflügel übersät.
Masrur beugte sich vor und linste über die Tafel. "Ein Kalb", sagte er. "Gemästet. " Dann rülpste er geistesabwesend und fuhr sich mit einem weinfleckigen Ärmel über den Mund.
Ibn Fahad gestattete sich ein schmallippiges, kühles Lächeln. "Wir haben tatsächlich ein ziemliches Gemetzel unter den Tauben angerichtet, alter Freund." Seine dürre Hand wies über die unordentliche Tafel. "Mein Kompliment an deinen Koch."
"Mein Koch", entgegnete Masrur. Er grinste geschmeichelt. "Ein Juwel, wie du weißt. Aller-dings kann er sich nicht aus der Küche rühren; seine alte Wunde schmerzt ihn immer noch. Ich werde ihm morgen deine Anerkennung aussprechen. "
Ibn Fahad meinte: "Wir haben auch die Elitegarde deiner Weinkeller ziemlich in Trab gehalten. Und wie immer danke ich dir für deine Gastfreundschaft. Aber fragst du dich nicht manchmal, ob es im Leben vielleicht doch mehr gibt, als im Dienste des Kalifen fett zu werden? "
"Ha! " Masrur rollte mit den Augen. "Die Wünsche des Kalifen zu erfüllen, hat mich reich gemacht. Gemästet habe ich mich selbst. " Er lächelte. Die anderen Gäste lachten und flüsterten.
Abu Jamir, ein noch fetterer Mann in einer ebenso fleckigen Robe, stieß einen kleinen Turm aus Taubenknochen um. "Die Nacht ist jung, mein lieber Masrur! " rief er. "Lassen Sie noch Wein holen, und geben Sie uns ein paar Geschichten zum besten! "
"Babal " brüllte Masrur. "Komm her, du alter Hund! "
Nach drei Atemzügen stand ein alter Diener in der Tür und beäugte seinen schalkhaften Herrn mißtrauisch.
"Bring uns den restlichen Wein, Baba - oder hast du ihn schon selbst ausgetrunken?"
Baba zupfte sich am stoppligen Kinn. ... ähm, aber Sie haben ihn doch getrunken, Meister. Sie und Meister Ibn Fahad haben die letzten vier Krüge mitgenommen, als Sie von den Stadtmauern aus mit Pfeil und Bogen schießen wollten. "
"Wie ich vermutet habe", sagte Masrur nikkend. "Nun, dann geh durch den Basar zu Abu Jamirs Haus, weck seinen Diener auf und bring uns ein paar Krüge. Der gute Jamir meint, wir bräuchten umgehend Wein."
Baba verschwand. Die anderen Gäste klopften dem so gefoppten Abu Jamir fröhlich auf die Schulter.
"Eine Geschichte, eine Geschichte! " rief jemand. "Eine Geschichte! "
"Ach ja, eine Geschichte von Ihren Reisen, Meister Masrur! " meldete sich der junge Hassan, der sturzbetrunken war. Doch das kümmerte keinen. Hassans Augen leuchteten, und er steckte voller unschuldiger Dummheit. "Jemand hat mal gesagt, Sie seien in die grünen Länder des Nordens gereist. "
"Des Nordens ... ?" brummelte Masrur und winkte ab, so als hätte er es mit etwas Unreinem zu tun. "Nein, mein Junge, nein ... damit kann ich nicht dienen." Sein Gesicht verdüsterte sich, und er ließ sich in seine Kissen zurücksinken; sein mit einem Fez gekrönter Kopf schwankte.
Ibn Fahad kannte seinen alten Kameraden Masrur so gut wie seine Pferde - und tatsächlich handelte es sich bei dem massigen Kerl um den einzigen Menschen, der von sich behaupten konnte, Fahads Aufmerksamkeit zu genießen. Fahad hatte schon erlebt, daß Masrur doppelt soviel getrunken hatte wie heute abend und dennoch wie ein Derwisch auf den Stadtmauern von Bagdad tanzte, doch Ibn Fahad glaubte den Grund für dieses plötzliche Unbehagen zu kennen.
"Ach, Masrur, bitte! " Hassan hatte noch nicht aufgegeben; er blieb so unerbittlich wie ein junger Falke mit seiner ersten Beute unter den Fängen. "Erzählen Sie uns vom Norden. Erzählen Sie uns von den Ungläubigen!"
"Ein guter Muslim sollte kein solches Interesse an Ungläubigen zeigen." Abu Jamir rümpfte fromm die Nase und schüttelte die letzten Tropfen aus einem Weinkrug. "Wenn Masrur keine Geschichte erzählen will, dann la& ihn auch in Ruhe. "
"Hah! " schnaubte der Gastgeber verächtlich, der sich offenbar wieder erholte. "Du willst mich nur zurückhalten, Jamir, damit meine Kehle nicht so trocken ist, wenn &in Wein kommt. Nein, ich habe keine Angst, von Ungläubigen zu reden; Allah hätte ihnen keinen Platz in ihrer eigenen Welt ein-geräumt, wenn sie zu gar nichs gut wären. Eigentlich sind es ... gewisse Ereignisse, die mich zögern lassen. " Er sah den jungen Haman freundlich an, der trotz all seiner Trunkenheit so wirkte, als müßte er gleich weinen. "Verzweifle nicht, Grünschnabel. Vielleicht würde es mir ja gut tun, diese Geschichte einmal ausführlich zu erzählen. Ich habe die Einzelheiten lange genug für mich behalten." Masrur leerte den letzten Tropfen eines anderen Kruges in seinen Kelch. "Doch ich fühle es immer noch so deutlich - bittere, sehr bittere Zeiten. Warum erzählst du nicht die Geschichte, mein guter Freund?" sagte er über seine Schulter hinweg zu Ibn Fahad. "Deine Rolle darin ist ebensogroß wie die meine. Erzähl du."
"Nein", erwiderte Ibn Fahad. Der betrunkene Welpe Hassan gab einen unterdrückten Verzweiflungsschrei von sich.
"Aber warum nicht, alter Kamerad? " fragte Masrur, wandte seinen massigen Körper zur Seite und starrte ihn überrascht an. "Hat das Erlebnis auch dein Herz derart frösteln lassen? "
Ibn Fahad schaute düster. "Nein, weil ich es besser weiß. Kaum fange ich an zu erzählen, wirst du mich unterbrechen, hier etwas anfügen, dort etwas ausführen und dann sagen: >Nein, nein, ich kann darüber nicht reden! Fahre fort, alter Freund!< Und bevor ich wieder Luft geholt habe, wirst du mich erneut unterbrechen. Und am Ende wirst nur du reden, Masrur, das weißt du. Warum fängst du nicht lieber gleich selbst an und ersparst mir die Mühe?"
Alle lachten, nur Masrur nicht, auf dessen Gesicht sich verletzter Stolz zeigte. "Aber natürlich, alter Freund", murmelte er. "Ich hatte ja keine Ahnung, daß du einen solchen Groll hegst. Natürlich erzähle ich die Geschichte. " Er zwinkerte der Tafel zu. "Kein Opfer ist zu groß für eine Freundschaft wie die unsere. Schür das Feuer, Baba. Ach, der ist ja fort. Hassan, hättest du die Güte? "
Als der junge Mann wieder saß, trank Masrur einen Schluck, strich sich über den Bart und begann.S. 11-16
Lesezitate nach Tad Williams & Nina Kiriki Hoffman - Die Stimme der Finsternis