Kapitel 1:
Komm doch rein, sagt die Polizistin, und da bin ich reingegangen.
Es war ein kleines Zimmer mit einem Tisch und ein paar Stühlen. Das war alles.
An Stelle eines Fensters hing ein großer Spiegel an der Wand, aber ich guckte
nicht rein, weil ich mich nicht sehen wollte.
Ich hab mich hingesetzt und die Hände zusammengelegt.
Unter meinen Fingernägeln war immer noch Blut, darum hab ich sie schnell unterm
Tisch versteckt.
Die Frau sagt, willst du was trinken? Eine Cola oder so?
Nein, ich will nichts.
Wir versuchen gerade, deine Mutter ausfindig zu machen.
Wir warten hier, bis sie kommt.
Ach so, sage ich.
Ist das in Ordnung?
Ja, in Ordnung.
Dann ist der andere Polizist reingekommen. Der mit dem
weißen Haar und dem Bauch.
Er sagt, na, wie geht's, Linda?
Ganz gut.
Er legt ein paar Zettel vor sich hin, kann aber nicht finden,
was er sucht.
Wie alt bist du? will er wissen.
Dreizehn.
Dreizehn?
Ja, sage ich.
Wir konnten deine Mutter nicht ausfindig machen, Linda.
Sie arbeitet doch bei Persic Realty, dem Immobilienbüro. Ist das richtig?
Ja.
Wir haben dort angerufen, aber die Frau am Telefon sagt,
deine Mutter ist heute nicht gekommen, und auf ihren Piepser reagiert sie
nicht. Wir haben einen Streifenwagen zu eurer Wohnung geschickt, aber da ist
auch keiner. Hat sie dir vielleicht gesagt, wo sie heute hingeht? Kannst du
dich erinnern? Weißt du, wo sie ist?
Nein, keine Ahnung. Ich dachte, sie ist bei Persic.
Wann hast du deine Mutter das letzte Mal gesehen, Linda?
Heute früh.
Hat sie denn gesagt, was sie vorhat?
Nein. Sie hat noch geschlafen, als ich wegging.
Ich hatte Tylers Windel gewechselt, ihn ins Zimmer getragen
und zu ihr ins Bett gelegt. Dann hab ich gesagt, ich geh jetzt. Heute musst du
Tyler selber in die
Krippe bringen. Ich bring Stoppard noch zum Schulbus.
Hast du mich verstanden?
Der Polizist sagt zu der Frau, sie soll ihr Notizbuch rausholen.
Wärst du so nett und würdest mir noch einmal erzählen,
was auf der Parkhausrampe passiert ist, Linda, sagt er.
Das hab ich schon dem anderen Polizisten erzählt.
Ich weiß, aber ich möchte es von dir selber hören.
Mir war klar, dass er das sagt. Ich hatte schon damit gerechnet,
dass ich immer wieder erzählen muss, was passiert ist.
Ich fing an. Wir haben auf der Rampe gestanden und geredet.
Schon unterbricht er mich. Das heißt du und Mr Green?
Ja.
Über was hast du mit Mr Green geredet?
Weiß ich nicht mehr genau. Über die Aussicht, die man von
der Rampe aus hat. Das war alles. Er überlegte, ob die Welt anders aussehen
würde, wenn sie flach wäre
und nicht rund. Er hat gesagt, ein Mensch, der sich von uns
entfernt, würde verschwinden. Wegen der Krümmung. Erst die Füße und zum Schluss
der Kopf. Wenn
die Erde aber flach wäre und es wäre nichts im Weg, würde
er nur immer kleiner werden.
Was ist dann passiert?
Dann ist Frank gekommen und hat auf ihn geschossen.
Frank ist Mr Perry?
Ja. Frank Perry.
Kanntest du Mr Perry?
Ja. Wir haben eine Weile bei ihm gewohnt.
Wir? Du meinst deine Mutter und du?
Ja. Und die Jungs.
War er der Freund von deiner Mutter?
Ja.
Verstehe.
Der Polizist hat eine Pause gemacht und sich das auf einen
eigenen Zettel geschrieben.
Ist er zu Fuß gekommen oder im Auto?
Zu Fuß. Falls er mit dem Auto da war, hab ich's nicht gesehen.
Verstehe. Hast du gewusst, dass er dort ist? An der Parkhausrampe?
Nein, das hab ich nicht gewusst. Ich hab ihn ja erst gesehen,
als er auf uns zukam und Jack die Pistole vorgehalten und geschossen hat.
Ist Jack Mr Green? Nennst du ihn Jack?
Ja.
Hat Mr Perry was gesagt, bevor er auf Mr Green
geschossen hat?
Ja. Er hat gesagt, du Dreckskerl, und dann hat er abgedrückt.
Alles gleichzeitig.
Was ist dann passiert?
Nichts. Jack hat sich an mir festgehalten. Wahrscheinlich
hatte er Angst, dass er umfällt. Ich wollte ihn stützen, aber er war zu schwer.
Dann hat er sich auf den Betonboden gesetzt und sich den Bauch gehalten.
Was hat Mr Perry gemacht, nachdem er auf Mr Green geschossen
hatte?
Nichts hat er gemacht. Nur dagestanden.
Hat er was gesagt?
Kann sein, dass er gesagt hat, es tut ihm Leid. Aber ich bin
mir nicht sicher. Dann ist er weggegangen.
Weißt du, wohin er gegangen ist?
Nein, keine Ahnung.
Was hast du dann gemacht?
Ich wollte einen Krankenwagen rufen, aber Jack hat gesagt,
nein, geh nicht weg.
Bist du bei ihm geblieben?
Ja. Gleich danach kam die Frau mit dem kleinen Jungen,
die hat dann einen Krankenwagen gerufen.
Hat Mr Green noch was gesagt?
Was zum Beispiel?
Naja. Irgendwas.
Nein.
Verstehe, sagt der Polizist. Die Polizistin klappt ihr Notizbuch
zu und dann sehen sie sich an, als wenn sie das Gleiche denken. Kurz darauf
gehen beide weg.
Später habe ich erfahren, dass man auf der anderen Seite
durch den Spiegel sehen kann und mich ein Beamter beobachtet hat, bis Miss
Jessop vom Kinderschutzprogramm kam.
Miss Jessop sagte mir, dass ich erst mal nicht mehr nach
Hause darf. Sie wollten mich ins Heim stecken, bis die Nachforschungen über
meine Familie abgeschlossen waren.
Da bin ich ausgerastet. Oh, ist ja toll. Und was ist mit Stoppard
und Tyler? Wer kümmert sich um die?
Sind das deine Brüder?
Ja. Das sind meine Brüder. Tyler ist in der Krippe.
Ich beuge mich vor und gucke auf ihre Uhr.
Stoppard wartet wahrscheinlich schon bei den Tiny Tots
und wundert sich, wo ich bleibe.
Sie schreibt den Namen von der Frau auf, die sich tagsüber
um Tyler kümmert und zu der Stoppard nach der Schule geht.
Was haben Sie denn vor? Müssen meine Brüder jetzt auch
ins Heim?
Das wäre eine Möglichkeit. Wir müssen prüfen, ob deine Mutter
in der Lage ist, sich um die beiden zu kümmern.
Das ist aber eine tolle Idee. Schicken Sie doch lieber Mom
ins Heim und lassen mich nach Hause gehen.
Das wäre viel einfacher.
Jetzt reicht's aber, sagt Miss Jessop.
Sie fuhr mich mit ihrem Auto zum Heim. Ich sah kurz hin.
Am Eingang hing ein großes Jesuskreuz.
Das ist ja für Katholiken.
Nein, ist es nicht. Es wird zwar von der katholischen Wohlfahrt
geleitet, aber hier ist jeder willkommen, auch wenn er einen anderen Glauben
hat.
Miss Jessop lieferte mich im Büro bei einer Schwester ab.
Schwester Mary Joseph. Sie kam hinter einem hölzernen Schalter hervor und gab
mir die Hand.
Hallo, Linda, sagt sie. Ich hab schon auf dich gewartet.
Ich dachte mir, wir könnten zusammen Mittag essen,
aber vielleicht willst du dich erst sauber machen.
Ja, sage ich, klar.
Auf den Gängen war kein Mensch.
Wo sind die anderen Kinder? frage ich.
In der Schule. Willst du duschen? Ich hab saubere Kleider
für dich. Sie sind zu groß, aber mir hat niemand gesagt, dass du so klein bist.
Fürs Erste sind sie jedenfalls gut genug.
Schwester Mary Joseph hat mir keine weiteren Fragen
gestellt. Wahrscheinlich hatte die Polizei angerufen und ihr alles Notwendige
erzählt, aber ich war trotzdem erleichtert, dass ich nichts erklären musste.
Sie half mir beim Ausziehen. Mein Hemd war vom Blut auf
der Haut festgeklebt, und als ich meine Jeans runterzog, sah ich, dass es bis
in die Unterwäsche gesickert war.
Erst als ich völlig nackt dastand, konnte ich loslassen und
fing an zu weinen.
Schwester Mary Joseph sagt, ich weiß, Linda. Ich weiß.
Sie gibt mir eine Bürste für die Fingernägel und ein Stück Seife, dann dreht
sie das Wasser auf. Ein
dampfend heißer Strahl. Genau, wie ich es mag.
Lass dir Zeit, sagt sie. Ich bin draußen vor der Tür, falls
du irgendwas brauchst.
Nach dem Duschen hatte ich keinen Hunger mehr. Ich war
müde und wollte mich nur irgendwo hinlegen.
Schwester Mary Joseph zeigte mir mein Zimmer. Hier wirst
du schlafen, sagt sie.
Es gab vier Betten, aber nur drei waren zurechtgemacht.
Auf meinem lag eine Armeedecke, es stand weit weg vom Fenster. Ich zog mich
wieder bis zur Unterwäsche aus und legte mich ins Bett.
Schwester Mary Joseph sagt, ruf einfach, wenn du irgendwas
willst.
Ja, alles klar.
Draußen war es noch hell. Ich konnte die Augen nicht schließen.
Ich lag im Bett und spürte die Laken. Sie waren rau und steif, aber sauber.
Durch das Fenster
konnte ich den Himmel sehen. Nach einer Weile kommt ein
Mädchen ins Zimmer und mustert mich.
Sie hat einen karierten Rock an und eins ihrer Ohren ist
aufgerissen.
Ich muss was aus meinem Schrank holen, sagt sie. Darf ich?
Ich öffne den Mund und will ja sagen, aber es kommt nichts
raus, also nicke ich nur.
Sie holt ein Buch aus einem grauen Schließschrank und geht
wieder. Hinterher hängt ihr Geruch noch für einen Augenblick in der Luft. Sie riecht
so sauber wie
die Bettwäsche.
Plötzlich war es dunkel und die Lichter gingen an. Im Zimmer
waren zwei Mädchen, die sich zum Schlafengehen fertig machten. Eine war das
Mädchen mit dem
Riss im Ohr. Die andere hatte helle Haut und war blond. Ich
liege ruhig da und betrachte das Mädchen mit dem Riss im Ohr. Sie zieht ihr Top
aus. Ihre Haut
schimmert am ganzen Körper grünlichgelb. Die Farbe steht
ihr gut.
Sie ist wach, sagt die andere.
Das Mädchen mit dem Ohr guckt mich an. Alles okay?
Ja. Alles okay.
Sie holt etwas aus ihrem Schrank, es ist in eine Papierserviette
gewickelt. Dann setzt sie sich auf mein Bett und packt es aus. Ein weiches
Brötchen, das oben glänzend braun ist wie eine Schuhspitze.
Ich dachte mir, du willst vielleicht was essen.
Danke, sage ich und nehme das Brötchen.
Wenn du Hunger hast, kann ich runter in die Küche gehen
und dir noch mehr holen. Schwester Mary Joseph hat gesagt, ich kann dir alles
holen, was du willst.
Nein, sage ich. Das reicht schon.
Als ich nichts mehr essen konnte, lag ich ruhig da und guckte
zu, wie sie ins Bett gingen. Sie redeten über ein Konzert, das die Schule für
Senioren aufführen wollte.
Ich überlegte, welche Art von Konzert sie wohl meinte, aber
ich war zu müde, um nachzufragen.
Das Mädchen mit dem Ohr sagt, morgen frage ich Miss
Thompson, ob ich im Jazzchor singen darf. Den finde ich interessanter. Sie
guckt mich an, während sie redet. Mustert mein Haar und meine Augen. Meinen Mund.
Sie gab mir das Gefühl, dass ich hübsch bin.
Dann machte ich die Augen zu und schlief wieder ein.
Am nächsten Morgen ging ich mit den Mädchen in der Cafeteria
frühstücken. Ich hab gewartet, was die anderen nehmen, dann hab ich mir das
Gleiche geholt.
Rührei und gemischtes, klein geschnittenes Obst. Schwester
Mary Joseph kam an unseren Tisch und sagt, du hast fast sechzehn Stunden
geschlafen, Linda.
Willst du jetzt mit den anderen Mädchen zur Schule gehen?
Nein. Ich hab meine eigene Schule, sagte ich zu ihr. Die Arthur Murray Middle School.
Bei ihrer Frage musste ich an Tyler und Stoppard denken
und fragte mich, wer sich wohl um sie kümmert.
Miss Jessop, die Frau vom Kinderschutzprogramm, hatte zwar
gesagt, dass sie die Sache in die Hand nehmen will, aber wenn sie es nun
vergessen hatte? Sie hatte nur was auf ein Stück Papier geschrieben und es in die
Aktentasche gesteckt. Ich hätte keine Lust, dass mein Leben davon abhängt.
Ich fragte, dürfte ich vielleicht mal telefonieren?
Mit wem?
Mit Mom, ich will fragen, ob alles in Ordnung ist. Schwester
Mary Joseph sagte, das ist im Augenblick nicht möglich. Warum gehst du nicht
mit Crystal und
Beverly in die Schule? Vielleicht gefällt es dir ja.
Da wurde ich sauer, aber das war nur, weil ich an Tyler und
Stoppard denken musste.
Nein, sagte ich. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich meine
eigene Schule habe. Ich will wissen, ob zu Hause alles in Ordnung ist. Würden
Sie mir bitte erklären, warum ich das Scheißtelefon nicht zwei Minuten lang benutzen
darf.
Dann sagte ich, Sie können mich nicht aufhalten.
Das ging zu weit. Viel zu weit. Schwester Mary Joseph packte
mich um die Taille und trug mich auf die andere Seite der Cafeteria. Dort
setzte sie sich mit mir auf dem Schoß auf einen Stuhl und hielt mich mit ihren Armen
und Beinen fest, damit ich mich nicht bewegen konnte.
Ich hab mich eine Weile gewehrt, aber sie war zu stark.
Was ist denn los? fragte eine andere Frau, auch eine Schwester,
das konnte man sehen, weil sie die Tracht anhatte. Schwester Mary Joseph trug
ganz normale
Sachen.
Linda ist in die Luft gegangen, sagte Schwester Mary Joseph.
Es sollte witzig klingen. Ich versuchte wieder von ihr wegzukommen, aber
irgendwie hatte ich plötzlich keine Kraft mehr.
Als ich mich beruhigt hatte, erklärte ich Schwester Mary
Joseph, dass ich mir wegen Tyler und Stoppard Sorgen mache, und sie versprach
mir, sich nach ihnen
zu erkundigen.
Aber ich versteh nicht, warum ich nicht anrufen kann, sagte
ich.
Fang nicht wieder an, Linda. Ich habe gesagt, dass ich mich
erkundige, wie es ihnen geht und damit hast du dich gefälligst zufrieden zu
geben.
Die anderen Mädchen mussten in ihre Schule, aber ich ging
mit Schwester Mary Joseph ins Büro und dort saß ich fast den ganzen Tag.
Mittags gab es Essen vom Tablett und wir aßen zusammen in ihrem Zimmer. Es gab
Makkaroni mit Käsesoße und zwei Kekse in Plastik verpackt. Als ich später im
Gang auf einer Bank saß, kam die Schwester in der Tracht und sagte mir, dass es
Tyler und Stoppard gut geht. Sie heißt Schwester Angelica. Sie sagte, die Jungs
würden fürs Erste bei Mom bleiben und Mom würde Hilfe kriegen, um mit der
Situation fertig zu werden.
Welche Art von Hilfe, will ich wissen. Ich kann mir nicht
vorstellen, wie sie ohne mich zurechtkommen soll.
Hör zu, junge Dame, sagt die Schwester. Du hast hier nicht
mehr zu bestimmen. Das ist eine verzwickte Situation und es wird ein Weilchen
dauern, bis alles geklärt ist. Immerhin sind zwei Männer tot, sagt sie und beißt
sich auf die Lippe.
Welche zwei Männer?
Mr Green und Mr Perry.
So habe ich es erfahren. Jack war noch im Krankenwagen
gestorben und Frank war ins Untergeschoss des Parkhauses gegangen und hat sich
dort erschossen.
Schwester Angelica musste sich vor Schwester Mary Joseph
rechtfertigen, weil sie sich so leichtsinnig verplappert hatte.
Ich dachte, sie weiß es schon, sagte sie.
Dann fing sie an zu weinen und sagte, Linda hat kein
einziges Mal nach einem der beiden gefragt und da hab ich angenommen, dass sie
Bescheid weiß.
Das war ihre Entschuldigung dafür, dass sie mir die Nachricht
so kalt auf dem Flur überbracht hat.
Ich war wie betäubt. Sie hatte ja Recht. Ich hatte keinen
gefragt, ob es Jack gut ging oder was mit Frank Perry war. Vielleicht hatte ich
es schon geahnt. Ich
glaube, als der Krankenwagen kam, habe ich schon geahnt,
dass Jack tot ist.
Kaum hatte Schwester Mary Joseph die andere Schwester aus
dem Zimmer geschickt, spielte sie die Angelegenheit runter.
Natürlich wäre es besser gewesen, wenn du es anders erfahren
hättest, aber im Großen und Ganzen fällt es nicht weiter ins Gewicht. Verstehst
du, Linda?
Später erzählte sie mir in allen Einzelheiten, was mit Frank
passiert war. Er war die Parkrampe runtergegangen, vorbei an seinem Wagen, bis
ans Ende. Als
es nicht mehr weiter ging, stellte er sich an die Wand, die
ihm den Weg versperrte und schoss sich in den Kopf.
Zwei Frauen in Kostümen tauchten auf und sagten, sie müssten
mit mir reden. Die zwei gefielen mir nicht.
Eine hat ihre Kostümjacke direkt über der Unterwäsche
getragen, ohne Bluse. Ich machte meine sage und erzählte ihnen fast das Gleiche
wie dem Polizisten, aber sie wollten alles ganz genau wissen. Sie fragten
Sachen, die gar nichts damit zu tun hatten, wer eigentlich schuld war. Jedes
Mal wenn ich eine Antwort gab, guckten sie sich an.
Mr Green war ein Freund der Familie?
Wie meinen Sie das?
War deine Familie mit seiner Familie befreundet?
Er und Mom haben im gleichen Büro gearbeitet.
Dann hast du ihn oft gesehen, nehme ich an.
Ja. Ziemlich oft.
Hast du ihn auch allein getroffen?
Manchmal.
Ist es zwischen dir und Mr Green zu Intimitäten gekommen?
Bei solchen Fragen tu ich so, als wenn ich nichts höre.
Linda? Hast du gehört, was ich dich gefragt habe?
Ja. Ich habs gehört.
Hattest du eine sexuelle Beziehung zu Mr Green?
Ich gucke zum Fenster hinaus auf die Vögel in den Bäumen.
Würdest du bitte die Frage beantworten?
Nach einer Weile sagt Schwester Mary Joseph zu den beiden,
sie sollen gehen. Vom Fenster aus sehe ich, wie sie mit ihren Hintern wackeln.
Sie steigen in ein großes Auto, und die eine greift zum Autotelefon, während die
andere losfährt. Ich drehe mich zu Schwester Mary Joseph um. Sie beobachtet
mich und klopft mit einem Bleistift auf ihre Zähne.
Das sind Nutten, sage ich. Sie sollten keine Nutten ins Heim
lassen.
Schwester Mary Joseph legt den Bleistift hin und spreizt
die Finger auf dem Besucherbuch.
Linda, sagt sie. Du wirst es jemandem erzählen müssen.
Das ist dir doch klar, oder? Solange sie nicht alles erfahren, was sie wissen
wollen, hast du keine Chance, hier rauszukommen.
Ich will aber nicht mit Nutten reden.
Genau das sage ich ihr.
Ich rede aber nicht mit Scheißnutten.
Am selben Nachmittag ist Franny Paschonelle aufgetaucht.
Meine Sozialarbeiterin.
Sie sagt, eigentlich wollte ich schon vor zwei Tagen kommen,
aber mein Auto hat gestreikt.
Schwester Mary Joseph zieht nur die Augenbrauen hoch.
Miss Paschonelle hat dafür gesorgt, dass ein paar Tests gemacht
wurden, um meine Persönlichkeit zu ergründen. Außerdem musste ich zum Arzt.
Danach haben wir zusammen einen Spaziergang gemacht.
Sie sagt, ich will ganz ehrlich zu dir sein, Linda. Wir müssen
entscheiden, ob wir dich in eine Pflegefamilie geben. Dich und deine Brüder. Du
wirst mir also erzählen müssen, was in deinem Leben vorgefallen ist. Mit
deiner Mutter. Mit Mr Green und Mr Perry.
Alles. Bist du dazu bereit?
Über ihrer Schulter trug sie eine riesige Tasche, die vor
Papieren fast platzte, und ihre Kleider rutschten ständig an ihr runter. Als
wenn sie die Sachen von ihrer großen Schwester anhätte. Sie roch nach Schweiß
und Zigaretten, aber sie war in Ordnung.
Ich fragte sie, ob sie einen Freund hat.
Nein!
Sie lachte und es klang, als würde ein glücklicher Hund
bellen.
Ich war mal verheiratet. Zwei Monate lang. Das war der
reinste Witz! Aber wir sind nicht hier, um über mich zu reden. Wirst du mir
alles erzählen oder nicht?
Wenn nicht, hab ich noch tausend andere Dinge zu erledigen.
Gut, sage ich. Ich rede mit Ihnen.
Ich lieferte ihr die Fakten, und sie schrieb sie in einem
vorläufigen Bericht auf. Das weiß ich, weil ich ihn aus ihrer Tasche holte, als
sie eines Nachmittags wieder Heim war und mich auf das vorbereiten wollte, was auf mich zukam.
Es wird eine Anhörung geben, sagte sie, und ich möchte,
dass du dem Richter gegenüber genauso offen bist wie bei mir.
Ich fischte den Bericht heraus, als sie auf die Toilette ging.
Danach hörte ich sie im Gang mit Schwester Angelica sprechen und wusste, dass
ich jede Menge Zeit
hatte, um den Bericht zu überfliegen.
Die Person ist weiblich, dreizehn Jahre alt. Ihre Mutter
ist weiß, ihr inzwischen verstorbener Vater war amerikanischer Ureinwohner.
Nach dem Stanford-Binet-Test liegt ihr Intelligenzquotient im unteren
Durchschnittsbereich ihrer Altersgruppe. Ihr gesundheitlicher Zustand scheint gut
zu sein (s. beiliegendes ärztliches Gutachten). Für ihr Alter ist sie klein,
aber kräftig gebaut. Sie gibt an, dass ihre erste Regel vor sieben Monaten
einsetzte. Sie hatschwache und unregelmäßige Monatsblutungen. Sexuell aktiv
... wurde wiederholt vom Arbeitgeber ihrer Mutter belästigt ... kein Hinweis
auf Mitwirkung derMutter... zweifellos sehr verwirrt...
Als sie wieder ins Zimmer kam, habe ich gar nicht erst versucht
zu vertuschen, was ich gerade machte. Sie riss mir den Bericht aus der Hand und
setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
Sie sagt, ich dachte, ich könnte dir vertrauen, Linda.
Mir war klar, das war nur so dahingeredet. In Wirklichkeit
hatte sie Angst, weil sie nicht aufgepasst und ich den Bericht in die Finger
gekriegt hatte.
Ich sagte, wenn Sie mir vertrauen würden, hätten Sie mich
den Bericht lesen lassen.
Das darf ich nicht. Ich kann keinen objektiven Bericht schreiben,
wenn ich weiß, dass du ihn zu Gesicht kriegst.
Ich soll Ihnen also vertrauen, aber Sie dürfen hinter meinem
Rücken schreiben, was Sie wollen.
Das sehe ich nicht so, Linda.
Sie stellen mich wie eine Idiotin hin.
Ach ja? Sie blättert die Seiten durch. Stimmt doch alles,
oder nicht? Du hast es mir doch selber erzählt.
Sie stellen mich wie eine Vollidiotin hin.
Miss Paschonelle klappt die Mappe zu und legt die Hände
drauf.
Es war eine heikle Situation. Wir starrten uns böse an.
Ich will meinen eigenen vorläufigen Bericht schreiben, sagte
ich.
Sie betrachtete mich eine ganze Weile.
Ich glaube, sagte sie dann, das ist eine sehr gute Idee.
Werden die Frauen ihn lesen?
Ja, sagt sie. Dafür werde ich sorgen.
Lesezitat nach Brock Cole - Was wisst ihr denn schon / S. 5-21