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  Lesealter: 13 Jahre  




Was wisst ihr denn schon
Brock Cole - Was wisst ihr denn schon

wei Männer sind tot und Linda, dreizehn Jahre alt, wird zur Polizei gebracht, denn sie ist eine wichtige Zeugin. Es ist überhaupt nicht klar, inwieweit das Mädchen selbst in die Tat verwickelt ist. Zunächst zählen für die Polizisten nur die Fakten - und das sind die Toten, mit denen sie sich zu beschäftigen haben.

Wenn es nur um die Tatsachen ginge, das wäre einfach, denn die kennt Linda: "Wir [das sind Linda und Jack] standen auf der Parkhausrampe und haben uns unterhalten. Frank ist aufgetaucht und hat auf ihn geschossen. Dann ist Frank gegangen und hat sich selbst erschossen. Das sind die Fakten."

Im Heim, dort wird sie untergebracht, schreibt Linda ihre Geschichte auf. Wie es dazu kam, dass sie mit ihrer Mutter und den beiden kleinen Brüdern bei Frank wohnten und alles nach einem viel versprechenden Neuanfang aussah. Doch wieder einmal setzt Lindas Mutter ihr Leben in den Sand. Sie ist völlig unfähig sich um ihre Kinder zu kümmern und bürdet Linda die Verantwortung für die Jungs auf. Während Linda unter dieser viel zu großen Last fast zusammenbricht, ertränkt ihre Mutter die Sorgen in riesigen Mengen Alkohol.

Die Jugendbücher von Brock Cole, geboren 1938, zeichnen sich besonders durch ihre Eindringlichkeit aus. Mit einer schnörkellosen und direkten Sprache erzählen seine Protagonisten unglaubliche Geschichten. In "Was wisst ihr denn schon" ist das Mädchen Linda viel reifer als die Erwachsenen ihrer Umgebung. Die Mutter hat das Leben überhaupt nicht im Griff und die Männer, die sie sich immer wieder als Notanker aussucht, erweisen sich ebenso wenig als Stütze. Linda wird mit der ganzen Verantwortung alleine gelassen. Selbst die Finanzen der Familie obliegen ihr. Wobei es viele Wochen überhaupt kein Einkommen gibt. Linda hat nicht ganz Unrecht, wenn sie den Polizisten den Rat gibt: "Schicken Sie doch lieber Mom ins Heim und lassen mich nach Hause gehen. Das wäre viel einfacher."

In Amerika wurde Brock Cole für seine Bücher vielfach preisgekrönt. "Was wisst ihr denn schon" erhielt neben anderen Preisen die Auszeichnung "Best Children's Book of 1997". In Deutschland ist dies sein zweiter Roman. Wer Brock Cole mag, sollte sich sein Debüt "Celine oder welche Farbe hat das Leben" nicht entgehen lassen.

Sehr schön gelungen ist auch das Buchcover von Wolf Erlbuch, das wunderbar die Eigenwilligkeit und Kraft dieses ausgezeichneten Jugendromans einfängt.
manuela haselberger
    Lesealter ab 13 Jahren

Brock Cole -
Was wisst ihr denn schon
Originaltitel:
»The Facts speak for Themselves«, © 1997
Übersetzt von Brigitte Jakobeit
© 2002, Hamburg, Carlsen Verlag, 208 S., 13.50 € (HC)

Brock Cole, geboren 1938 in Michigan/USA, hat als Philosophie- und Englischdozent an der Universität von Wisconsin gearbeitet, bis er mit dem Schreiben und Illustrieren von Kinder- und Jugendbüchern begann. Für beides hat er in den USA schon zahlreiche Preise erhalten. Sein Buch "Was wisst ihr denn schon?" bekam u.a. die Auszeichnung "Best Children's Book of 1997" (Publishers Weekly). Brock Cole lebt heute in Buffalo, New York.






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Kapitel 1:

Komm doch rein, sagt die Polizistin, und da bin ich reingegangen. Es war ein kleines Zimmer mit einem Tisch und ein paar Stühlen. Das war alles. An Stelle eines Fensters hing ein großer Spiegel an der Wand, aber ich guckte nicht rein, weil ich mich nicht sehen wollte.

Ich hab mich hingesetzt und die Hände zusammengelegt. Unter meinen Fingernägeln war immer noch Blut, darum hab ich sie schnell unterm Tisch versteckt.

Die Frau sagt, willst du was trinken? Eine Cola oder so?

Nein, ich will nichts.

Wir versuchen gerade, deine Mutter ausfindig zu machen. Wir warten hier, bis sie kommt.

Ach so, sage ich.

Ist das in Ordnung?

Ja, in Ordnung.

                         

Dann ist der andere Polizist reingekommen. Der mit dem weißen Haar und dem Bauch.

Er sagt, na, wie geht's, Linda?

Ganz gut.

Er legt ein paar Zettel vor sich hin, kann aber nicht finden, was er sucht.

Wie alt bist du? will er wissen.

Dreizehn.

Dreizehn?

Ja, sage ich.

Wir konnten deine Mutter nicht ausfindig machen, Linda. Sie arbeitet doch bei Persic Realty, dem Immobilienbüro. Ist das richtig?

Ja.

Wir haben dort angerufen, aber die Frau am Telefon sagt, deine Mutter ist heute nicht gekommen, und auf ihren Piepser reagiert sie nicht. Wir haben einen Streifenwagen zu eurer Wohnung geschickt, aber da ist auch keiner. Hat sie dir vielleicht gesagt, wo sie heute hingeht? Kannst du dich erinnern? Weißt du, wo sie ist?

Nein, keine Ahnung. Ich dachte, sie ist bei Persic.

Wann hast du deine Mutter das letzte Mal gesehen, Linda?

Heute früh.

Hat sie denn gesagt, was sie vorhat?

Nein. Sie hat noch geschlafen, als ich wegging.

 

Ich hatte Tylers Windel gewechselt, ihn ins Zimmer getragen und zu ihr ins Bett gelegt. Dann hab ich gesagt, ich geh jetzt. Heute musst du Tyler selber in die

Krippe bringen. Ich bring Stoppard noch zum Schulbus. Hast du mich verstanden?

 

Der Polizist sagt zu der Frau, sie soll ihr Notizbuch rausholen.

Wärst du so nett und würdest mir noch einmal erzählen, was auf der Parkhausrampe passiert ist, Linda, sagt er.

Das hab ich schon dem anderen Polizisten erzählt.

Ich weiß, aber ich möchte es von dir selber hören.

 

Mir war klar, dass er das sagt. Ich hatte schon damit gerechnet, dass ich immer wieder erzählen muss, was passiert ist.

 

Ich fing an. Wir haben auf der Rampe gestanden und geredet.

Schon unterbricht er mich. Das heißt du und Mr Green?

Ja.

Über was hast du mit Mr Green geredet?

Weiß ich nicht mehr genau. Über die Aussicht, die man von der Rampe aus hat. Das war alles. Er überlegte, ob die Welt anders aussehen würde, wenn sie flach wäre

und nicht rund. Er hat gesagt, ein Mensch, der sich von uns entfernt, würde verschwinden. Wegen der Krümmung. Erst die Füße und zum Schluss der Kopf. Wenn

die Erde aber flach wäre und es wäre nichts im Weg, würde er nur immer kleiner werden.

Was ist dann passiert?

Dann ist Frank gekommen und hat auf ihn geschossen.

Frank ist Mr Perry?

Ja. Frank Perry.

Kanntest du Mr Perry?

Ja. Wir haben eine Weile bei ihm gewohnt.

Wir? Du meinst deine Mutter und du?

Ja. Und die Jungs.

War er der Freund von deiner Mutter?

Ja.

Verstehe.

Der Polizist hat eine Pause gemacht und sich das auf einen eigenen Zettel geschrieben.

Ist er zu Fuß gekommen oder im Auto?

Zu Fuß. Falls er mit dem Auto da war, hab ich's nicht gesehen.

Verstehe. Hast du gewusst, dass er dort ist? An der Parkhausrampe?

Nein, das hab ich nicht gewusst. Ich hab ihn ja erst gesehen, als er auf uns zukam und Jack die Pistole vorgehalten und geschossen hat.

Ist Jack Mr Green? Nennst du ihn Jack?

Ja.

 

Hat Mr Perry was gesagt, bevor er auf Mr Green

geschossen hat?

Ja. Er hat gesagt, du Dreckskerl, und dann hat er abgedrückt. Alles gleichzeitig.

Was ist dann passiert?

Nichts. Jack hat sich an mir festgehalten. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass er umfällt. Ich wollte ihn stützen, aber er war zu schwer. Dann hat er sich auf den Betonboden gesetzt und sich den Bauch gehalten.

Was hat Mr Perry gemacht, nachdem er auf Mr Green geschossen hatte?

Nichts hat er gemacht. Nur dagestanden.

Hat er was gesagt?

Kann sein, dass er gesagt hat, es tut ihm Leid. Aber ich bin mir nicht sicher. Dann ist er weggegangen.

Weißt du, wohin er gegangen ist?

Nein, keine Ahnung.

Was hast du dann gemacht?

Ich wollte einen Krankenwagen rufen, aber Jack hat gesagt, nein, geh nicht weg.

Bist du bei ihm geblieben?

Ja. Gleich danach kam die Frau mit dem kleinen Jungen, die hat dann einen  Krankenwagen gerufen.

Hat Mr Green noch was gesagt?

Was zum Beispiel?

Naja. Irgendwas.

Nein.

 

Verstehe, sagt der Polizist. Die Polizistin klappt ihr Notizbuch zu und dann sehen sie sich an, als wenn sie das Gleiche denken. Kurz darauf gehen beide weg.

Später habe ich erfahren, dass man auf der anderen Seite durch den Spiegel sehen kann und mich ein Beamter beobachtet hat, bis Miss Jessop vom Kinderschutzprogramm kam.

 

Miss Jessop sagte mir, dass ich erst mal nicht mehr nach Hause darf. Sie wollten mich ins Heim stecken, bis die Nachforschungen über meine Familie abgeschlossen waren.

Da bin ich ausgerastet. Oh, ist ja toll. Und was ist mit Stoppard und Tyler? Wer kümmert sich um die?

Sind das deine Brüder?

Ja. Das sind meine Brüder. Tyler ist in der Krippe.

Ich beuge mich vor und gucke auf ihre Uhr.

Stoppard wartet wahrscheinlich schon bei den Tiny Tots und wundert sich, wo ich bleibe.

Sie schreibt den Namen von der Frau auf, die sich tagsüber um Tyler kümmert und zu der Stoppard nach der Schule geht.

Was haben Sie denn vor? Müssen meine Brüder jetzt auch ins Heim?

Das wäre eine Möglichkeit. Wir müssen prüfen, ob deine Mutter in der Lage ist, sich um die beiden zu kümmern.

 

Das ist aber eine tolle Idee. Schicken Sie doch lieber Mom ins Heim und lassen mich nach Hause gehen.

Das wäre viel einfacher.

Jetzt reicht's aber, sagt Miss Jessop.

 

Sie fuhr mich mit ihrem Auto zum Heim. Ich sah kurz hin. Am Eingang hing ein großes Jesuskreuz.

Das ist ja für Katholiken.

Nein, ist es nicht. Es wird zwar von der katholischen Wohlfahrt geleitet, aber hier ist jeder willkommen, auch wenn er einen anderen Glauben hat.

Miss Jessop lieferte mich im Büro bei einer Schwester ab. Schwester Mary Joseph. Sie kam hinter einem hölzernen Schalter hervor und gab mir die Hand.

Hallo, Linda, sagt sie. Ich hab schon auf dich gewartet.

Ich dachte mir, wir könnten zusammen Mittag essen,

aber vielleicht willst du dich erst sauber machen.

Ja, sage ich, klar.

Auf den Gängen war kein Mensch.

Wo sind die anderen Kinder? frage ich.

In der Schule. Willst du duschen? Ich hab saubere Kleider für dich. Sie sind zu groß, aber mir hat niemand gesagt, dass du so klein bist. Fürs Erste sind sie jedenfalls gut genug.

Schwester Mary Joseph hat mir keine weiteren Fragen gestellt. Wahrscheinlich hatte die Polizei angerufen und ihr alles Notwendige erzählt, aber ich war trotzdem erleichtert, dass ich nichts erklären musste.

Sie half mir beim Ausziehen. Mein Hemd war vom Blut auf der Haut festgeklebt, und als ich meine Jeans runterzog, sah ich, dass es bis in die Unterwäsche gesickert war.

Erst als ich völlig nackt dastand, konnte ich loslassen und fing an zu weinen.

Schwester Mary Joseph sagt, ich weiß, Linda. Ich weiß. Sie gibt mir eine Bürste für die Fingernägel und ein Stück Seife, dann dreht sie das Wasser auf. Ein

dampfend heißer Strahl. Genau, wie ich es mag.

Lass dir Zeit, sagt sie. Ich bin draußen vor der Tür, falls du irgendwas brauchst.

 

Nach dem Duschen hatte ich keinen Hunger mehr. Ich war müde und wollte mich nur irgendwo hinlegen.

Schwester Mary Joseph zeigte mir mein Zimmer. Hier wirst du schlafen, sagt sie.

Es gab vier Betten, aber nur drei waren zurechtgemacht. Auf meinem lag eine Armeedecke, es stand weit weg vom Fenster. Ich zog mich wieder bis zur Unterwäsche aus und legte mich ins Bett.

Schwester Mary Joseph sagt, ruf einfach, wenn du irgendwas willst.

Ja, alles klar.

Draußen war es noch hell. Ich konnte die Augen nicht schließen. Ich lag im Bett und spürte die Laken. Sie waren rau und steif, aber sauber. Durch das Fenster

konnte ich den Himmel sehen. Nach einer Weile kommt ein Mädchen ins Zimmer und mustert mich.

Sie hat einen karierten Rock an und eins ihrer Ohren ist aufgerissen.

Ich muss was aus meinem Schrank holen, sagt sie. Darf ich?

Ich öffne den Mund und will ja sagen, aber es kommt nichts raus, also nicke ich nur.

Sie holt ein Buch aus einem grauen Schließschrank und geht wieder. Hinterher hängt ihr Geruch noch für einen Augenblick in der Luft. Sie riecht so sauber wie

die Bettwäsche.

 

Plötzlich war es dunkel und die Lichter gingen an. Im Zimmer waren zwei Mädchen, die sich zum Schlafengehen fertig machten. Eine war das Mädchen mit dem

Riss im Ohr. Die andere hatte helle Haut und war blond. Ich liege ruhig da und betrachte das Mädchen mit dem Riss im Ohr. Sie zieht ihr Top aus. Ihre Haut

schimmert am ganzen Körper grünlichgelb. Die Farbe steht ihr gut.

Sie ist wach, sagt die andere.

Das Mädchen mit dem Ohr guckt mich an. Alles okay?

Ja. Alles okay.

Sie holt etwas aus ihrem Schrank, es ist in eine Papierserviette gewickelt. Dann setzt sie sich auf mein Bett und packt es aus. Ein weiches Brötchen, das oben glänzend braun ist wie eine Schuhspitze.

Ich dachte mir, du willst vielleicht was essen.

Danke, sage ich und nehme das Brötchen.

Wenn du Hunger hast, kann ich runter in die Küche gehen und dir noch mehr holen. Schwester Mary Joseph hat gesagt, ich kann dir alles holen, was du willst.

Nein, sage ich. Das reicht schon.

Als ich nichts mehr essen konnte, lag ich ruhig da und guckte zu, wie sie ins Bett gingen. Sie redeten über ein Konzert, das die Schule für Senioren aufführen wollte.

Ich überlegte, welche Art von Konzert sie wohl meinte, aber ich war zu müde, um nachzufragen.

Das Mädchen mit dem Ohr sagt, morgen frage ich Miss Thompson, ob ich im Jazzchor singen darf. Den finde ich interessanter. Sie guckt mich an, während sie redet. Mustert mein Haar und meine Augen. Meinen Mund. Sie gab mir das Gefühl, dass ich hübsch bin.

Dann machte ich die Augen zu und schlief wieder ein.

 

Am nächsten Morgen ging ich mit den Mädchen in der Cafeteria frühstücken. Ich hab gewartet, was die anderen nehmen, dann hab ich mir das Gleiche geholt.

Rührei und gemischtes, klein geschnittenes Obst. Schwester Mary Joseph kam an unseren Tisch und sagt, du hast fast sechzehn Stunden geschlafen, Linda.

 

Willst du jetzt mit den anderen Mädchen zur Schule gehen?

Nein. Ich hab meine eigene Schule, sagte ich zu ihr. Die Arthur Murray Middle School.

Bei ihrer Frage musste ich an Tyler und Stoppard denken und fragte mich, wer sich wohl um sie kümmert.

Miss Jessop, die Frau vom Kinderschutzprogramm, hatte zwar gesagt, dass sie die Sache in die Hand nehmen will, aber wenn sie es nun vergessen hatte? Sie hatte nur was auf ein Stück Papier geschrieben und es in die Aktentasche gesteckt. Ich hätte keine Lust, dass mein Leben davon  abhängt.

Ich fragte, dürfte ich vielleicht mal telefonieren?

Mit wem?

Mit Mom, ich will fragen, ob alles in Ordnung ist. Schwester Mary Joseph sagte, das ist im Augenblick nicht möglich. Warum gehst du nicht mit Crystal und

Beverly in die Schule? Vielleicht gefällt es dir ja.

Da wurde ich sauer, aber das war nur, weil ich an Tyler und Stoppard denken musste.

Nein, sagte ich. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich meine eigene Schule habe. Ich will wissen, ob zu Hause alles in Ordnung ist. Würden Sie mir bitte erklären, warum ich das Scheißtelefon nicht zwei Minuten lang benutzen darf.

Dann sagte ich, Sie können mich nicht aufhalten.

Das ging zu weit. Viel zu weit. Schwester Mary Joseph packte mich um die Taille und trug mich auf die andere Seite der Cafeteria. Dort setzte sie sich mit mir auf dem Schoß auf einen Stuhl und hielt mich mit ihren Armen und Beinen fest, damit ich mich nicht bewegen konnte.

 

Ich hab mich eine Weile gewehrt, aber sie war zu stark.

Was ist denn los? fragte eine andere Frau, auch eine Schwester, das konnte man sehen, weil sie die Tracht anhatte. Schwester Mary Joseph trug ganz normale

Sachen.

Linda ist in die Luft gegangen, sagte Schwester Mary Joseph. Es sollte witzig klingen. Ich versuchte wieder von ihr wegzukommen, aber irgendwie hatte ich plötzlich keine Kraft mehr.

Als ich mich beruhigt hatte, erklärte ich Schwester Mary Joseph, dass ich mir wegen Tyler und Stoppard Sorgen mache, und sie versprach mir, sich nach ihnen

zu erkundigen.

Aber ich versteh nicht, warum ich nicht anrufen kann, sagte ich.

Fang nicht wieder an, Linda. Ich habe gesagt, dass ich mich erkundige, wie es ihnen geht und damit hast du dich gefälligst zufrieden zu geben.

 

Die anderen Mädchen mussten in ihre Schule, aber ich ging mit Schwester Mary Joseph ins Büro und dort saß ich fast den ganzen Tag. Mittags gab es Essen vom Tablett und wir aßen zusammen in ihrem Zimmer. Es gab Makkaroni mit Käsesoße und zwei Kekse in Plastik verpackt. Als ich später im Gang auf einer Bank saß, kam die Schwester in der Tracht und sagte mir, dass es Tyler und Stoppard gut geht. Sie heißt Schwester Angelica. Sie sagte, die Jungs würden fürs Erste bei Mom bleiben und Mom würde Hilfe kriegen, um mit der Situation fertig zu werden.

Welche Art von Hilfe, will ich wissen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie ohne mich zurechtkommen soll.

Hör zu, junge Dame, sagt die Schwester. Du hast hier nicht mehr zu bestimmen. Das ist eine verzwickte Situation und es wird ein Weilchen dauern, bis alles geklärt ist. Immerhin sind zwei Männer tot, sagt sie und beißt sich auf die Lippe.

Welche zwei Männer?

Mr Green und Mr Perry.

So habe ich es erfahren. Jack war noch im Krankenwagen gestorben und Frank war ins Untergeschoss des Parkhauses gegangen und hat sich dort erschossen.

Schwester Angelica musste sich vor Schwester Mary Joseph rechtfertigen, weil sie sich so leichtsinnig verplappert hatte.

Ich dachte, sie weiß es schon, sagte sie.

Dann fing sie an zu weinen und sagte, Linda hat kein einziges Mal nach einem der beiden gefragt und da hab ich angenommen, dass sie Bescheid weiß.

Das war ihre Entschuldigung dafür, dass sie mir die Nachricht so kalt auf dem Flur überbracht hat.

Ich war wie betäubt. Sie hatte ja Recht. Ich hatte keinen gefragt, ob es Jack gut ging oder was mit Frank Perry war. Vielleicht hatte ich es schon geahnt. Ich

glaube, als der Krankenwagen kam, habe ich schon geahnt, dass Jack tot ist.

Kaum hatte Schwester Mary Joseph die andere Schwester aus dem Zimmer geschickt, spielte sie die Angelegenheit runter.

Natürlich wäre es besser gewesen, wenn du es anders erfahren hättest, aber im Großen und Ganzen fällt es nicht weiter ins Gewicht. Verstehst du, Linda?

Später erzählte sie mir in allen Einzelheiten, was mit Frank passiert war. Er war die Parkrampe runtergegangen, vorbei an seinem Wagen, bis ans Ende. Als

es nicht mehr weiter ging, stellte er sich an die Wand, die ihm den Weg versperrte und schoss sich in den Kopf.

 

Zwei Frauen in Kostümen tauchten auf und sagten, sie müssten mit mir reden. Die zwei gefielen mir nicht.

Eine hat ihre Kostümjacke direkt über der Unterwäsche getragen, ohne Bluse. Ich machte meine sage und erzählte ihnen fast das Gleiche wie dem Polizisten, aber sie wollten alles ganz genau wissen. Sie fragten Sachen, die gar nichts damit zu tun hatten, wer eigentlich schuld war. Jedes Mal wenn ich eine Antwort gab, guckten sie sich an.

Mr Green war ein Freund der Familie?

Wie meinen Sie das?

War deine Familie mit seiner Familie befreundet?

Er und Mom haben im gleichen Büro gearbeitet.

Dann hast du ihn oft gesehen, nehme ich an.

Ja. Ziemlich oft.

Hast du ihn auch allein getroffen?

Manchmal.

Ist es zwischen dir und Mr Green zu Intimitäten gekommen?

 

Bei solchen Fragen tu ich so, als wenn ich nichts höre.

 

Linda? Hast du gehört, was ich dich gefragt habe?

Ja. Ich habs gehört.

Hattest du eine sexuelle Beziehung zu Mr Green?

Ich gucke zum Fenster hinaus auf die Vögel in den Bäumen.

Würdest du bitte die Frage beantworten?

 

Nach einer Weile sagt Schwester Mary Joseph zu den beiden, sie sollen gehen. Vom Fenster aus sehe ich, wie sie mit ihren Hintern wackeln. Sie steigen in ein großes Auto, und die eine greift zum Autotelefon, während die andere losfährt. Ich drehe mich zu Schwester Mary Joseph um. Sie beobachtet mich und klopft mit einem Bleistift auf ihre Zähne.

Das sind Nutten, sage ich. Sie sollten keine Nutten ins Heim lassen.

Schwester Mary Joseph legt den Bleistift hin und spreizt die Finger auf dem Besucherbuch.

Linda, sagt sie. Du wirst es jemandem erzählen müssen. Das ist dir doch klar, oder? Solange sie nicht alles erfahren, was sie wissen wollen, hast du keine Chance, hier rauszukommen.

Ich will aber nicht mit Nutten reden.

Genau das sage ich ihr.

Ich rede aber nicht mit Scheißnutten.

 

Am selben Nachmittag ist Franny Paschonelle aufgetaucht. Meine Sozialarbeiterin.

Sie sagt, eigentlich wollte ich schon vor zwei Tagen kommen, aber mein Auto hat gestreikt.

Schwester Mary Joseph zieht nur die Augenbrauen hoch.

 

Miss Paschonelle hat dafür gesorgt, dass ein paar Tests gemacht wurden, um meine Persönlichkeit zu ergründen. Außerdem musste ich zum Arzt.

 

Danach haben wir zusammen einen Spaziergang gemacht.

Sie sagt, ich will ganz ehrlich zu dir sein, Linda. Wir müssen entscheiden, ob wir dich in eine Pflegefamilie geben. Dich und deine Brüder. Du wirst mir also erzählen müssen, was in deinem Leben vorgefallen ist. Mit deiner Mutter. Mit Mr Green und Mr Perry.

Alles. Bist du dazu bereit?

Über ihrer Schulter trug sie eine riesige Tasche, die vor Papieren fast platzte, und ihre Kleider rutschten ständig an ihr runter. Als wenn sie die Sachen von ihrer großen Schwester anhätte. Sie roch nach Schweiß und Zigaretten, aber sie war in Ordnung.

Ich fragte sie, ob sie einen Freund hat.

Nein!

Sie lachte und es klang, als würde ein glücklicher Hund bellen.

Ich war mal verheiratet. Zwei Monate lang. Das war der reinste Witz! Aber wir sind nicht hier, um über mich zu reden. Wirst du mir alles erzählen oder nicht?

Wenn nicht, hab ich noch tausend andere Dinge zu erledigen.

Gut, sage ich. Ich rede mit Ihnen.

 

Ich lieferte ihr die Fakten, und sie schrieb sie in einem vorläufigen Bericht auf. Das weiß ich, weil ich ihn aus ihrer Tasche holte, als sie eines Nachmittags wieder Heim war und mich auf das vorbereiten wollte, was auf mich zukam.

Es wird eine Anhörung geben, sagte sie, und ich möchte, dass du dem Richter gegenüber genauso offen bist wie bei mir.

Ich fischte den Bericht heraus, als sie auf die Toilette ging. Danach hörte ich sie im Gang mit Schwester Angelica sprechen und wusste, dass ich jede Menge Zeit

hatte, um den Bericht zu überfliegen.

 

Die Person ist weiblich, dreizehn Jahre alt. Ihre Mutter ist weiß, ihr inzwischen verstorbener Vater war amerikanischer Ureinwohner. Nach dem Stanford-Binet-Test liegt ihr Intelligenzquotient im unteren Durchschnittsbereich ihrer Altersgruppe. Ihr gesundheitlicher Zustand scheint gut zu sein (s. beiliegendes ärztliches Gutachten). Für ihr Alter ist sie klein, aber kräftig gebaut. Sie gibt an, dass ihre erste Regel vor sieben Monaten einsetzte. Sie hatschwache und unregelmäßige Monatsblutungen. Sexuell aktiv ... wurde wiederholt vom Arbeitgeber ihrer Mutter belästigt ... kein Hinweis auf Mitwirkung derMutter... zweifellos sehr verwirrt...

 

Als sie wieder ins Zimmer kam, habe ich gar nicht erst versucht zu vertuschen, was ich gerade machte. Sie riss mir den Bericht aus der Hand und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.

 

Sie sagt, ich dachte, ich könnte dir vertrauen, Linda.

Mir war klar, das war nur so dahingeredet. In Wirklichkeit hatte sie Angst, weil sie nicht aufgepasst und ich den Bericht in die Finger gekriegt hatte.

Ich sagte, wenn Sie mir vertrauen würden, hätten Sie mich den Bericht lesen lassen.

Das darf ich nicht. Ich kann keinen objektiven Bericht schreiben, wenn ich weiß, dass du ihn zu Gesicht kriegst.

Ich soll Ihnen also vertrauen, aber Sie dürfen hinter meinem Rücken schreiben, was Sie wollen.

Das sehe ich nicht so, Linda.

Sie stellen mich wie eine Idiotin hin.

Ach ja? Sie blättert die Seiten durch. Stimmt doch alles, oder nicht? Du hast es mir doch selber erzählt.

Sie stellen mich wie eine Vollidiotin hin.

Miss Paschonelle klappt die Mappe zu und legt die Hände drauf.

Es war eine heikle Situation. Wir starrten uns böse an.

Ich will meinen eigenen vorläufigen Bericht schreiben, sagte ich.

Sie betrachtete mich eine ganze Weile.

Ich glaube, sagte sie dann, das ist eine sehr gute Idee.

Werden die Frauen ihn lesen?

Ja, sagt sie. Dafür werde ich sorgen.


Lesezitat nach Brock Cole - Was wisst ihr denn schon / S. 5-21










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Titel von
Brock Cole
 Taschenbuch



Celine oder Welche Farbe hat das Leben.

( Ab 14 J.).
© 2000



Sündenböcke.

© 1996

 Hardcover



Celine oder Welche Farbe hat das Leben.

© 1996


© 7.12.2002
by Manuela Haselberger

http://www.bookinist.de