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Als du starbst, Maus, fiel niemandem von uns etwas ein, das schlimmer war. Man kann den Tod nun mal nicht relativieren. Main sagte nicht:"Es ist schlimm, daß Marius gestorben ist, aber zum Glück habe ich noch einen anderen Sohn, also bin ich weiterhin Mutter."

Ein Mann, der seine Frau verliert, wird Witwer genannt, eine Frau, die ihren Mann verliert, Witwe, und Kinder ohne Eltern sind Waisen. Doch wie heißt ein Bruder, der keinen Bruder (oder keine Schwester) mehr hat? Dafür gibt es keinen Namen. Ich weiß jedenfalls nicht, in welcher Sprache ich nach so einem Wort suchen sollte. Kannst du noch jemandes Bruder sein, wenn dieser Jemand nicht mehr lebt?

Eigentlich macht es nichts mehr aus. Eine Mutter muß muttern, ein Vater muß vatern, und ein Bruder muß brudern. Und wenn es nichts mehr zu brudern gibt, kann ich genausogut aufhören, ein Bruder zu sein. So toll war ich als Bruder ohnehin nicht. Ich war als Bruder nicht viel wert: Ich ließ dich oft allein, obwohl ich wußte, daß du das schlecht aushältst. Trotzdem würde ich gern eine Antwort auf die Frage finden, ob ich jetzt, wo es dich nicht mehr gibt, immer noch ein Bruder bin. Was meinst du? Oder ist dir alles egal?

 

ABEND

Lieber Maus,

ich habe meinen Stift und dein Tagebuch genommen, und jetzt sitze ich in deinem Zimmer und schreibe, denn mir wurde plötzlich klar, daß das heute abend zum letzten Mal geht.

Ganz vorsichtig habe ich mich an deinen Schreibtisch gesetzt, ein bißchen ängstlich, denn vielleicht würden sich alle Gegenstände (dein Bett, dein Schreibtisch, dein Stuhl, die Bücher auf dem Regalbrett, die Fotos und die Landkarten an den Wänden) wütend losreißen, um über mich herzufallen:

"Du bist auf verbotenem Terrain! Geh weg! Verschwinde in dein eigenes Zimmer!" Das wäre okay, wenn man bedenkt, daß ich dich fast immer weggeschickt habe, wenn du wieder mal unaufgefordert in mein Zimmer gekommen bist. Ein solcher Vorfall geht mir in der letzten Zeit immer wieder durch den Kopf.

Es war 1970, diese Jahreszahl steht auf der Zeichnung, an der ich gearbeitet habe, als du in mein Zimmer kamst. Du weißt schon, das Bild von einem Baum, von dem du später gesagt hast, du hättest es gerne zum Geburtstag. Ich wollte es dir aber auf keinen Fall schenken, ich fand es nämlich

selbst ganz toll. Ich sagte: "Du bekommst es nicht, aber wenn ich tot bin, darfst du es erben." Später habe ich es dir doch gegeben.

Damals arbeitete ich noch daran, deshalb durftest du es natürlich nicht sehen; ich zeige nie ein Bild, das noch nicht fertig ist. Ich legte meine Arme schützend über das Papier und schnauzte dich sofort an, damit du merktest, daß du nicht willkommen warst.

"Was willst du?"

"Ich komme einfach auf Besuch", hast du gesagt. ,,Ganz normal."

"Einfach so? Ich bin beschäftigt." "Womit?"

"Ich zeichne."

,Ja, ja, du zeichnest bestimmt mal wieder was ab", sagtest du, um mich zu ärgern, und setztest dich auf mein Bett.

Das haßte ich, weil mein Bett nicht einfach für jedermanns Hintern bestimmt ist, also sagte ich:

"Kannst du nicht jemand anders ärgern?"

"Ich tue doch nichts, oder? Ich sitze einfach nur da."

"Und das halte ich nicht aus, denn du guckst mir auf die Finger. Warum machst du nicht selbst irgend etwas?"

,,Was denn?"

,,Lies ein Buch oder spiel mit dir selbst."
Lesezitat nach
Ted van Lieshout - Bruder, S. 30-32


Bruder
Ted van Lieshout - Bruder

In Deutschland erhielt der Niederländer Ted van Lieshout für sein Jugendbuch "Bruder" die höchste Auszeichnung in seiner Sparte, den "Deutschen Jugendliteraturpreis". Und in der Tat hat die Jury mit dieser Wahl eine äußerst glückliche Hand bewiesen, denn "Bruder" gehört uneingeschränkt zu den schönsten Jugendbüchern.

Im September 1972 stirbt Marius. Er wurde nur vierzehn Jahre alt. Nach sechs Monaten räumt die Mutter sein Zimmer endlich leer und beschließt, seine Sachen zu verbrennen. Es ist ihre Art der Trauer um den verlorenen Sohn.

Luuk, der Bruder findet dabei das Tagebuch von Marius. Vor einigen Jahren hat er es ihm zum Geburtstag geschenkt und er beginnt zu lesen. Noch einmal kommt es zu einer Annäherung an den Verstorbenen. Luuk beginnt Mariusī Aufzeichnungen zu kommentieren: "Du bist ganz allein gestorben. Ich hoffe, du hast es nicht gemerkt, dass du stirbst. Ich hoffe, dass du geschlafen hast. Oder dass du zufällig ein letztes Mal geblinzelt hast und über deine Wimpern gestolpert bist."

Für den Leser entwickelt sich ein dichtes Bild der schwierigen Beziehung zwischen den beiden ungleichen Brüdern. "Kannst du noch jemandes Bruder sein, wenn dieser Jemand nicht mehr lebt?"

In der Rückschau werden die ersten Symptome der tückischen Krankheit von Marius sichtbar, seine vielen vergeblichen Bemühungen mit dem Bruder ins Gespräch zu kommen. Und im Nachhinein stellt sich auch heraus, dass sich die beiden Brüder mit demselben Problem, der Homosexualität, herumgeschlagen haben.

Ein wunderschöner, trauriger Roman, der in einer sehr sensiblen Sprache die Themen Homosexualität und Tod angeht.






Ted van Lieshout - Bruder
aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
Originaltitel: © 1996, "Gebr."
1999, München, Middelhauve Verlag, 173 S.

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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999-12-14

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger