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| Sabine Rückert - Tote haben keine Lobby |
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Fortsetzung des Lesezitats ...
Die Mordkommission kann sich zu Tode ermitteln, sie wird nicht erfahren, woran einer starb, wenn sie ihn nicht öffnen lässt. Stürzt ein Arbeiter vom Gerüst und stirbt, gibt es für das, was passiert ist, mehrere Erklärungsmöglichkeiten: Er hat danebengetreten. Er hatte einen Herzanfall. Er war betrunken, er wurde gestoßen. Im Zentrum des Geschehen liegt immer die Leiche. Deshalb ist eine Obduktion die sicherste Methode zur Aufklärung. Trotzdem wird - die Zahlen stammen aus dem nördlichen Westfalen, dürften aber für weite Teile der Bundesrepublik repräsentativ sein - bei nur etwa 20 Prozent der Unfalltoten vom Staatsanwalt eine innere Leichenschau angeordnet. Bei Verkehrstoten sind es sogar nur 10 Prozent, obwohl Obduzenten gerade bei Opfern von Autounfällen immer wieder zu völlig unerwarteten Diagnosen gelangen: Lastwagenfahrer liegen, voll gepumpt mit Heroin, tot im Führerhäuschen; Porschefahrer kleben an einem Brückenpfeiler - mit Kopfschuss; Menschen, die ein friedvolles Leben geführt haben, stürzen plötzlich mit ihrem Fahrzeug von der Autobahnbrücke in die Tiefe - die Blutanalyse weist Schlafmittel und Alkohol in hoher Konzentration nach. Wie kann so etwas geschehen? S. 178Solche Verhältnisse zeigen jedoch, dass den Rechtsmedizinern auch aus Richtung Justiz immer wieder kalte Böen ins Gegicht blasen. Beklagen sie sich - zu Recht - über schwindende Rechtssicherheit, die nachlassende Akribie der Polizei und die sinkende Obduktionsmoral der Strafverfolgungsbehörden, werden den Vorwürfen in Staatsanwaltschaften und Justizbehörden gern eigennützige Motive zugeschrieben. S. 199Nach diesem Prinzip verfährt derzeit zum Beispiel auch das Ministerium für Bildung und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen: Weil Schulen ein Massenpolitiktum sind, spart man an den Universitäten; weil es zu viele Mediziner gibt, spart man an den medizinischen Fakultäten, und weil man nicht einfach ganze Fakultäten schließen kann (das würde auf der Ebene der Lokalpolitik scheitern) , fährt man mit dem Läusekamm durch die medizinischen Disziplinen und prüft nach, auf wefche sich am schmerzlosesten verzichten ließe. Natürlich nicht auf Disziplinen wie Anatomie, denn ohne die gäbe es keine Medizin. Dann sind da noch die zentralen Fächer, die an keiner Fakultät fehlen dürfen: die Chirurgie, die lnnere Medizin, die Gynäkologie. Also müssen Nebenfächer verschwinden. Die Augenheilkunde zum Beispiel. Die Zahnmedizin. Die Neurochirurgie. Die Kardiochirurgie. Oder eben die Rechtsmedizin. Deshalb diskutiert das Land Nordrhein-Westfalen derzeit, in den nächsten Jahren vier der sechs Universitätslehrstühle für Rechtsmedizin abzuschaffen, obwohl die siebzehn Millionen Menschen (!) in diesem Bundesland ohnehin rechtsmedizinisch unterversorgt sind. Das Institut in Aachen wurde zum1. August 2000 "ersatzlos abgeschafft". Die Institute Essen, Bonn und Düsseldorf stehen auf der Abschussliste. Andere Länder wie Hessen oder Schleswig-Holstein sind im Begriff, dem nordrhein-westfälischen Beispiel zu folgen: Die Lehrstühle in Marburg und Lübeck sind schon gekippt. Der Prozess wird sich folgendermaßen vollziehen: Zuerst wird die forensische Ausbildung der Medizinstudenten schlechter, auch wenn diese es zu Beginn vielleicht gar nicht merken - Rechtsmedizin ist das Fach, welches die Kenntnisse von der Leichenschau vermittelt, von der Pathologie der nichtnatürlichen Todesursachen und der Pathologie der überlebten Traumatisierungen wie Kindesmisshandlungen oder Vergewaltigungen. Der werdende Arzt, egal, ob er später in der Ambulanz, im Krankenhaus oder in einer eigenen Praxis tätig sein wird, muss lernen, bei einer Verletzung, beispielsweise am Körper eines Kindes, zwischen Fremdeinwirkung und Unfall zu unterscheiden oder bei einer Leiche die Merkmale zu erkennen, die auf einen nicht natürlichen Tod hindeuten. Er ist später der entscheidende Weichensteller im deutschen Leichenschausystem - er wird den Totenschein ausstellen oder die Polizei rufen. Daher sieht die medizinische Ausbildung bisher vor, dass die Studenten nicht nur eine Vorlesung in forensischer Medizin hören, sondern auch an einem praktischen Kurs teilnehmen müssen. Am Ende des Studiums werden alle Mediziner im Fach Rechtsmedizin geprüft. Wird nun einer der Lehrstühle geschlossen muss das Ordinariat in der nächstgelegenen Universität die Lehrtätigkeit mit übernehmen. S. 201Je weiter ein Leichenfundort vom nächsten Rechtsmedizinischen Institut entfernt liegt, desto geringer ist, wie in Kapitel 3 gezeigt, die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer einem Rechtsmediziner unter die Augen gerät. Da sich die Entfernungen nach der Schließung von Rechtsmedizinischen Instituten noch vergrößern, werden also nur noch die offenkundigsten und allernotwendigsten Fälle zur Sektion transportiert werden. S. 202Aber auch die lebendige Patientenschaft trifft die Schließung der lnstitute am Nerv. Es sind die Wehrlosesten dieser Gesellschaft, die den Kundenkreis der Rechtsmedizin ausmachen: Kleine Kinder, an denen entmenschte Erwachsene ihre Wut auslassen. Alte und pflegebedürftige Leute, die von ihren Verwandten hilflos im Kot liegen gelassen werden. Frauen, von ihren alkoholisierten Männern vergewaltigt und halb totgeschlagen. Das ist die Klientel, aus der die traurigen Prozessionen bestehen, die zur Rechtsmedizin pilgern, weil diese für ihr Recht eintritt. Niemand wird auf die Idee kommen, derart Malträtiere zur Untersuchung in die nächste Großstadt zu schicken, und aus eigenem Antrieb werden sie sich nicht dorthin aufmachen. Ihre Verletzungen wird folglich kein Experte mehr zu Gesicht bekommen. Die Beurteilung der Gewalt- oder Vernachlässigungsspuren wird nun von Gynäkologen, lnternisten oder Kinderärzten vorgenommen werden, die von forensischer Medizin - und hier schließt sich der Teufelskreis - immer weniger verstehen. S. 203Lesezitate nach Sabine Rückert - Tote haben keine Lobby |