... reinlesen





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Sie hocken beide im Halbdunkeln auf dem Fußboden. Durch das kaputte Fenster pfiff es kalt herein .

Firebug hatte die Flasche an den Lippen, trank aber nicht. Ein Gedanke formte sich in seinem Kopf. Er harte Augen wie ein Araber: groß, haselbraun, unergründlich. "Weißt du was?", fragte er mit einem heiseren Lachen und kippte ein paar Schlucke in sich rein.

"Nee, was?" Die Worte holten Miguel ins Hier und Jetzt zurück. Seine Gedanken waren davongedriftet, hatten den abgegrabbelten Putz und die Kakerlaken, die aus den zerklüfteten Ritzen am Fuß der gegenüberliegenden Wand schossen, weit hinter sich gelassen.

"Gibt´s jetzt schon Parfum für Tunten, Mann." Firebug sah ihn so ernst an, dass Miguel lachen musste, "Nee, ehrlich, Bro' . Extra Parfüm für Schwuchteln. Hab's in Amelias Glotze gesehen."

Amelia. Lockenhaar, Kratergesicht, zu viel Eyeliner. City-College. Psychologie im Hauptfach. Crackpfeifen im Schlüpfer. Grips vergeuden war das Schlimmste.

''Echt, Mann. Tuntenparfüm."

"Gibt's nich, Mann."

''Wohl , Mann! Hab's selbst gesehen. Steht dick und fett auf der Flasche drauf: "Parfum por le homo"

Miguel ließ das Lachen herausbrechen. Es klang rau, wie wenn man Papier in Streifen reißt.

''Das heißt "Mann", sagte er. "lst Paisano-Gebrabbel oder was.q

''Nee, Mann. Nur PATOS nehmen so was. lsses das, was die Blancos brauchen, um Weiber aufzureißen? Als Latino brauchst du so 'n Scheiß nicht. Als Latino kannst du riechen wie 'n Kilo Achselschweiß und kriegst trotzdem alle Weiber rum."

Miguel lachte. Er hatte jede Menge Mädchen gehabt, hatte sie gefickt und abserviert und Punkt. Er fühlte sich wie ein alter Mann - mit sechzehneinhal. "Liebe" war ein anderes Wort für "Fick" gewesen. Aber dann hatte er Cristalena getroffen: ein Mädchen mit einem Namen wie ein Gedicht. S. 5-6


Lesezitat nach Abraham Rodriguez, Jr. - Spidertown


South Bronx - der amerikanische Traum
Abraham Rodriguez, Jr. - Spidertown

Miguel ist ziemlich stolz auf sich. Mit seinen sechzehneinhaib Jahren, und darauf legt er wert, (er rasiert sich sogar gründlich, damit er richtig jung aussieht), hat er es schon weit gebracht. Er fährt einen coolen Schlitten, hat eine eigene Wohnung zusammen mit seinem Kumpel Firebug und er hat siebentausend Dollar auf der hohen Kante. Sicher mehr, als sein Vater auf dem Sparbuch bunkert. Miguel verdient bei seinen Jobs auch mehr als seine Klassenkameraden bei Mc Donalds.

Wie er das anstellt? Ganz einfach. Miguel dealt für den Cracklord Spider. Für ihn liefert er als Kurier Drogen aus oder treibt Geld ein, WB5 immer gerade eben so ansteht. Und Spider hat Miguel das Auto, die Wohnung, sein Geld zu verdanken. Eigentlich seine ganze Existenz.

Bis Miguel die schöne Cristalena trifft, hat er nicht einen Funken über sein Leben nachgedacht. Im Gegenteil. Er hat es ganz in Ordnung gefunden. Seit die Schmetterlinge in seinem Bauch nicht mehr zur Ruhe kommen, mochte er weg von den Crack-Kids, weg von den Drogengeschäften und den Namen Spider am liebsten nie mehr hören.

Doch ganz so einfach ist das nicht. Bei Spider steigt keiner aus, schon gar nicht ohne seine Zustimmung. Zunächst erhält Miguel eine kräftige Abreibung von einem angeheuerten Schlägertrupp - die Konfrontation mit Spider spitzt sich gefährlich zu.

Wer den Rhythmus, eine Art literarischer HipHop, wie ihn Hajo Steinert bezeichnet, und den Originalton der South Bronx hören will, der sollte unbedingt Abraham Rodriguez, jr. lesen. Er ist selbst dort aufgewachsen und weiß genau, worüber er schreibt. Die Geschäfte in Spidertown sind knallhart und wer gegen das ungeschriebene Gesetz der Straße verstößt, wird sofort bestraft - mit Kugeln aus einem fahrenden Auto. Ein Job, nicht mehr.

,,Spidertown" ist harter Tobak, nichts für schwache Nerven, doch absolut authentisch.

Lesealter ab 14 Jahren



Abraham Rodriguez, Jr. - Spidertown
Originaltitel: Spidertown, © 1993
übersetzt von Cornelia Holfelder-von der Tann
© 2000, Würzburg, Arena Verlag, 464 S.,

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Sie fixierte ihn mit glänzenden Augen. "Geht das schon wieder los? Du hast echt die Weisheit mit Löffeln gefressen. Okay, ich rauch Crack. Na und? Bin ich die Erste, die's tut? Nein, oder? Gibt´s genug von der Sorte?"

"Klar, die gibt's. Aber wie viele sind auf dem College?"

''Verdammmich. Das ist es, was du nich packst, was? Möcht wissen, wieso. Das regt dich auf, wie wenn's der größte Frevel wär. Und was ist mit dir, Kleiner? Denkst du vielleicht, ein junger Kerl von sechzehneinhalb, der Latino ist und Tolstoi liest, das wär kein Frevel?"

"Was hat das damit zu tun?"

''Ist auch nich grad typisch, mein ich. Also mach mich nich an. Yeah,i ch war auf dem College. Ich bin ausgestiegen, okay? Ich war schon ein halbes Jahr nich mehr dort und's sieht nich so aus, wie wenn ich's nächstes Semester packen würd. Und? Was weißt du schon? Ich war auf dem College. Das ist grad noch ein Grund mehr zum Crackrauchen."

"Ich hab keinen Schimmer, wovon du redest."

"Ich red davon", schrie sie, "dass du mich nich so blöd anmachen sollst!" S. 32

"Ich, ich war schon immer anders. Hab mich mit Jungs gestritten. War gut in Mathe. War im Debattier-Team. Ich hab nie große Gedanken an Kleider und Make-up verschwendet, fur mich war das immer 'n blöder Scheiß. Ich hab gedacht, ich könnt aus meinem Leben machen, was ich will, weil ich Köpfchen hab, aber dann hab ich gemerkt, dass mich die Leute regelrecht gehasst haben, weil ich nicht so war wie die andern, weil ich die Sachen nicht einfach hingenommen hab. weil ich alles hinterfragt hab. Die Mädchen fanden mich komisch und eingebildet und die Jungs sind mir aus dem Weg gegangen. Am Schluss bin ich nur noch mit Leuten rumgehangen, die keiner gemocht hat - Junkies, Kiffer, Nutten. Mein Vater war stocksauer. Wie ich ihm gesagt hab, ich will Therapeutin werden, hat er mich nur wütend angestarrt. Vom City College wollt er nichts hören. Ich würd da nicht hingehören, wär reine Zeitverschwendung. Also . . ."

"Deshalb bist du ausgestiegen?"

Sie runzelte die Stirn. "lch hab einfach keine Lust mehr. Ich krieg Sachen schnell über. Das Leben ist manchmal so 'n Haufen Scheiß. Ist doch alles nur Selbstbetrug. Hast du mal Sartre gelesen?"

"Nein." S. 43

Eine Dröhnung Crack? Spider hatte es nicht mit dem Zeug, musste was andres sein, was Tieferes. War vielleicht nicht die ganze Geschichte, dachte Miguel, aber Spider war ein großer Schauspieler. Er wusste genau, wie er die Augen schmal machen musste, um jemanden einzuschüchtern. Er war ein Streetwise Patton, ließ seinen Perlmuttgriff-Revolver vor dem Spiegel um die Finger wirbeln, um die Szene richtig hinzukriegen. Er redete ständig von der Limousine dem Geld dem Imperium den Weibern. Es war der komplexe American Dream, den er verkündete. Freiheit, Demokratie und GELD. Was wollte die Polizei von ihm? Sie hatten doch nur deswegen was gegen ihn, polterte er, weil er ein Boricua war. Wenn er weiß wär, wär alles anders. Dann würden sie einen Film über ihn drehen, einen Reporter ausschicken, um ihn von einem Clubhaus zum andern zu verfolgen. WENN ER WEISS WÄR. Aber er war's nicht. Und darum erlaubten sie ihm nicht, gut in seinem Metier zu sein. Früher oder später würden sie ihn kriegen. S. 103

War er der Feind? Er kam sich so vor, als er sein Haus betrat. Von den Wohnungen im ersten Stock standen drei leer und eine war ein Crack House. Er erntete das eine oder andre Nicken von den abgefuckten, bedröhnten Gestalten, die im Aufgang herumhingen, den Junkies, die vor dem Schiebefensterchen von 3B auf ihren Fix warteten. - Es gab auch noch normale Leute im Haus: Die verängstigten Mexikanerinnen mit dem dicken schwarzen Haar, die hastig die Treppe hinunterliefen, ihre großköpfigen Kinder an sich gepresst. Sie knallten immer die Türen. Eine Frau auf seinem Stock hatte ihre Tür mit Heiligenbildern vollgepinnt. Ein paar Crackheads hatten dagegen gepisst. Er musste dran denken , wie sie die Bilder abgerissen hatte, das kräftige , zerfurchte Gesicht voller Trotz. "Ihr kriegt mich nich klein", hatte sie Miguel erklärt, als sei er der Übeltäter. Der Feind. Vielleicht war es ihm ja nur vorher nicht aufgefallen, dieser Kriegszustand, vor Cristalena. Sie gab ihm das Gefühl ein Insekt zu sein, das so tat, als sei es ein Mensch. Seither sah er, dass er in einem Ameisenhaufen lebte, dass seine Wohnung nichts war als ein Ameisenloch, wo Firebug herumlümmelte und mit den Kieferzangen malmte, während ein komisches geiles, crackgieriges Geschöpf seinen Brustpanzer leckte. S. 127

Und dann war da Cristalena. :. Er wusste, das war Liebe. Er würde ihr Blumen schicken. Morgen. An die Adresse ihrer Cousine. Und dann hatte er ja noch dieses Diamantarmband, dieses glitzernde Neunhundert-Dollar-Wahnsinnsding, das er vor etwa fünf Monaten gekauft hatte, als Geschenk für eine gewisse Patti. Er hatte wohl angeben wollen oder ihr seinen Stempel aufdrücken oder was. Er konnte sich nicht mal erinnern in sie verknallt gewesen zu sein. Er wusste nur noch, dass sie schwarz war und pralle Titten hatte. (An diesem Punkt musste er lachen. Er lag im dampfend heißen Badewasser, rauchte einen Jointstummel und ließ seine Gedanken schweifen.) Dass er das Armband noch hatte, lag daran, dass er es zuerst Spider gezeigt hatte. Spider hatte es ihm aus der Hand genommen und ihn angeguckt, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank.

"Jetzt hör mal her, du Wirrkopf. Okay, du bist jung und impulsiv und alles. Ich find's ja gut, dass du so voll in Sachen einsteigst, Mann, aber jetzt geh erst mal heim und pack das Ding weg; ich kenn diese Patti, die ist es nich wert. Bei der rauscht mehr Verkehr durch wie durch den Holland-Tunnel. Also steck das weg und heb's auf, bis dir irgendwann mal was Richtiges begegnet." Und das hatte er getan. Jetzt war die Richtige da. Das Armband würde sie umhauen! S. 152

Er musste es nehmen wie ein Mann. Er würde nicht hinter ihr herrennen wie einer von diesen weißen Schlappschwänzen im Fernsehen und ihren Namen schreien, während sich die Geigen zu einem dramatischen Crescendo steigerten. Er hätte in den Hauseingang laufen können und auf alle Klingeln drücken, bis jemand runterkam oder auf den Summer drückte, aber er tat es nicht. SIE war weggerannt. Punkt. Weil er nicht ihr Traum-Lover war.

"Wer liebt, muss leiden", erkläre ihm seine Mutter eines Abends, nachdem sein Vater sie verprügelt hatte, weil die Bohnen zerkocht waren. Sie war immer zu ihm reingekommen und hatte sich an sein Bett gesetzt und geweint. S. 254

Keine siebzehn und er fühlte sich wie fünfzig, als ob er auf eine lange, müllübersäte Straße zurücksah. Wie konnte er je noch mal ein Kid sein? Er war dabei, schwerwiegende Entscheidungen zu fällen, über sein Leben und über die Liebe, was immer DAS war. Er war immer auf der Hut vor Fesseln jeder An gewesen, hatte all seine Beziehungen locker gehalten, bis er Cristalena getroffen hatte. Sie bestärkte den irgendwo in ihm schlummernden Glauben, dass Leben doch noch mehr bedeuten musste, dass er vielleicht drüber nachdenken musste, was er sonst noch tun wollte, außer in seinem Rattenloch zu hocken, Ratte unter Ratten sein. Er wußte nicht, warum es anders war, aber er hatte schon ziemlich bald die Verwesung in Jimmys Gesicht erkannt, den Tod in Jokeys Augen tanzen sehen, die Schalheit des Straßenthrills empfunden. S. 268

Er schüttelte den Kopf. Wie viele Augen musste man auf diesen Straßen haben, um kein Messer in den Rücken zu kriegen?

"Spadgie's", sagte Miguel geistesabwesend. Careta schnippte mit den Fingern und zeigte auf ihn.

"Yeah. Genau. ich glaub, da geht dem nächst was ab, Mann. 'n großes Ding und Spider wird der sein, der's abgehen lässt."

"Du meinst, er wird zuschlagen?"

"Yeah, Bro' , eine große Aktion. Vielleicht eine ganze Posse. Wird 'nen Haufen Leute erwischen. Kennst du den Film über das Valentinstag-Massaker?"

"Das meinst du doch nich im Ernst." Miguel gab ihm den Joint wieder und sog eine Portion Luft ein.

"Ich sag dir, da läuft 'n Doppelspiel bei Spadgie. Ich sag dir, da ist 'n Nest von Schlangen, die Spider austricksen wollen. Ich sag dir , Rico hat dazugehört und war vielleicht so 'ne Art Spitzel, verstehst du? Und sie haben ihn umgebracht. Und jetzt wird Spider aufräumen. Er ist nich mehr der, der er war, Mann. Er spielt sein eignes Machtspiel. Und er wird Blut fließen lassen."

Miguel seufzte. "Und was hat das alles damit zu tun, dass ich aussteigen will?" S. 292

 

Mein Sohn ist 'n guter Junge. Er ist da in was Übles reingeraten. Aber er ist'n guter Junge."

"Ein guter Junge auf Abwegen."

"Genau. Mag sein, dass mein Mann und ich . . ." Sie unterbrach sich, schien Energie zu sammeln. "Mag sein, dass mein Exmann und ich ihm nicht das beste Zuhause geboten haben. Mag sein, dass wir was falsch gemacht haben. Aber eins weiß ich: Er ist 'n guter Junge."

"Wussten Sie, dass er für 'nen Cracklord gearbeitet hat? Dass er Drogen ausgeliefert und Geld eingetrieben hat?"

Sie trat näher ran, als wollte sie ihn abblocken. "Liegen gegen meinen Sohn irgendwelche Anschuldigungen vor? Wenn ja, dann besorg ich ihm 'nen Anwalt und Sie können mich mal mit Ihren Fragen." S. 427

Miguel wusste nicht, was als Nächstes kommen würde. Er hatte keine Angst, dass sie ihn zwingen könnten vor Gericht gegen Spider auszusagen, weil er wusste, Spider würde nie vor Gericht kommen. Sie würden ihn nie schnappen. Es war wie mit Hitler: Er war viel zu wichtig, als dass sie ihn kriegen würden. Eher würde er sterben. Was Sanchez anging, würde Miguel von Tag zu Tag weitersehen. Keine schwerwiegenden Entscheidungen, keine großen Pläne. S. 464

Uff - das war heavy duty für meine Scansoftware ! (Haselberger)


Lesezitate nach Abraham Rodriguez, Jr. - Spidertown


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 20.5.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger