... reinlesen




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Zuerst eine Erinnerung. Wir wohnten schon viele fahre in Lappland. In einer kleinen Mulde in der Landschaft, die Wald und Berge offen gelassen hatten. Da warst du, da war ich, und dazu unsere Kinder. Sie waren kein damals.

In diesem letzten Jahr fiel den ganzen November über nasser, schwerer Schnee. Unsere Straße war blockiert, und die Birken wurden in einem Bogen niedergezwungen. Wir gingen ins Freie und versuchten den Schnee aus den Bäumen zu schütteln, du und ich. Wir lachten wie Kinder, als er in Fladen auf uns herabfiel. Stundenlang liefen wir hemm und befreiten die Bäume mit langen Stangen, die wir eigens dafür angefertigt hatten. Dann kam der Vorweihnachtswinter. Der nasse Schnee gefror und wurde hart. Ständig gab es Stromausfälle. Du standst draußen im Schneedunkel und brietst Lammkoteletts auf dem Grill. Im Geruch der Holzkohle, der durch den Winterabend trieb, hatte sich die Wirklichkeit bereits in Erinnerung verwandelt. S. 11

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Lesezitat nach Elisabeth Rynell - Schneeland


Preise für Schneeland:

  • Literaturpreis von Aftonbladet,
  • Engqvist-Stipendium
       der Schwedischen Akademie,
  • Norrländischer Literaturpreis
       von Östersunds-Posten,
  • Literaturpreis von Tidningen,
  • Nominieung für den Augustpreis,
  • Romanpreis des
      Schwedischen Rundfunks.




    ähnlich schöner Roman:
    Levy -
    Solange du da bist


  • Hohaj
    Elisabeth Rynell - Schneeland

    Hohaj, das liegt im hohen Norden Schwedens, heißt die monatelang verschneite Landschaft, die den Rahmen für eine außergewöhnliche Liebesgeschichte abgibt.

    "Randbezirke. Die selten betretenen", so beginnt Elisabeth Rynell ihren Roman und steckt damit in 4 Worten ab, was den Leser erwartet: Ein extremer Landstrich, unglaublich gut getroffene Ausnahme-Charaktere und Einsichten in die karge Lebensweise um die Vorjahrhundertwende, die im Geist nachzuvollziehen einen gleichzeitig fröhlich und schwermütig machen.

    Im Prinzip ist die Art von Geschichte schon tausendmal geschrieben worden, die Zutaten sind ausnahmslos bekannt und ein Buch mit 250 Seiten kann doch eigentlich auch nichts neues bergen. Und doch - mit Meisterhand verstrickt die Autorin zwei durch Generationen getrennte Lebenswege. Mit ihrer eigenwilligen Betrachtung lässt sie den Leser an Ängsten, Wut, Liebes- und Verlustgefühlen ihrer Personen teilhaben. Im Wechsel der Jahreszeiten pendelt Glück und Unglück, Freude und Kälte für den verschlossenenen Wanderer Aron und Inna, die mit ihrem Vater in der Einöde der Fjälls lebt.

    Aron - auf der Flucht vor einer unaussprechlichen Tat, die ihn bald bis zum Erblinden durch die fernen Schneewüsten treibt, wird eher durch Zufall bei "guten Menschen" aufgenommen, für die er als Knecht arbeitet und im Sommer in der Landschaft gewordenen Einsamkeit die Pferde hütet.

    Und Inna, die knapp dem Kindesalter entwachsen, nach dem Tod der Mutter deren Stelle auf dem verlassenen Hof einnehmen muss. Ihr Vater, der mit Gott hadert, weil er ihm die Frau genommen hat und ihn durch einen Waldarbeitsunfall zum Krüppel gemacht hat, er beansprucht sie als seinen persönlichen Besitz.

    Menschen, die in einem nichtswürdigen Leben gefangen sind, sich fangen lassen haben; denen das Schicksal vielleicht eine Chance gibt, denen sich die Natur, die Landschaft, die anderen Menschen aber in den Weg stellen - und sich trotzdem begegnen, sich lieben und - sich verlieren.

    Hoffen, bangen, rätseln, wundern, nachdenken, verabscheuen, umklammern und Kopf schütteln - all das und noch viel mehr wird dem Leser passieren, wenn er sich auf die Lektüre dieses Buches einlässt. Er wird hineingezogen in diese zugleich sanfte und brutal grobe Welt, er wird teilhaben an der unverwechselbaren, eigenwilligen Sichtweise der Autorin - auch so können Menschen - Frauen - die Welt sehen. Und ein "Randbezirk" im Kopf - oder vielleicht eher im Herz - wird schwingen und seine Resonanzen aussenden, von deren Existenz in ihm der Leser möglicherweise noch gar nicht selber wußte.

    Und all dies würden wir nicht erfahren, hätte die Schriftstellerin nicht jene andere Frau, 50 Jahre später, in das zerfallene Gehöft geschickt. Sie, die namenlose Besucherin des verlassenen Dorfes, ebenfalls wie Aron damals schon, auf der Flucht vor dem Schmerz, den der Tod in ihre Beziehung gerissen hat, eben ihr gönnt das Schicksal den trauernden Blick auf diese grandiose Liebesgeschichte von Aron und Inna, die mit einer außerordentlichen schriftstellerischen Kraft und Spannung zu Papier gebracht worden ist. Elisabeth Rynell meistert mit toten Buchstaben die schwierigsten Gefühle zu erwecken und trägt damit ein gutes Stück schwedische Heimat hinaus in die Welt

    Ein Buch, das lange nachklingen wird in der Seele des Lesers - zweifellos die Romanentdeckung des Jahres.




    Elisabeth Rynell - Schneeland
    Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
    (lesen Sie ihr Statement zum Buch ...)
    © 1997, Originaltitel "Hohaj"
    © 2000, München, btb, 252 S., 19.00 € (HC)
    © 2002, München, Goldmann Video Verlag, 251 S., 9 € (TB)

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    Fortsetzung des Lesezitats ...

    Er war einer von denen, die über die Landstraßen zogen. Manche zogen kreuz und quer durchs Land. Andere hielten sich an kleinere Reviere. Landstreicher nannte man sie. Wie herrenlose Hunde, wie streuende Katzen, wie Stand- und Strichvögel. Etwas hatte sie in Bewegung gesetzt. Etwas hatte sie hinausgeschleudert. Jede Landstraße trug einige von ihnen. Wie eine Unruhe. Die Sesshaften wurden in ihrer Sesshaftigkeit gestört. Dass es sie hin- ausgetrieben hatte, diese Jammergestalten, dass es sie umtrieb. Es lag ein Unbehagen darin. Harte und schorfige Haut hatten sie. Ihr Blick war landstraßenweit. In den vier Wänden wurde er zusammengedrängt und zu einem harten Strahl gebündelt, einem geschliffenen Lichtstrahl. Und der traf die Sesshaften. Der Landstreicherblick, hieß es.

    Er nannte sich Aron. Nach unzähligen Jahren zur See war er in Simrishamn an Land gegangen. Er hatte sich auf den Weg gemacht. In der Welt herrschte Krieg. Lebende und tote Männer waren im Lehm der Äcker von Europa eingegraben. Er bewegte sich weg vom Krieg, er ging nach Norden, das hatte er sich in den Kopf gesetzt. Immer nur landauf gehen und gehen. Es war ein fremdes Land, er hatte kein Recht, da zu sein, er hatte kein Recht, irgendwo zu sein. Jetzt ging er instinktiv nach Norden, als folge er einem Ton. Seit einem Monat war er auf Wanderschaft. Er hatte Stockholm passiert, hatte die Stadt an einem knappen Tag durchquert. Er war hungrig. Er mochte nicht betteln. S. 15

    Danach ging er tagelang unter Bäumen. Anfangs erschienen sie ihm hauptsächlich als Hindernis, er konnte nichts sehen, die Bäume standen im Weg. Aber nach einer Weile lernte er sehen, was zwischen den Bäumen war. Dass es da eine Welt aus Licht und Schatten gab, eine Welt aus Räumen, aus ständig neuen Räumen, die sich ihm öffneten. Und da ging er, ein verwunderter Gast in einem ungeheuren Haus. Jetzt stand der Wald winterstill und klirrte leicht mit seinen Kältekristallen. Lurv wurde seinen Maulkorb los und scharrte im Tiefschnee nach Wühlmäusen. Auf Aron wartete viel Hunger zwischen den Höfen, Meilen von Hunger waren zu durchwandern. Wenn die Kälte groß war und er lange Zeit nichts gegessen hatte, bildete er sich ein, die Eingeweide klapperten wie leere, tote Schalentiere in seinem Leib. Dann zwang es ihn zu den Häusern. Und es war unvermeidlich, dass er dabei manchmal auf die eine oder andere Art fehlging. S. 16-17

    Auf diese Weise gelangte er ein paar Tage später nach Racksele, einem Marktflecken schon ein gutes Stück weit in Lappland. Die Dunstwolken der Stromschnellen hingen wie weiße Standbilder über dem Fluss, als er die Brücke Überquerte. Es war früh am Vormittag und bitterkalt, und weder er noch der Hund hatten seit Umeå etwas Ordentliches zu essen bekommen.

    - Zu diesen Häusern gehen wir nicht, murmelte er starr seinem Begleiter zu. Wir gehen einfach weiter geradeaus. Heute wir der Sonne. S. 19

    Als sie geraume Zeit auf diesem Weg gegangen waren und er nicht die Spur einer menschlichen Behausung entdeckt hatte, nein, nicht einmal eine Scheune, begannen Freude und Zuversicht des Vormittags nach und nach der Mutlosigkeit zu weichen. Jetzt ging es wieder steil bergauf. O Gott, wie er fror! Die Nahrung aus Brotstücken, die er zu sich genommen hatte, war bestimmt aufgebraucht. Tief unten im Bauch begann ein Grummeln und Rumoren. Jetzt zehrte er sich selber auf, nagte an seinem Fleisch, seinen Muskeln, ja, sogar die Knochen wurden langsam vom rasenden Hunger gefressen.

    Wenn er hungrig unterwegs war, geschah es oft, dass ihn Fantasien darüber heimsuchten, wie er von seinem eigenen Hunger verzehrte, wie er von innen aufgefressen wurde, bis er plötzlich einfach in sich zusammenfallen würde, leer und ausgehöhlt wie eine Larve, an der sich ein Hautflügler gesättigt hat. Diese Gedanken quälten ihn beinah mehr als der Hunger selbst, sie klammerten sich an ihn und weigerten sich zu verschwinden, ständig waren diese Bilder da, die ihn mit Ekel erfüllten. S. 21

    Die Windböen fegen heran und wurden mit jedem Mal stärker. Mitunter hörte man mitten in all dem Getöse Geräusche wie von umknickenden Bäumen. Und unablässig senkte sich der Schnee in dichten Schwaden auf sie herab. Aron musste sich das Gesicht mit der Hand freikratzen, damit er sehen und atmen konnte.

    Allmählich gelangten sie in ein Dorf, aber das merkte Aron nicht. Er sah nicht die Lichter der Häuser am Wegrand, er ging und ging, das Gesicht auf die Brust geneigt, rings um ihn herum der Sturm. Er dachte an nichts, bis auf dies eine, vorwärts zu kommen. Aber dann löste sich das Halstuch, das er um den Hut gebunden hatte. Da blieb er stehen und versuchte mit seinen ungeschickten, umwickelten Händen die Enden des Halstuchs zu Packen und sie aufs Neue zu verknoten. Er hob den Kopf ein wenig und begriff zuerst nicht, was er sah. Kleine mattgelbe Vierecke draußen in der Dunkelheit. Und Lurv wirkte unruhig an seiner Seite.

    Es dauerte eine Zeit, bis er erkannte, dass es tatsächlich Häuser waren, die er sah, dass sie in ein Dorf gekommen waren. Er tätschelte Lurv leicht mit der Hand und versuchte etwas zu sagen, doch das Gesicht war wie ein Panzer, der Mund ein zugefrorenes Loch. Es kam nur ein Knurren aus der Kehle, das der Sturm sogleich mit sich fort in die Dunkelheit riss. S. 22-23

    Eigentlich war es einfach. Sie musste nur Knövel zu Willen sein. Das hatte lnna gelernt. Wenn sie das tat, ging es schnell vorbei. Im Übrigen galt es, sich fern zu halten, unsichtbar, beschäftigt.

    Sie war ihm zu Willen. Sie konnte den Anschein erwecken, als wollte sie es selbst. So dass sie sogar selber meinte, es wäre so. Als würde sie sich nach Laga sehnen, dem Stock, den Knövel benutzte. Als wäre Laga eine Erleichterung. Als wäre es dann bald vorbei.

    Sie konnte im Gesicht ihres Vaters lesen. Jedes Zucken der Muskeln und Nerven konnte sie deuten. Es war ein wichtigeres Wissen für Inna, als Buchstaben und Worte zu lesen. Und sie sog dieses Wissen in sich auf. Ihr entging kein Blick, keine Falte. Knövel wäre bange geworden, hätte er sich selber genauso gut gekannt.

    Sie wohnten oben in Nattmyrberg. Sie lebten allein, seit Hilma, lnnas Mutter, ihnen weggestorben war. Das war vor vielen Jahren. lnna war jetzt eine erwachsene Frau. Aber das hatte ihr keiner erzählt.

    Nattmyrberg war ein unzugänglicher Hof, ein Einzelgehöft. Zwei Pfade schlängelten sich dahin, einer für den Winter- und einer für den Sommergebrauch. Aber niemand kam da vorbei, außer möglicherweise die Lappen im Frühjahr. S. 31

    Aron blieb auf dem Hof bei Helga und Salomon.

    Solange die Winterwege noch befahrbar waren, arbeitete er mit Salomon im Wald. Er lag auf den eigenen Ländereien des Hofs, sie fällten Bäume und transportierten Schnittholz. Sie hatten ein Zugpferd. Ein großes, falbes Geschöpf namens Balder. Auf den entlegenen Inseln, wo Aron aufgewachsen war, hatte es keinen Wald gegeben, aber mit Pferden hatte er seine ganze Kindheit verbracht. Balder konnte gelegentlich ebenso feurig wie störrisch sein, und Salomon merkte bald, dass Aron eine bedeutend bessere Hand mit ihm hatte als er selbst. S. 39

    Als mit der Schneeschmelze das Ende der Holzfuhren herannahte, kam die Rede darauf, was Aron in der schneelosen Zeit machen sollte.

    Aron, der ein Neuling in dieser Gegend war, wusste ja kaum, welche Arbeiten hier anfielen und als seine Wirtsleute vom "Pferdehüten" sprachen. verstand er zuerst nicht, was gemeint war. Aber schließlich begriff er. Pferde hüten hieß, die Pferde des Dorfes für den ganzen Sommer in entlegene Weidegründe zu begleiten. Schafe und Ziegen und sogar Kühe wurden von Kindern gehütet, aber die Pferde musste ein verlässlicher Mann beaufsichtigen. S. 45

    Für Knövel gab es kein Hoffen und kein Zweifeln. Er sollte vernichtet werden, das war es, was das Leben mit ihm vorhatte. Als die Fichte vor zwanzig Jahren so unglücklich auf ihn stürzte, erhielt er den Beweis. Er musste dem Leben nicht mehr schöntun. Es hatte Böses mit ihm im Sinn. Wäre da nicht so viel Schnee gewesen, er wäre jetzt sicher tot. Es hätte ihm das Rückgrat gebrochen. Es hätte ihn zu Mus zerquetscht. Aber die große Katze war in Spiellaune, sie wollte ihn nicht gänzlich zerschmettern, sie wollte ihn noch ein wenig zappeln lassen. So wurde er in den Pulverschnee gedrückt, als der Baum auf ihn stürzte, und ein paar Wirbel gingen zu Bruch. S. 54

    Als Hilma schon eine Weile tot war, formte lnna die Worte: Jetzt ist nichts mehr dazwischen. Diese Worte sollten sich später oft in ihr wiederholen. Es ist nichts dazwischen. Wenn sie das dachte, überkam sie ein Gefühl von Hautlosigkeit oder Haut, sie wusste nicht genau, welches von beiden, vielleicht beides, vielleicht war es ein und dasselbe. Sie merkte es nicht, wenn sie Wut empfand, ja allen Grund dazu gehabt. Aber in lnnas Welt war Knövel unvergleichlich, er ließ sich nicht bewerten oder verurteilen; er war. Ja, er war wie der Eberrücken, der große Berg im Süden. Oder wie der Winter. Und wie kann man einen Berg hassen, wie hasst man die Jahreszeiten? Das vermochte vielleicht Knövel, aber lnna konnte es nicht. Sie kannte keinen anderen Vater. Sie kannte keine andere Welt. Knövel aus dem Weg zu gehen war genauso selbstverständlich, wie sich im Winter warm anzuziehen. Und war sie unklug gewesen, galt es nur, die Schläge und Verwünschungen zu ertragen. Wie sie die Kälte ertragen hätte, wäre sie dumm genug gewesen, barfuß ins Freie zu gehen.

    Aber Knövel glaubte felsenfest, dass seine Tochter ihn hasste, dass sie schlecht von ihm dachte, ihm Böses wollte.S. 59

    Sie verließen Nattmyrberg nur, wenn es unbedingt nötig war. zu Hilmas Zeit war das ja anders gewesen. Aber jetzt war es Knövels Zeit, und er hielt sich lieber verborgen. Es kam ihm zupass, wenn er den Blicken der Menschen nicht begegnen musste. lnna könnte ja auch auf die Idee kommen, ihn zu verlassen, wenn sie nach Krokmyr hinunterging und das Leben dort sah und wie es gelebt wurde. Womöglich lernte sie da einen Kerl kennen. Knövel wollte alles so lassen, wie es war. S. 75

    Jetzt lebte Aron mit Lurv und seinen Pferden. Die Nächte waren weiß wie Glas. Draußen auf den Mooren bewegten sich die Kraniche. Er hörte sie hin und wieder ihre Rufe ausstoßen. S. 88

    Die Einsamkeit verschaffte ihm Raum. Er räucherte Fische, von denen er nicht einmal den Namen wusste. Er machte Feuer mit Erlenholz. Er probierte, langsam zu räuchem und schnell zu räuchern. Es war ein Gewicht in allem, was er tat. Ein einfaches, haltbares Gewicht. S. 90

    Dann aber, früh an einem Vormittag, als Aron unterwegs zu den Pferden war, bemerkte er eine Frau, die im Weidendickicht am Übergang zwischen Wald und Moor hockte und Multbeeren Sie hatte ihn nicht bemerkt, und Lurv war glücklicherweise voraus zu den Pferden gesprungen.

    Es war eine junge Frau, das konnte Aron sehen, obwohl sie sich von hinten zeigte. Die Hände waren jung, die Schultern und die Schulterblätter waren jung. Doch die Haare, die unter dem Kopftuch hervorschauten, waren silbergrau. Vorsichtig bewegte er den Kopf, um festzustellen, ob es am Licht lag, aber die Haare leuchteten wie Silber, wie er auch schaute. S. 93

    Er tat ein paar Schritte vorwärts, zu ihr hin. Im selben Moment stand sie auf und drehte das Gesicht in seine Richtung. Sie hatte ihn natürlich gehört, Aron stand wie erstarrt und sah, wie ein Stoß der Überraschung, oder war es Schreck, sie durchfuhr. Ein paar Sekunden standen sie beide reglos voreinander und sahen sich an.

    - Guten Tag, sagte Aron mit belegter Stimme. Ich hüte die Pferde von Krokmyr . . .

    Da schrie sie auf, kurz, hart. Dann rannte sie davon, den Beerenkorb in der Hand. S. 94

    Die Luft war heiß von ihr. Sein Körper kompakt, schwer. Er spürte die Glätte seiner Muskeln unter der Haut.

    Jeder Schritt, den er tat, war in ihrem Blick. Eingefangen, eingerahmt. Jede Bewegung. die er machte, erhielt durch sie ihre Form. Er hatte sie einmal flüchtig gesehen, oder zweimal? Er hatte Äste unter ihren Füßen knacken hören, schwankende Zweige gesehen - zur Seite geschoben, wie man Haare aus den Augen streicht. Aber er verriet nicht im Geringsten, dass er es bemerkte. Er verbarg es vielmehr und ließ sie ihn ungestört weiter beobachten.

    Es war ein Spiel, und Aron gefiel dieses Spiel. Mit der Nähe zu spielen, mit dem Verlangen zu spielen, mit dem Feuer.

    Aber mit der Zeit wurde es beinah zu stark. Und an manchen Tagen kam sie überhaupt nicht. Die ständige Aufmerksamkeit machte ihn matt und gereizt zugleich. Überall suchte er ihre Nähe, suchte er ihre Witterung, wie ein Hund mit der Schnauze am Boden. Mitunter kam es ihm so vor, als würde die Einöde ihn krank machen. Als würde er hier allmählich den Verstand verlieren. Oder ob sie es war, die verrückt war und ihn jetzt mit sich in ihren Irrsinn lockte? Er dachte an ihren Schrei. Mitunter spürte er ihre Angst, wenn er in ihrem Blick gefangen war, spürte sie so stark, dass er vor sich selber Angst bekam.

    Wieso pirschte sie sich auf diese Weise an ihn heran? Wieso hörte sie nicht auf? S. 104

     

    Aron hatte schon im Herbst, als er nach Krokmyr zurückkam, beschlossen, im Lauf des Winters die ganze Bibel zu lesen, nicht nur die Sprüche und diese oder jene Stelle aufs Geratewohl, wie er es sonst tat, sondern die ganze Schrift von Anfang bis Ende. Und er wollte sie auf Schwedisch lesen. Er wollte sie in lnnas Sprache lesen.

    Die Ereignisse des Sommers hatten ihn aufgerüttelt. Er war aus jenem Gleichgewicht geraten, das er für sich gefunden hatte, aus seiner Art zu leben, seiner Art, das Leben zu betrachten. lnna, mit ihrer nackten, eigentümlichen Scheu, hatte sich in seine Welt hineingesprengt. Wenn sie ihn, sich vor ihm versteckend, zugleich Jagte, wenn sie ihn zugleich mied und suchte, war etwas in Aron, das sich nicht dagegen wehren konnte. Es war eine Bewegung, ein Muster, das er kannte, und er konnte nicht anders, er musste darauf antworten und es bestätigen. Sein halbes Leben lang hatte er sich versteckt, er wusste kaum mehr, wovor. Und war gleichzeitig beharrlich seinen eigenen Spuren gefolgt, seinem eigenen Schatten hinterhergegangen. Er wollte herausfinden, ob er sich vor dem Menschen fürchten musste, den er jagte, er wollte wissen, ob er dieser Mensch war, und seine Grenzen kennen lernen. Aber im selben Moment, als er auf lnna geantwortet hatte, war es, als wäre ein starker Sturm aufgezogen. Und der stieß Türen und Fenster in ihm auf, kehrte das Unterste zuoberst, riss Wände ein, legte die Schutzwälder nieder, deckte Dächer ab. S. 164


    Lesezitate nach Elisabeth Rynell - Schneeland



    Verena Reichel (die Übersetzerin ins Deutsche) zu Elisabeth Rynell: SCHNEELAND (HOHAJ)     5. April 2000

    ,,Randbezirke. Die selten betretenen." So beginnt der Roman, in dem die Autorin eine Expedition in die Grenzbereiche einer äußeren und inneren Landschaft unternimmt. Der eisige Winter in der Gegend von Hohaj im tiefsten Lappland spiegelt den Seelenzustand der Ich-Erzählerin, die sich nach dem Tod eines geliebten Menschen in die Einöde zurückzieht. Indem sie dem Schmerz, der sie zu zerstören droht, begegnet und standhält, offenbart sich ihr die Schönheit dieser grandiosen schneebedeckten Weiten. Schicht ifir Schicht gräbt sie sich in ihr eigenes Leben ein, um zum Kern der Einsamkeit vorzudringen. Dabei entdeckt sie Rudimente einer anderen Erzählung, die darauf wartet, wieder zum Leben erweckt zu werden.



    In einem verlassenen Gehöft findet die einsame Wandererin Spuren der früheren Bewohner, und deren weit zurückliegende Geschichte kreuzt und verschränkt sich mit der ihren. Es ist die Geschichte von einem Fremden, Aron, der in Sturm und Schnee auf demselben Weg hierher kam wie sie, auf der Flucht vor sich selbst und einer Tat, die ihn ffir immer von seiner ursprünglichen Heimat und den Seinen abgeschnitten hat. Er findet Aufhahme in einer vielköpfigen Familie, die ihn in all seiner Verschlossenheit annimmt und liebgewinnt. Später entspinnt sich eine heimliche, fast stumme Liebesgeschichte zwischen ihm und der scheuen, verwilderten Inna, die mit ihrem Vater in einem düsteren Lebensdrama verstrickt ist. Was als wortloses gegenseitiges Belauern in der sommerlichen Seen- und Moorlandschaft beginnt und sich gradweise bis zu fast unerträglicher Spannung steigert, entlädt sich in einer wunderbaren, heftigen, aufwühlenden Liebesbegegnung.



    Die beiden Geschichten sind so miteinander verwoben, daß sie sich gegenseitig ergänzen und erhellen. Es fliegen Echos zwischen ihnen hin und her, da ist ein großer "Ruf", der in beiden widerhallt. Und den Klangboden für diese dunklen und hellen Geschehnisse bildet die überwältigende Natur mit ihrem gläsernen winterlichen Frost und den berauschenden, explosiven kurzen Sommern.



    Rynells Sprache durchdringt und trägt diese großen, existentiellen Themen, sie wechselt mühelos zwischen der inneren und der äußeren Landschaft, bald pulsierend in einem weit ausschwingenden Rhythmus, bald stakkatohaft vorwärtsdrängend. Die bisher vor allem durch ihre Lyrik hervorgetretene Autorin bewegt sich an der Grenze des Benennbaren und bahnt, wie ihre Erzählerin es buchstäblich in der Schneelandschaft tut, neue Pfade, um Gefühle der Einsamkeit, der Sehnsucht, des Verlangens und Schmerzes, aber auch der puren Freude am Dasein auszudrücken. Mit diesem Roman hat sie in Schweden den Durchbruch zu einer großen Leserschaft erreicht und wurde mit einer Reihe von bedeutenden Preisen ausgezeichnet.



    "Der Faden, an dem das Leben hängt, ist aus dünnster Seide. Der Faden alles Lebendigen. Deshalb vibrieren die Tiere in unaufhörlicher Aufmerksamkeit. Die Haut, das Zucken. Die schnellen Kehrtwendungen. Etwas wie elektrische Hitze strömt von ihnen aus. Gelingt es je, den Blick des wilden Tieres zu fangen, ist es, als würde man dem Leben begegnen, unverhüllt. Allem entkleidet, wogegen wir uns schützen wollten. Eine eigentümlich vertraute Melodie."

    Verena Reichel, © 2000


    © by Manuela Haselberger
    rezensiert am 16.8.2000

    Quelle: http://www.bookinist.de
    layout © Thomas Haselberger

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