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Es regnet nicht, es ist nicht kalt, auch der Mond scheint nicht, kein Stern ist zu sehen. Nur die Laternen glimmen; von weit er rauscht die Stadt. Rinka steht auf der Fahrbahn in der Mitte der Kreuzung. Ihr Magen zittert so, dass sie nicht weiterlaufen kann. Rechts und links von ihr, vor und hinter ihr führen vier kleine Straßen ins Dunkel. Im Garten an der Ecke schräg gegenüber lebt ein Boxer: Läuft jemand in Gedanken verlieft am Zaun vorbei, schleicht sich der Hund lautlos heran und beginnt plötzlich mörderisch zu bellen. Die Nichtsahnende springt zur Seite oder schreit auf vor Schreck. Da soll Rinka nun vorbei.


Lesezitat nach Anja Tuckermann - Nicht sprechen, nicht schweigen, nicht gehen, nicht bleiben, S.5


Andreas Steinhöfel und
Anja Tuckermann:


David Tage, Mona Nächte

© 1999 / ab 12-14 J.


Nicht sprechen – nicht schweigen
Anja Tuckermann -
Nicht sprechen, nicht schweigen, nicht gehen, nicht bleiben

Es ist Rinkas erste Reise allein mit dem Zug, seit sie ihre Ausbildung als Rechtsanwaltsgehilfin begonnen hat. In den Berufsschulferien fährt sie von Berlin zu ihrer Freundin nach Worms. Doch sie verpasst ihren Anschlusszug in Kassel am Abend um Haaresbreite. Der nächste Morgenzug geht erst gegen sechs Uhr. Was tun?

Der freundliche Student, der sie in der Bahnhofskneipe anspricht, stellt sich daheim in seiner miefigen Bude als ziemlich übler Typ heraus. Rinka geschieht das Unfassbare. Er bedroht sie mit einem Messer und vergewaltigt sie.

Für Rinka ist ab diesem Zeitpunkt in ihrem Leben nichts mehr, wie zuvor. Sie fährt völlig betäubt nach Hause. Soll sie mit ihrer Freundin reden, oder besser mit der Mutter? Daheim sitzt der Bruder, der Vater – alles Männer, die Rinka nicht mehr unbefangen wahrnehmen kann.

"Sie lebt wie auf einem Seil, wagt sich weder vor noch zurück, weiß nicht, wie sie auf das Seil gekommen ist, weiß nicht, wie sie wieder runterkommen kann. In ihrem Kopf bleibt alles dunkel."

Anja Tuckermann, geboren 1961, lebt in Berlin und ist für ihre Arbeit als Jugendbuchautorin mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet worden. Sie beschreibt Rinkas Situation sehr sensibel und einfühlsam. Schnell ist klar, eine Patentlösung für das Leben nach einer Vergewaltigung gibt es nicht. Doch der fiebrige, drängende Tonfall, bringt die Ausweglosigkeit, die Angst, den Ekel vor dem eigenen Körper und das Suchen nach einer Lösung besonders gut zur Geltung. Ein gelungener Jugendroman zu einem schwierigen Thema.
Lesealter ab 14 Jahren



Anja Tuckermann - Nicht sprechen, nicht schweigen, nicht gehen, nicht bleiben
2000, Ravensburg, Ravensburger Verlag, 114 S.,

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Rinka rennt. Ein Mann auf einem Motorrad verfolgt sie. Rennen. Rennen im Dunkeln. Wer hält dauernd den Scheinwerfer auf Rinka? Sie denkt, sie habe einen Strick um den Hals. Rennen. S. 11

Zu Ende. Die Straßen sind nicht mehr wie früher. Auf den Straßen ist ein stiller Krieg. Jeder Mann könnte Rinka angreifen. Woran soll sie die Männer erkennen, die es nicht tun werden? An den Haaren? An der Nase? Überall laufen Paare herum. Stehen im Hauseingang und küssen sich. Seine Hand liegt in ihrem Nacken, sie hält die Augen geschlossen. Paare liegen im Park, gehen Arm in Arm, Hand in Hand. Wie früher. Rinka ist nicht mehr wie früher. S. 26

Rinka bleibt zu Hause. Aber der Bruder ist ein Mann, der Vater ist ein Mann. Kann sie in ihrem Zimmer sicher sein? Im Bad schließt sie sich jetzt immer ein. Die Mutter schabt Mohrrüben mit Solingen rostfrei. Zu Hause ist es nicht mehr wie früher. Rinka kann nicht mehr Klavier spielen. Sie sitzt vor den Tasten, und alles krampft sich zusammen, Schultern, Hände, Herz. Sie hat keine Musik in sich, keinen Ton. S. 27

Sie will nicht sterben, sie will nicht leben. Es ist nicht so, dass sie irgendetwas will. Sie will nicht schlafen, nicht wach sein, nicht zu Hause sitzen, nicht von zu Hause weggehen. Kein Wille, keine Freude, keine Liebe, kein Ärger, keine Wut, kein Hass. Ihr Blut ist grau. Georg berührt sie durch die Haut hindurch. Er ist ihr Spiegel. S. 29

Dann kommen die Tage wieder, da Rinka das dumpfe Flattern in der Brust spürt. Dann hat sie wieder Angst, jemand könnte hinter ihr laufen, ihr entgegenkommenen, dann fürchtet sie sich, mit einem Mann Fahrstuhl zufahren. Als wären die vergangenen Monate nicht vergangen. Die Angst hat sie gefressen, ist in ihre Hülle gekrochen. Jede Entscheidung, ob sie verreisen soll oder nicht, ob sie Wurst oder Käse auf die Brotscheibe legen, ob sie grüne oder blaue Füllerpatronen kaufen soll, scheint ihr wieder unmöglich. Es ist besser, gleich zu sterben, als mit wackeligen Knien jeden Tag durchzukämpfen. S. 106


Die tägliche Angst ist weg. Rinka muss nicht mehr über jeden Schritt vor die Tür nachdenken, aber Konrad liebkost eine Rinka, die sich hohl fühlt. Sie genießt die Weichheit in seinem Gesicht, in seinem Blick, auf seiner glühenden Haut. Ihr eigener Körper bleibt ein fremdes Wesen. Er gehört nicht zu ihr. Er fühlt Konrads Hände für sich allein, ist nicht mit ihrem Kopf verbunden. Ein Vehikel ist der Körper, der sie mit durchs Leben schleppt.
S. 110
Lesezitate nach Anja Tuckermann - Nicht sprechen, nicht schweigen, nicht gehen, nicht bleiben


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 7.7.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger