Rinka rennt. Ein Mann auf einem Motorrad verfolgt sie. Rennen. Rennen im Dunkeln. Wer hält dauernd den Scheinwerfer auf Rinka? Sie denkt, sie habe einen Strick um den Hals. Rennen. S. 11
Zu Ende. Die Straßen sind nicht mehr wie früher. Auf den Straßen ist ein stiller Krieg.
Jeder Mann könnte Rinka angreifen. Woran soll sie die Männer erkennen, die es nicht tun werden? An den Haaren? An der Nase? Überall laufen Paare herum. Stehen im Hauseingang und küssen sich. Seine Hand liegt in ihrem Nacken, sie hält die Augen geschlossen. Paare liegen im Park, gehen Arm in Arm, Hand in Hand. Wie früher. Rinka ist nicht mehr wie früher. S. 26
Rinka bleibt zu Hause. Aber der Bruder ist ein Mann, der Vater ist ein Mann. Kann sie in ihrem Zimmer sicher sein? Im Bad schließt sie sich jetzt immer ein. Die Mutter schabt Mohrrüben mit Solingen rostfrei. Zu Hause ist es nicht mehr wie früher. Rinka kann nicht mehr Klavier spielen. Sie sitzt vor den Tasten, und alles krampft sich zusammen, Schultern, Hände, Herz. Sie hat keine Musik in sich, keinen Ton. S. 27
Sie will nicht sterben, sie will nicht leben. Es ist nicht so, dass sie irgendetwas will. Sie will nicht schlafen, nicht wach sein, nicht zu Hause sitzen, nicht von zu Hause weggehen. Kein Wille, keine Freude, keine Liebe, kein Ärger, keine Wut, kein Hass. Ihr Blut ist grau. Georg berührt sie durch die Haut hindurch. Er ist ihr Spiegel. S. 29
Dann kommen die Tage wieder, da Rinka das dumpfe Flattern in der Brust spürt. Dann hat sie wieder Angst, jemand könnte hinter ihr laufen, ihr entgegenkommenen, dann fürchtet sie sich, mit einem Mann Fahrstuhl zufahren. Als wären die vergangenen Monate nicht vergangen. Die Angst hat sie gefressen, ist in ihre Hülle gekrochen. Jede Entscheidung, ob sie verreisen soll oder nicht, ob sie Wurst oder Käse auf die Brotscheibe legen, ob sie grüne oder blaue Füllerpatronen kaufen soll, scheint ihr wieder unmöglich. Es ist besser, gleich zu sterben, als mit wackeligen Knien jeden Tag durchzukämpfen. S. 106
Die tägliche Angst ist weg. Rinka muss nicht mehr über jeden Schritt vor die Tür nachdenken, aber Konrad liebkost eine Rinka, die sich hohl fühlt. Sie genießt die Weichheit in seinem Gesicht, in seinem Blick, auf seiner glühenden Haut. Ihr eigener Körper bleibt ein fremdes Wesen. Er gehört nicht zu ihr. Er fühlt Konrads Hände für sich allein, ist nicht mit ihrem Kopf verbunden. Ein Vehikel ist der Körper, der sie mit durchs Leben schleppt.
S. 110
Lesezitate nach Anja Tuckermann - Nicht sprechen, nicht schweigen, nicht gehen, nicht bleiben