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Weitgehend Höllenfahrten
Stephan Waldscheidt - Weitgehend Höllenfahrten

Von Jean Paul Sartre stammt das Zitat "Die Hölle, das sind die anderen". Nicht so bei Stephan Waldscheidt. Der Autor, der sein erzählerisches Debüt mit dreizehn Erzählungen gibt, findet die private Hölle seiner handelnden Personen nicht nur bei den Mitmenschen, sondern sie lebt qualvoll in der eigenen Erinnerung und kann nicht abgeschüttelt werden.

So weiß die alte Frau in "Das Loch im Garten", dass ihr langjähriger Ehemann, keineswegs spurlos verschwunden ist, hat er sich doch von ihr verabschiedet, bevor er die Tür schloss. Doch sie kommt nicht auf die Idee, dass ihr Gesprächspartner im Busbahnhof, dem sie ihr Leben erzählt, vor langer Zeit im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrem Mann einen mephistophelischen Pakt geschlossen hat.

Besonders die kurzen, knappen Erzählungen, "Vor dem Sturm" oder "Die Kapelle", mein absoluter Favorit, überzeugen in ihrem lyrischen Ton. Der kleine, überraschende Schlenker am Schluss, ist bei Waldscheidts Erzählungen immer eingebaut, ein Widerhaken, der aufhorchen lässt und sich in das Gedächtnis des Lesers bohrt.

"Weitgehend Höllenfahrten" ist ein kleinformatiger Band, der bequem in jede Tasche gesteckt werden kann. Für U-Bahnfahrten fast zu schade. © manuela haselberger


Stephan Waldscheidt - Weitgehend Höllenfahrten
1999, Berlin, Walzwerk Verlag, 174S.,




Die Kapelle

Am Anfang war kein Wort, nur ihre Hand in ihrem Haar. Als sie sich zu ihm umwandte, ihn das erste Mal ansah, war es bereits zu spät. Er war längst in sie verliebt.
An sie dachte er heute, während er und die Sonne den Hügel hinaufstiegen. Zwischen ihnen wuchs die Kapelle aus der flachen Kuppe, schob ihre kalten Wände kühl in den Morgen. Tau dunstete von Gras und Blättern, fleckte dunkle Muster auf die Spitzen seiner Schritte.

Er atmete das Ringsum und wußte nlcht, ob die ganze Welt nach ihr duftete oder nur seine Erinnerungen. Eine Bank schmiegte sich an die Schattenseite, blätterte altes Rot in das zertretene Kraut davor, und er ertappte sich einmal mehr bei einem lange schon sinnlosen Gedanken: Sie und er auf der Bank, und ihnen gegenüber all das Land, ihnen gegenüber die ganze Welt.
Er trat ein. Ein Dutzend leerer Bänke, ein kalkweißer Altar, eine schwere Bibel, das Kreuz darüber. Die frühe Sonne tastete die Westwand ab mit dem Kobalt und Karmesin der einfachen Fenster, als müßte sie sich jeden Morgen neu von der Sinnhaftigkeit dieses Hauses überzeugen, das ihr bis Mittag den Blick auf die Weite dahinter versperrte.

Er glaubte an keinen Sinn mehr, nicht mehr, seit er sie, seine Frau, beerdigt hatte, sieben Jahre und ein paar hundert Kirchen von hier. Er wußte nicht, wonach er suchte seither, er wußte nur, daß er es nie mehr finden würde. Seine Finger raschelten sich durch ein paar Propheten, Evangelien und Apostel und klappten dann das fette Buch zu - ein Geräusch das er mochte. Es hatte so etwas Endgültiges.

Er stützte sich auf den Stein des Altars, der nie so warm, niemals so weich sein würde wie ihre Haut, und starrte hinauf zu der Holzpuppe am Kreuz. Eine Holzpuppe? Oder die Marionette eines falschen Gottes?
"Du siehst aus wie eine Wasserleiche, Herr" spotteten seine Worte von den Wänden. "Ertrunken an den Tränen, die das Leid deiner idiotischen Religion der Welt gebracht hat?" .... S. 17-18

Lesezitate nach Stephan Waldscheidt - Weitgehend Höllenfahrten


© 27.10.2000 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de