... reinlesen




... reinlesen

Eine plötzliche Erinnerung

Manchmal denke ich, daß ich nicht sie erklären muß, sondern mich, mein Interesse an ihr, das so spät, fast sechs Jahre nach ihrem Tod, wieder in mir erwacht ist. Doch vielleicht muß ich erst vom Vergessen sprechen, das gewaltsam als Abwendung und Trennung begann und dann allmählich in Beruhigung überging. Ich habe immer weniger, immer flüchtiger an sie gedacht und irgendwann damit nicht mehr. Wann das war, weiß ich nicht. Man vergißt auch noch das Vergessen, wenn man etwas vergißt. Es ist wie eine doppelte Wand oder wie etwas, das es in Wirklichkeit nicht gibt - eine doppelte Dunkelheit. Inzwischen weiß ich: Man kann nicht sicher sein. Sie war verschwunden in diesem doppelten Dunkel, bis ich sie plötzlich wieder sah. sie erschien mir in jener bannenden Ausdrücklichkeit, mit der eine Schauspielerin im Lichtkegel eines Scheinwerfers, unbeirrt von den auf sie gerichteten Augen im verdunkelten Zuschauerraum, über die Bühne schreitet. S. 7

Ohne daß mich mein schlechtes Gewissen plagte, lag ich lange im Liegestuhl auf der Terrasse und entspannte mich. Ich sagte mir, daß ich diese Pause brauchte. Und je mehr ich einwilligte in diesen Zustand, um so öfter begann ich zu denken, daß neben mir ein Mann aufgetaucht sei. der mir die Tür zum Leben offen hielt. S. 42

"Anworten Sie nicht jetzt. Antworten Sie morgen oder Übermorgen oder nächste Woche!" Aber ich sagte, ich wisse meine Antwort. Ich hatte sie gefunden, als ich begriff, daß ich mehr davor zurückschreckte, "neln" zu sagen und damit alles zu beenden. Nein - das war nur ein Loch, eine Leere, in der alles verschwand. Nein - das war die Angst. Die größere Angst. S. 43


Lesezitat nach
Dieter Wellershoff - Der Liebeswunsch


Paare
Dieter Wellershoff - Der Liebeswunsch

as Ende ist von Anfang an klar: Anja begeht Selbstmord. Doch wie es dazu kommt, das erzählt Dieter Wellersholf in seinem Roman "Der Liebeswunsch", auf so gekonnte Art, dass er den Leser kaum zu Atem kommen lässt.

Anja, eine junge Studentin, neunundzwanzig Jahre alt, hütet für das Arzt - Ehepaar Paul und Marlene für einen Monat das Haus, während die beiden auf Urlaubsreise sind. Wieder zurück staunen sie nicht schlecht, dass ihr langjähriger Freund Leonhard, ein angesehener Richter, und Anja ein Liebespaar wurden und die Hochzeit planen.

Die schüchterne und zurückhaltende Anja, "sie hatte nichts Eigenes, keinen Kern, der die Sätze zusammenhielt," ahnt nicht, dass vor einigen Jahren Leonhard und Marlene zusammen lebten und Paul seinem besten Freund die Frau ausgespannt hat. Bis heute sind in der Beziehung zwischen den beiden Männern, und Marlene unterschwellige Spannungen spürbar. "Leonhard war nun nicht mehr unser Anhängsel, ein lieber alter Freund im Schatten unserer Ehe, sondern ein gleichrangiger Partner. Er hatte Symmetrie hergestellt und damit ganz neue Möglichkeiten des freundschaftlichen Umgangs geschaffen."

Doch auch die Ehe von Anja und Leonhard endet in einem Fiasko. Warum? Das beschreibt Dieter Wellersholf in seiner einmalig geschliffenen Sprache. Hier sitzt jeder Satz an der richtigen Stelle. Kein Wort ist überflüssig oder fehl am Platz. Und die Komposition dieses Kammerspiels ist absolut perfekt. Wenn die letzten Zeilen gelesen sind, muss man einfach noch einmal zum Anfang blättern und wieder von vorne beginnen. Viele Details erschließen sich erst mit dem Wissen der ganzen, tragischen Geschichte. "Wir waren vier Figuren auf einem Spielfeld und hatten uns nach einer Logik bewegt, die sie, die zuletzt Hinzugekommene, am wenigsten durchschauen konnte."

Immer wieder ergreift eine andere Person das Wort, erzählt ihre Sicht der

Geschehnisse und dieser Wechsel der Perspektiven steigert die Spannung um ein Weiteres. Ein wunderbarer Roman, der einen gefangen nimmt und dem ein großes Publikum zu wünschen ist. © manuela haselberger




Dieter Wellershoff - Der Liebeswunsch
2000, Köln, Kiepenheuer und Witsch, 391S.,

dieses Buch bestellen



Fortsetzung des Lesezitats ...

"Paul will sich von seiner Familie trennen? Wieso? Und warum kommt er nach London, um es dir zu erzählen?"

"Weil er mit mir zusammenleben will."

Nun war alles schon gesagt. Alles weitere waren nur noch Erläuterungen. Das Ganze hatte kaum länger gedauert als eine Injektion. Ein kurzer Stich. Dann betupfte man die Einstichstelle und klebte ein Pflaster darüber. Der kurze Schmerz war schon verflogen. So kam es mir vor, bis ich die Veränderung in Leonhards Gesicht sah. S. 84

Ich will auch nicht an andere Hände denken. Und wenn ich mich selbst berühre, denke ich an nichts. Wenn ich mir etwas vorzustellen versuche, zerrinnt es wieder, als sage eine Stimme in meinem Kopf: Das ist es nicht. Für mich ist das Leben ein fremder, gleichgültiger Film mit blassen undeutlichen Bildern. Er wird von einer Frau gespielt, die mir in allem gleicht und die ich nicht bin. Ich sehe mich in ihr und bin es nicht, als glitte ich unsichtbar neben ihr her. Seltsam, wie wenige Erinnerungen ich habe. S. 96

Wir waren vier Figuren auf einem engen Spielfeld und hatten uns nach einer Logik bewegt, die sie, die zuletzt Hinzugekommene, am wenigsten durchschauen konnte. Sie hatte deshalb auch die schlechteste Position in unserer Gruppe bekommen, und ich vor allem hatte versucht, sie in diesem neuen Leben zu bestärken. Forschte sie jetzt nach meinen Motiven ? Haßte sie mich deshalb? Zweifelte sie daran, daß ich ihre Freundin war? S. 155

Er las es mit wachsendem Widerwillen, wie einen sich ausbreitenden Wahnsinn, der auf ihn übersprigen wollte, ihn aber immer kälter, immer nüchterner zurückließ: Nein, so konnte er nicht leben. Der Liebeswahn dieser Frau war eine Falle, die das Leben für ihn aufgestellt hatte. Sie war speziell für ihn gemacht. Damit hatte sie recht. Doch es mußte die Hölle sein, mit den Hysterien dieser Frau Tag für Tag und Nacht für Nacht in einer Wohnung zusammenzuleben, ausgesetzt dieser kranken Unersättlichkeit, mit der sie immer wieder nach Liebe verlangte -Liebe, Liebe, Liebe! War er denn verrückt gewesen, seine Ehe mit einer so schönen und klugen Frau wie Marlene dafür aufs Spiel zu setzen? Und alles zu gefährden, was dazu gehörte, das große Haus, in dem sie wohnten, die gesellschaftlichen Verbindungen, vielleicht sogar seine Chancen im Beruf? So wie Marlene reagiert hatte, mußte er damit rechnen, daß er alles schon verspielt hatte. Was wog dagegen der Satz, den er hier auf dem nächsten Blatt las: "Wenn Du mich verläßt, werde ich in vollkommener Dunkelheit zurückbleiben, als wäre ich gestorben." Das waren doch alles nur Worte, an denen sie sich berauschte, weil sie süchtig nach großen Gefühlen war. S. 277

Lesezitate nach Dieter Wellershoff - Der Liebeswunsch


© 4.12.2000 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de