Bilder aus der Vergangenheit


Im Jahre 1935 erhielt der Fotograf Roman Vishniac vom "Hilfsverein der deutschen Juden" den Auftrag, das traditionelle Leben in OstEuropa mit seiner Kamera zu dokumentieren. Zu dieser Zeit war Vishniac, der 1897 bei St. Petersburg geboren wurde, schon ein anerkannter Fotojournalist. In den Jahren von 1935 bis 1939 reiste er viele tausend Kilometer durch Polen, Ungarn, Weißrußland, die Slowakei und die baltischen Länder. Er verkleidete sich als Tuchhändler, denn die Juden hielten sich sehr streng an das Gebot "Du sollst dir kein Bildnis machen" und hätten ihm die Fotos nicht erlaubt. Mit seiner versteckten Kamera hielt er den Alltag, das Leben im Stetel fest. So entwickelte er seine Filme oft nur bei Sternenlicht und wässerte sie in den Flüssen. Elfmal wurde er ins Gefängnis gesperrt, weil die Polizei ihn für einen feindlichen Spion hielt. Doch trotz aller widrigen Umstände ahnte Vishniac, daß diese Welt dem Untergang nahe ist und so zeigt er mit seinen eindringlichen schwarzweiß Fotos das Leben der Juden, ehe es in einem Sturm von Feuer und Asche der Vergangenheit anheimfiel.

Jedes Bild erzählt eine eigene Geschichte: der Talmudschüler in seine Studien versunken, Kellerwohnungen, die sechsundzwanzig Familien Obdach bieten, Kinder beim Murmelspiel, eine alte Backwarenhändlerin, mit verschrumpeltem Gesicht oder ein Lastenträger, der unter seiner schweren Bürde stöhnt. Elli Wiesel schreibt in seinem Vorwort zum Buch: "Die alten Juden auf Deinen Bildern mit ihren traurigen, traumverlorenen Gesichtern: Ich kannte sie gut. Deine jüdischen Kinder, so voller Hoffnung und Unschuld, die Köpfe unter dem wachsamen Auge des Lehrers über das Buch der Bücher gebeugt: Ich saß mit ihnen auf der Schulbank. Als der Tod schon die Hand auf sie legte, hast du sie vor dem Vergessen bewahrt."

Roman Vishniac konnte nicht verhindern, daß die Opfer getötet wurden, doch mit seiner Kunst der Fotografie gelang es ihm, der Nachwelt einen Eindruck über das Leben der osteuropäischen Juden zu vermitteln, das heute nur noch in Bildern von seiner reichen Vergangenheit berichten kann. Roman Vishniac starb 1990 in New York und hat das Erscheinen des Buches nicht mehr erlebt. Er und Elli Wiesel waren beide Zeugen des Holocaust. Sie haben den Lesern mit diesem Bildband ihre Erinnerung an eine untergegangene Welt anvertraut, eine Welt, die nicht mehr ist, die es aber um so dringlicher vor dem Vergessen zu retten gilt.



Roman Vishniac: Wo Menschen und Bücher lebten
München, 1993, Kindler Verlag, 160 S.,




© by Manuela Haselberger aktualisiert am 22.9.1996     nächstes Buch >>>