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Barcelona im Morgengrauen. Die Hotels sind dunkel. Alle großen Alleen weisen aufs Meer. Die Stadt ist leer. Nico schläft. Sie ist gefesselt von verdreh-ten Laken, ihrem langen Haar, einem nackten Arm, der unter ihrem Kissen liegt und über die Bettkante hängt.

In einem Käfig, der sich unter einem Tuch aus indigoschwarzer Seide abzeichnet, schläft ihr Vogel, Kahl. Der Käfig befindet sich in einem offenen, ausgefegten Kamin. Daneben stehen Blumen und eine Schale mit Obst. Kahl schläft, sein Kopf unter der Weichheit eines Flügels.

Malcolm schläft. Seine stahlgerahmte Brille, die er nicht braucht, die Gläser sind ungeschliffen - liegt geöffnet auf dem Tisch. Er schläft auf dem Rücken, seine Nase zieht durch die Traumwelt wie ein Kiel. Diese Nase, die Nase seiner Mutter oder zumindest eine Kopie der Nase seiner Mut-ter, ist wie ein theatralisches Requisit, eine merkwürdige Verzierung, die ihm ins Gesicht geklebt wurde. Sie ist das erste, was einem an ihm auffällt. Das erste, was man an ihm mag. Die Nase ist in gewissem Sinne ein Zeichen von Lebenslust, Es ist eine große Nase, die man nicht verstecken kann. Außerdem hat er schlechte Zähne.

An den Spitzen der vier steinernen Türme, die Gaudi unvollendet ließ, werden durch das Licht langsam goldene Inschriften sichtbar, zu blaß, um sie entziffern zu können. Es scheint keine Sonne. Es herrscht nur weiße Stille. Sonntagmorgen, der frühe Morgen Spaniens. Dunst bedeckt die Hügel um die Stadt. Die Geschäfte sind geschlossen.

Nico ist nach ihrem Bad auf die Terrasse hinausgetreten ...


Dämmerung
James Salter - Dämmerung
(Buchthema im Lit. Quartett am 18.6.99)

Nachdem dem Amerikaner James Salter mit seinen beiden in den vergangenen Jahren auf deutsch erschienen Romanen "Lichtjahre" und "Ein Spiel und ein Zeitvertreib" endlich der verdiente Durchbruch auf dem deutschen Buchmarkt gelang, liegen nun seine bereits 1976 erschienen Erzählungen vor.

In diesen elf kurzen Geschichten, hat er zum Teil Themen seiner späteren Romane vorweggenommen. Da erwacht in "Die Küste von Tanger" zum Beispiel ein Paar in Barcelona an einem ruhigen Sonntagmorgen. Ihre Harmonie wird empfindlich durch den Anruf einer Freundin gestört, die sich mit ihnen zum Baden verabredet. Am Abend ist die Beziehung des Paares aufs Äußerste gespannt und die beiden wissen nicht mehr, was ihnen an Barcelona, eine Stadt, die sie bis vor kurzem geliebt haben und in der sie sich wohl gefühlt haben, jemals gefallen hat.

James Salter schreibt eine makellose Prosa aus luftig, leichten Sätzen, die wie Seifenblasen in der Luft schweben und je nach Betrachtungsweise in zarten Farben schillern. Und mit Genuß träufelt er Tropfen für Tropfen Gift in sie, füllt sie mit einer Pipette, bis sie vor den Augen des Lesers zerplatzen.

So ergeht es auch Mrs. Chandler, aus der Titelgeschichte "Dämmerung", übrigens eine der besten Erzählungen des Bandes. "Sie war eine Frau, die Bücher gelesen, Golf gespielt, Hochzeiten besucht hatte, die schöne Beine besaß, die Stürme überstanden hatte, eine gute Frau, die jetzt niemand mehr wollte."

Ihr Mann hat sie verlassen, wieder geheiratet, ihren jüngsten Sohn hat sie bei einem Unfall verloren und die winzige Hoffnung, daß sich mit Bill, der ihr bei kleinen Reparaturen am Haus behilflich ist, eine neue Beziehung entwickelt, wird zerstört, als er ihr eröffnet, daß er wieder mit seiner Frau zusammenlebt.

Melancholie, ergreifend schön.



James Salter - Dämmerung
Übersetzt von Beatrice Howeg
Originaltitel: © 1976, "Dusk"
1999, Berlin, Berlin Verlag, 186 S., 36 DM

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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999/06/12

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger