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Auf einem großen Platz in Antiochia hörte sie ihn sprechen, ihn, der Simon
hieß, jedoch Petrus genannt wurde. Er hatte sich nicht verändert, Der
Fischer von den Ufern des Sees Genezareth war auch jetzt noch von
aufrechter Gestalt und hatte sich die scharfen Gesichtszüge bewahrt.
Und den Blick: kindlich und gelassen.
Auch viele seiner Worte erkannte sie wieder. Wie ein Echo.
»Liebet einander«, sagte der Mann auf dem Platz.
Das hatte Er gesagt. Aber erst jetzt erkannte sie, daß Er nie
verstanden hatte, wie wenig Liebe es in Wirklichkeit unter den Menschen
gab.
»Liebet einander.« Der großgewachsene Mann wiederholte die Worte, und
sie klangen aus seinem Mund wie ein Gesetz.
Jetzt konnte sie sehen, wie vertrauensvoll sein Blick war.
Gleich
darauf sprach Simon vom Licht, das nicht versteckt werden durfte. Und
sie erinnerte sich an ihr Erstaunen darüber, daß Er nicht gewußt
hatte, daß die Menschen zum Schattendasein verdammt waren.
Sein eigenes Licht. hat Ihn geblendet, dachte sie.
Vielleicht hatte Er deshalb den finstersten aller Tode gewählt.
Dann,
zum Schluß, das Gebet, das sie so gut kannte. »Vater unser .. .«‚
und die Menschenmenge löste sich auf. Hier und dort war höhnisches
Gelächter zu hören, aber es verlor sich bald. Die Worte des Simon
Petrus besaßen Leuchtkraft, waren der Widerschein dessen, was einst
gesagt worden war. Aber sie hatten ihren verborgenen tieferen Sinn
verloren.
Wieviel Zeit war inzwischen vergangen? Wie lange würde es noch dauern?
Auf
dem Heimweg mußte sie daran denken, daß sie den großmauligen Fischer
nie hatte leiden können und daß sie sich deswegen geschämt und zu
beten versucht hatte: Vater unser, vergib mir alle meine bösen
Gedanken.
Dann
dachte sie, daß sie nicht zu der Versammlung hätte gehen sollen, daß
sie es hätte besser wissen müssen. Sie hatte viele Jahre gebraucht, um
zu vergessen, und konnte sich an sein Gesicht, seine Hände nicht mehr
erinnern, ja, nicht einmal an die Augen oder den Mund, der so
merkwürdige Worte formte. Auch die Süße der Nächte hatte sie aus der
Erinnerung getilgt. Am schwierigsten war es, sein Lächeln zu
vergessen. Sie hatte es während der täglichen Arbeit immer wieder vor
Augen.
Von
einer Nachbarin hatte sie gehört, daß ein Prophet der neuen Sekte auf
dem großen Platz im jüdischen Stadtteil sprechen würde.
»Ich möchte selbst gern hingehen, aber ich wage es nicht, mich meinem
Mann zu widersetzen«. hatte sie gesagt.
»Ich bin auch neugierig auf die neuen Schwärmer«, hatte Maria
Magdalena geantwortet, dabei den Mund zu einem bitteren Lächeln
verzogen und an Simon Petrus gedacht, der den Herrn dreimal verleugnet
hatte.
Während sie ihre morgendliche Mahlzeit zu sich nahm, hatte die Neugier
sie endgültig gepackt: Ich gehe, hülle mich in den weiten schwarzen
Mantel und bedecke das Gesicht mit einem Schleier. Niemand wird mich
erkennen.
Alles war gutgegangen, sie war niemandem aufgefallen, ein schwarzer Rabe
inmitten vieler anderer Raben.
In
der Nacht nach der Begegnung konnte sie nicht schlafen. Auch nicht
weinen, obwohl Trauer sie quälte, und ihr Herz hämmerte, als wolle es
zerspringen.
Sie stand auf, versuchte ein paar Schritte zu gehen. Aber ihre Beine
trugen sie nicht. Sie bemühte sich, den alten Haß auf Simon und die
anderen verfluchten Fischer wieder anzufachen. Und auch die Wut. auf
Jesus selbst, der den grausamen Tod einem Leben mit ihr vorgezogen
hatte.
Aber ihre Verbitterung war erloschen.
Plötzlich
hatte sie die letzte Begegnung mit den jüngern in einem dunklen Saal in
Jerusalem, wohin der Mann mit dem Wasserkrug sie geleitet hatte,
deutlich vor Augen. Die Sonne hatte sich einen Weg durch die hohen
Fenster gebahnt und Strahlen aus flimmerndem Staub in die Luft gewoben,
Wort war auf Wort gefolgt. Die Männer hatten sie gebeten: »Beschenke
uns mit den Worten, die Er zu dir gesprochen hat und die wir nicht
kennen.«
Jetzt
fiel ihr erst ein, daß die Männer geweint hatten. Merkwürdig, dachte
sie, wie hatte ich ihre Verzweiflung vergessen können? Und dann hörte
sie auch ihre eigene junge Stimme wieder:
»Der Herr ist mir erschienen, und ich habe ihn willkommen geheißen. Er
sagte: »Sei gesegnet, daß du bei meinem Anblick ohne Furcht bist.
Dort, wo dein Verstand ist, findest du den Schatz.«
Sie war so aufgeregt gewesen, daß sie nicht bemerkt hatte, wie die
Gesichter der Männer, die um den Tisch saßen, sich verfinsterten.
Unverdrossen erzählte sie weiter von dem, was Er gesagt hatte: »Seid
guten Mutes, der Menschensohn ist mit euch. Folgt ihm nach, wer ihn
sucht, wird ihn finden. Macht keine Gebote aus dem, was ich euch gesagt
habe. Schreibt keine Gesetze nieder, so wie die Schriftgelehrten es
tun.«
Sie
hatte noch lange weitergesprochen, vom Tode und alldem, was die Menschen
überwinden müssen, während die Seele noch in ihrem Körper wohnt —
Zorn, Begierde und Unwissenheit. Sie hatte ein Zwiegespräch zwischen
Körper und Seele wiedergegeben: Der Körper sagt: >Ich habe dich
nicht gesehen.< Und die Seele antwortet: >Ich habe dich gesehen.
Aber du hast mich nicht erkannt.< »Ich habe ihn gefragt: >Was ist
die Sünde der Welt?<, und Er hat. mir geantwortet: >Die Welt ist
ohne Sünde. Ihr Menschen erschafft sie, indem ihr die Wirklichkeit
verfälscht.<
Das
war der Augenblick, in dem Simon Petrus gerufen hatte: »Das sind
eigentümliche Lehren«, und sich an die anderen wandte. »Ich glaube
nicht, daß der Herr solche Worte gesprochen hat. Warum sollte Er so
etwas sagen. wenn er allein mit einer Frau ist, anstatt sich uns zu
offenbaren.«
»Mein Bruder Petrus. Glaubst du, ich könnte, was den Herrn betrifft,
lügen?«
Hier im Bett ihres Zimmers in Antiochia konnte sie endlich weinen. Als
das erste Morgenlicht den Himmel färbte, verfiel sie in einen unruhigen
Schlaf, in dem sie Bilder von Wanderungen um den blauen See sah, Als sie
aufwachte und die Last wie Steine im Magen spürte, war schon lange Tag.
Aber das Herz schlug, wie es sollte, und ihre Gedanken waren klar. Jetzt
wußte sie, daß sie den ganzen Weg noch einmal gehen mußte, daß sie
sich, von Nesseln gebrannt und von Ruten gepeitscht, auf verwachsenen
Pfaden durchkämpfen mußte.
Sie
stand auf. Als sie sich wusch, war sein Lächeln ihr nahe. Er munterte
sie auf.
»Aber ich bin doch nur ein Mensch«, sagte sie laut.
Dann
setzte sie sich, um zu beten, und wandte sich dabei direkt an den
Menschensohn. »Ich habe endlich verstanden, daß du mich mit der Liebe
geliebt hast, die alle Menschen einschließt. Mich hat nur das ständige
Gerede der Jünger verwirrt, darüber, wen von ihnen du wohl am meisten
liebtest.
Du hast geliebt. Und vielleicht hast du mir gegenüber Dankbarkeit
empfunden, weil ich dich die körperliche Liebe lehrte und damit dein
Wissen von den Lebensbedingungen der Menschen vertieft habe. Deine
Mutter hat versucht, dir das Unvermeidliche des Lebens zu vermitteln,
aber du hast nicht auf sie gehört. Auf mich hast du gehört. Mit deinem
Körper.
Gott im Himmel, wie einsam du warst.
Ich habe dazu beigetragen, daß du ein Mensch wurdest. Die Welt der
Schatten hast du erst am Kreuz kennengelernt.
Ich erinnere mich, daß du oft erstaunt warst: >Wie kann man den
Splitter im Auge des Bruders sehen, aber den Blick vor dem Balken im
eigenen Auge verschließen.<
Ich
hätte dir sagen können, wie groß die Angst sein kann. Aber ich war
damals erst zwanzig Jahre alt. Und eine Hure.«
Lesezitat nach Marianne Fredriksson - Maria Magdalena
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