Gelbe Strahlen erleuchteten die glatte, graue Meeresoberfläche im Hafenbecken, und im Ort herrschte Grabesstille. Nur der Rauch aus den Häusern, die zum Teil halb versteckt in den Lavamulden kauerten, deutete darauf hin, dass manche bereits auf den Beinen waren. Die Uhr am Kirchturm zeigte gut zehn, und bald würden sich die Männer mit Schlägermützen und in abgewetzten Sonntagsanzügen am Hafen einfinden und mit den Händen in den Hosentaschen die alte Leier über
mageren Fischfang, Reaktionäre und die verdammten Kommunisten anstimmen.
Die Möwen am Ufer kreischten laut an diesem Auferstehungstag des Gottessohnes, und Aggas Magen rumorte, als hätte sich dort ein Poltergeist eingenistet. Dass die Übelkeit von dem riesigen Schokoladenosterei herrühren könnte, das sie sich noch vor Sonnenaufgang einverleibt hatte, kam ihr nicht in den Sinn, sie glaubte eher an das Vorzeichen, spürte aber das Bedürfnis, aufzustoßen oder sich über einen Küchenhocker zu legen, um sich von Blähungen und Bauchschmerzen zu befreien. Sie trottete den alten Steinpier wieder zurück, über die Brücke, die über den Bach führte, und hielt sich bis nach Hause den Bauch. Unterwegs hörte sie aus einiger Entfernung das Klappern von hochhackigen Schuhen, war aber zu sehr mit ihren Bauchschmerzen beschäftigt, um es zu beachten. Es war ihr so egal, dass sie sich nicht einmal umdrehte, um zu sehen, wer schon so früh am Ostersonntag unterwegs war. Sie war bereits zu Hause am Gartentor angelangt, als ihr bewusst wurde, dass die Frau ihr die ganze Zeit auf den Fersen gewesen war. Da endlich drehte sie sich um.
Als sie in eisblaue Augen blickte, erinnerte sie sich undeutlich an ein Foto und an die Beschreibung einer Frau, von der Kidda und Großmutter gesprochen hatten. Einer Frau, die angeblich eine Figur wie eine Coca-Cola-Flasche hatte, eine Haut wie Alabaster und Augen wie Diamanten, dunkles Haar und Lippen wie Schneewittchen. Eine Offenbarung, hatten sie gesagt. Die Frau, die dort mit halb geschlossenen Augen vor ihr stand, das aufgesteckte Haar unter dem Hut verborgen, gertenschlank und langbeinig, konnte deswegen durchaus eine Offenbarung sein. S. 7-8
Ein Haus voller Frauen
Agga fand es merkwürdig, morgens mit dieser neuen Frau im Haus aufzuwachen.
Der Duft ihrer Kleider und Schönheitsmixturen erfüllte die Sinne und übertrumpfte den allgegenwärtigen Geruch von Bohnerwachs. Allerdings war sie sich aber nicht sicher, was ihr lieber war.
Nach den Osterfeiertagen wurde sie mit Kanne und Geldbörse in den Milchladen und ins Fischgeschäft geschickt. Die Schwestern waren frühmorgens zur Arbeit gegangen, Dódó in die Bäckerei und Ninna ins Altersheim, und auch bei Kidda, die im Kühlhaus arbeitete, hatte die Arbeit nach dem Trawlerstreik wieder begonnen.
Tauwetter hing über dem Dorf, es war weder Winter noch Frühling, und der Rauch aus den Schornsteinen kräuselte sich kraftlos zum Himmel. Es war bewölkt und grau. Unter der Brücke rauschte der Bach, und die Enten auf dem Teich scharten sich um eine Gruppe von Kindern, die sie mit altem Brot fütterten und keine Ahnung davon hatten, dass eine Frau in den Ort gekommen war, die kein Fleisch aß. Aber Agga war entschlossen, ihrem Freund, dem Wachtmeister Magnús, von der Frau zu erzählen, die gerade aus Amerika gekommen war, kein Fleisch aß, sieben Koffer voller Kleider mitgebracht hatte ... S. 24
"Du kannst doch nicht ewig auf den Prinzen warten", sagte Oma und hatte ganz und gar vergessen, dass sie selbst gewartet hatte, bis sie dreißig war. Aber es war nicht einfach, Mädchen im heiratsfähigen Alter im Hause zu haben, denn das brachte nur Unruhe mit sich. Jetzt saß Oma mit drei Weibsbildern da, Agga nicht mitgezählt. Eine, der kein Mann gut genug war, eine, die spät oder nie heiraten würde, weil sie geistig zurückgeblieben war, und eine, die mit fünfundzwanzig schon Witwe war. Die Aussichten waren nicht gerade rosig, und Großmutter sagte immer wieder: Ich weiß nicht, wofür der Herrgott mich bestraft.
Auch wurde die Lage nicht dadurch besser, dass jeder, der ins Haus kam, die schlanke Taille von Freyja bewunderte. Es führte dazu, dass Dódó nur noch im Essen herumstocherte, anstatt wie früher herzhaft zuzulangen, und ihre Laune wurde immer mieser. Die anderen ließen sich durch Taillengeplänkel nicht irritieren und aßen nach Herzenslust, solange es noch Lebensmittelmarken und Waren in den Geschäften gab. Agga kam es mehr als spanisch vor, wie Madame es fertig brachte, von dem bisschen Vogelfutter existieren zu können, und beschloss, ihre Essgewohnheiten genauestens zu studieren. Was Freyja täglich vor aller Augen zu sich nahm, war ein Toastbrot mit Marmelade und eine Tasse Tee zum Frühstück .... S. 36
Lesezitate nach Kristín Marja Baldursdóttir - Möwengelächter