Die wichtigen Dinge im Leben geschehen immer zufällig. Mit fünfzehn wusste sie wenig, und über das meiste war sie sich von Jahr zu Jahr weniger im Klaren. Doch in einem war sie sich sicher: Man konnte sich abmühen, ein besserer Mensch zu wer-den, Ewigkeiten darüber nachgrübeln, wie man anständig und ehrlich lebte, sich etwas vornehmen, jede Nacht neben dem Bett knien und Gott versprechen, dass man sich daran halten würde; ja man konnte sogar zur Kirche gehen und ein richtiges Gelübde ablegen. Man konnte sich siebenmal mit geschlossenen Augen bekreuzigen, sich den Daumen anritzen und mit dem eigenen Blut einen heiligen Schwur auf einen Stein schreiben, den man Schlag Mitternacht in den Fluss warf. Und dann brach wie ein Falke, der aus dem Dunkel auf eine Ratte herabstößt, irgendeine Katastrophe über einen herein, die das Leben für immer veränderte und auf den Kopf stellte.
Später dachte Skye, dass der alte Falke an jenem Abend schon auf dem Dach gehockt und den richtigen Augenblick abgewartet haben musste, während er zusah, wie die Ratte sich noch ein wenig amüsierte, denn eigentlich hatte alles ganz unspektakulär damit begonnen, dass diese beiden Frauen in die Bar geschlendert kamen.
Sie wusste nicht, wer sie waren, aber was sie waren, war für jeden deutlich sichtbar. Sie trugen mehr Make-up als Kleidung, und die Art, wie sie auf ihren hohen Absätzen schwankten, ließ ahnen, dass beide schon beschwipst waren. Sie trugen enge, knappe Tops, das eine rot, das andere silbern mit Fransen. Die
schwarzhaarige Frau, die ihre Brüste präsentierte wie Melonen auf einem Regal, ging voran. Sie hatte einen derart kurzen Rock an, dass sie sich den auch gleich hätte sparen können. Sie machte im Gehen ein paar Tanzschritte zu der dröhnend lauten Musik und wäre beinahe hingefallen.
Die beiden Männer in ihrer Begleitung folgten dicht hinter ihnen und schoben die Frauen durch die Menge. Beide trugen Cowboyhüte, sodass Skye ihre Gesichter nicht sehen konnte. Es interessierte sie auch nicht. Sie war selbst ziemlich betrunken. In der Bar brannten nur noch einige rote Lampen, und durch die dichten Rauchschwaden erkannte sie lediglich ein paar Mittvierziger, die ihrer Jugend nachiagten und garantiert ihre Frauen betrogen. Skye wandte den Blick ab, nahm einen Schluck von ihrem Bier und zündete sich noch eine Zigarette an.
Sie beobachtete die vier vor allem deshalb, weil sie sich langweilte, was irgendwie traurig war, da sie heute Geburtstag hatte. Jed und Calvin saßen bekifft und stumm auf ihren Plätzen. Roxy hatte immer noch das Gesicht in den Händen vergraben und weinte wegen irgendetwas, das Craig zu ihr gesagt hatte, der seinerseits ununterbrochen darüber fluchte, dass sein Schrotthaufen von einem Auto liegen geblieben war. Wieder ein toller Abend in Fun-City, dachte Skye und genehmigte sich noch einen Schluck Bier. Happy Birthday!
Die Bar war ein gottverlassenes Loch, das so dicht an der Bahnstrecke lag, dass die Flaschen schwankten und klirrten, wenn ein Zug vorbeifuhr. Aus nahe liegenden Gründen machten die Bullen einen Bogen um den Laden, und solange man nicht noch Windeln trug, drückte das Personal beim Alkoholausschank an Minderjährige beide Augen zu. Deshalb war ein Großteil der Kundschaft etwa in Skyes Alter. Jedenfalls sehr viel jünger, als die vier, die gerade hereingekommen waren und jetzt am Tresen darauf warteten, bedient zu werden. Sie standen mit dem Rücken zu Skye, die sich erneut dabei ertappte, wie sie zu ihnen hinüberstarrte.
Sie beobachtete, wie die Hände des großen Mannes über die Hüften der Schwarzhaarigen auf ihren Hintern glitten und dann den Rücken hinauf zu ihren nackten Schultern wanderten, während er sich vorbeugte und mit den Lippen ihren Hals berührte. Mein Gott, er leckte sie ab. Manche Typen waren echt eklig. Und was war mit den Frauen? Wie konnten sie es ertragen, sich von solchen Idioten besabbern zu lassen? Sex und alles, was damit zusammenhing, war etwas, was Skye nach wie vor nicht begriff und wahrscheinlich nie begreifen würde. Klar tat sie es Jeder tat es. Aber sie konnte noch immer nicht verstehen, warum alle so ein Riesentheater darum machten.
Der Mann musste der Frau etwas Schmutziges ins Ohr geflüstert haben, denn sie warf den Kopf in den Nacken, lachte und versuchte kokett, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Der Mann lachte ebenfalls und wich dem Schlag aus. Dabei fiel sein Hut zu Boden, und Skye konnte zum ersten Mal sein Gesicht sehen.
Es war ihr Stiefvater.
In der kurzen Zeit, bevor sich ihre Blicke trafen, bemerkte sie einen Ausdruck in seinem Gesicht, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, beinahe jungenhaft, gelöst, fröhlich und seltsam zart. Dann entdeckte er sie, und der Junge in ihm verschwand ebenso schnell, wie er aufgetaucht war. Seine Miene verfinsterte sich, und seine Züge wurden hart, bis es wieder das Gesicht war, das sie kannte, fürchtete und verachtete, das Gesicht, das sie sah, wenn er spätnachts betrunken und wütend zurück in ihren Wohnwagen in dem Trailer-Park kam, ihre Mutter eine Indianerschlampe schimpfte und sie schlug, bis sie um Gnade winselte, und sich dann Skye zuwandte.
Er richtete sich auf, legte seinen Hut auf den Tresen und sagte etwas zu der Frau, die sich umdrehte und Skye mit einem ebenso gleichgültigen wie verächtlichen Blick musterte. Dann setzte er sich in ihre Richtung in Bewegung. Skye drückte ihre Zigarette aus und hoffte, dass er die Kippe nicht bemerkt hatte.
»Lass uns abhauen«, sagte sie leise.
Doch sie saß in ihrer Ecke fest. Auf der einen Seite schluchzte Roxy an Craigs Schulter und beachtete sie gar nicht, auf der anderen dämmerten Calvin und Jed weiter apathisch vor sich hin. Ihr Stiefvater kam an ihren Tisch und registrierte die Indizien: Bierflaschen, randvolle Aschenbecher und die beiden Zugedröhnten Penner, mit denen sie sich abgab.
»Was zum Teufel machst du hier?«
»Komm schon, ich hab heute Geburtstag.« Es war armselig, aber einen Versuch wert. Sie überlegte sogar, ihn »Dad« zu nennen, wie sie es für kurze Zeit nach der Heirat mit ihrer Mutter getan hatte, bevor offenbar wurde, was für ein gemeines, widerwärtiges Schwein er in Wirklichkeit war. Doch sie brachte das Wort nicht über die Lippen.
»Komm mir nicht mit dem Quatsch. Du bist erst fünfzehn! Was glaubst du, wo du hier bist?«
»Ach, was soll's, Mann. Wir haben doch bloß ein bisschen Spaß.« Es war Jed, der wieder zu sich gekommen war. Skyes Stiefvater beugte sich vor, packte ihn am Kragen und zerrte ihn über den Tisch.
»Du wagst es, so mit mir zu reden, du mieses Stück Scheiße?«
Unter Jeds Gewicht kippte der Tisch zur Seite, sodass alles in einer Lawine aus klirrendem Glas zu Boden fiel. Craig war aufgesprungen und versuchte, Skyes Stiefvater am Arm zu packen, doch der fuhr herum und schlug ihm mit der freien Hand frontal ins Gesicht. Roxy kreischte.
»Hör auf!«, brüllte Skye. »Hör auf, um Himmels willen!«
Sie bemerkte nicht, dass sämtliche Gäste der Bar sie anstarrten. Ein Kellner und der Mann, mit dem ihr Stiefvater gekommen war, eilten an ihren Tisch.
»Hey, Leute, ganz cool, ja?«, sagte der Kellner.
Skyes Stiefvater stieß Jed so heftig auf seinen Stuhl zurück, dass er mit dem Kopf gegen die Wand krachte. Craig kniete, aus dem Mund blutend, am Boden. Roxy beugte sich schluch~end über ihn und versuchte, ihm zu helfen. Skyes Stiefvater at
~ti~:chwer, er hatte die Augen zusammengekniffen und sah den Kellner finster an.
»Haben Sie diesen Kids Alkohol verkauft?«
Der Kellner hob beide Hände. »Bitte, Sir, wir wollen uns doch erst mal beruhigen.«
Er war ein schmächtiger Typ mit Pferdeschwanz, einen Kopf kleiner als Skyes Stiefvater.
»Haben Sie ihnen Alkohol verkauft? Ja oder nein?«
»Sie haben gesagt, sie wären einundzwanzig.«
»Und das haben Sie geglaubt? Haben Sie sie nach ihrem Ausweis gefragt?«
»Sir, könnten wir das vielleicht -«»Ja oder nein?«
Skye stand auf und drängte sich an den anderen vorbei.
»Wir gehen, okay? Wir gehen ja schon!«
Ihr Stiefvater fuhr herum und holte zum Schlag aus, und obwohl all ihre Instinkte ihr rieten, in Deckung zu gehen, rührte sie sich nicht von der Stelle und sah ihn wütend an. Sie konnte sein penetrantes Rasierwasser riechen, das so üble Erinnerungen in ihr wachrief, dass sie beinahe würgen musste.
»Wag es ja nicht, mich anzurühren.«
Es war kaum mehr als ein Flüstern, doch er erstarrte; vielleicht waren es auch all die auf ihn gerichteten Blicke, er ließ jedenfalls die Hand sinken.
»Komm du mir erst mal nach Hause, du kleine Indianernutte. Wir sprechen uns später.«
»Die einzigen Nutten hier sind die beiden, mit denen du reingekommen bist.«
Er wollte sich auf sie stürzen, doch sie entwischte ihm und stürmte zur Tür. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie sein Freund und der Kellner ihren Stiefvater an den Armen festhielten, um ihn daran zu hindern, ihr nachzulaufen. Sie stürzte hinaus in die Dunkelheit und rannte los.
Die Luft war immer noch warm und drückend. Sie spürte die Tränen auf ihren Wangen und ärgerte sich, dass das Schwein sie zum Weinen gebracht hatte. Ein Güterzug fuhr vorbei, und sie lief eine Weile neben ihm her. Der Zug schien nicht enden zu wollen, und wäre er nicht so schnell gewesen, Skye wäre einfach aufgesprungen und hätte sich forttragen lassen.
Sie rannte und rannte, wie sie es immer tat. Wohin war egal, weil es nirgendwo schlimmer sein konnte als hier. Zum ersten Mal war sie mit fünf weggelaufen und hatte es seither wieder und wieder versucht. Sie hatte jedes Mal Ärger bekommen, aber mit Ärger war sie vertraut.
Jetzt rannte sie wieder, bis ihre Lunge brannte. Als sie, die Hände auf die Knie gestützt, keuchend stehen blieb, fuhr der letzte Wagon des Zugs an ihr vorüber. Sie blickte seinen Rücklichtern nach, die immer kleiner wurden, bis die Dunkelheit sie verschluckt hatte. Irgendwo bellte ein Hund, ein Mann brüllte, er solle aufhören, doch der Hund gehorchte nicht.
»Mach dir nichts draus. Dann nimmst du eben den nächsten.«
Die Stimme ließ sie zusammenfahren. Es war ein Mann ganz in der Nähe. Skye sah sich in der Dunkelheit um. Offenbar war sie auf dem Hof eines verlassenen Holzlagers gelandet. Sie konnte ihn nirgends entdecken.
»Hier drüben.«
Er saß an einen von Unkraut überwucherten Stapel verrotten-der Zaunpfähle gelehnt auf dem Boden, als wäre er geradewegs der Erde entstiegen, so lang und verfilzt sahen Haar und Bart aus. Er war weiß, ein wenig älter als Skye und trug eine zerfetzte Jeans und ein T-Shirt mit einem aufgedruckten chinesischen Drachen. Neben ihm auf dem Boden lag ein von Staub bedeckter See-sack. Der Junge war damit beschäftigt, sich einen Jomt zu drehen.
»Warum weinst du?«
»Ich weine nicht. Und was geht dich das überhaupt an?«
Er zuckte die Achseln. Eine Zeit lang schwiegen beide. Skye wandte sich ab und versuchte, sich unbemerkt die Wange abzuwischen. Sie wusste, dass es besser war zu verschwinden. Bei den
Gleisen hingen alle möglichen Freaks und Verrückten rum. Doch eine Sehnsucht nach Trost oder Gesellschaft ließ sie bleiben. Sie sah ihn erneut an. Er leckte das Zigarettenpapier ab, klebte den Jomt zu, zündete ihn an und nahm einen tiefen Zug, bevor er ihn ihr reichte.
»Hier.«
»Ich nehme keine Drogen.« » Klar. «
Das Auto, das sie stahlen, gehörte anscheinend einer Familie mit kleinen Kindern, denn auf der Rückbank befanden sich zwei Kindersitze, und der Boden war mit Spielzeug, Bilderbüchern und Bonbonpapier übersät. Der Junge wusste offenbar, was er tat, denn er brauchte nur ein paar Minuten, um das Türschloss zu knacken und den Motor zu starten. Nach ein paar Meilen hielten sie an, um die Nummernschilder gegen die eines anderen Autos auszutauschen.
Er sagte, sein Name sei Sean, und sie nannte ihm den ihren, und das war alles, was sie voneinander wussten; das und vielleicht ein gemeinsames Gefühl der Verletzung und Sehnsucht, das nicht ausgesprochen werden musste. Sonst schien nichts wichtig, nicht, wohin sie fuhren, und auch nicht, warum.
Er lenkte den Wagen nach Norden bis zur Interstate und dann an einem Fluss entlang weiter nach Westen, während sich hinter ihnen langsam die Morgendämmerung über die endlose Prärie breitete. Lange Zeit schwiegen sie. Skye drehte sich um und wartete, dass die Sonne aufging. Als sie sich endlich am Horizont zeigte, tauchte sie das Land in ein tiefes Rot, Violett und Gold, und die Sträucher, Felsen und Tierherden, die am Flussufer grasten, warfen lange Schatten. Skye dachte, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so Schönes gesehen hatte.S. 9-15
Lesezitate nach Nicholas Evans - Feuerspringer