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aus Jana Hensel: die standardisierte Wohnküche der DDR-Zeit
... die Küchen in den Neubauwohnungen
Auszug aus dem Buch von Jana Hensel


Touristin im eigenen Leben
Jana Hensel - Zonenkinder

ie Autorin Jana Hensel wurde 1976 in Leipzig geboren. Als 1989 die Mauer fiel, war sie fünfzehn. Ihre Situation zu dieser Zeit fasst sie selbst so zusammen: "Die Wende traf uns wie ins Mark. Wir waren gerade zwölf, dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Sie fuhr uns in die Knochen und machte, dass sich alles um uns drehte. Wir waren zu jung, um zu verstehen, war vor sich ging, und zu alt, um wegzusehen, und wurden unserer Kindheitswelt entrissen, bevor wir wussten, dass es so etwas überhaupt gab."

aus Jana Hensel: die Fünf-Mark-Treter In ihrem autobiografischen Bericht gibt Jana Hensel ihrer Generation eine Stimme und versucht in "Zonenkinder" ihre Kindheit in der DDR zu erinnern, denn diese Welt lebt tatsächlich nur noch in den Köpfen. So gleicht es einer Art Poesiealbum, angereichert mit Notizzetteln, Ausrissen aus Schulheften und Fotografien. Dort findet sich zum Beispiel Werbung von Tchibo in Leipzig unter dem Motto "Die Revolution geht weiter. Grenzenlos günstige Kaffeepreise." Oder ein Foto von den gängigen "Fünf-Mark-Treter", die "keinen Namen und keine Herkunft hatten und jeder sie kannte, jeder sie trug." Natürlich nicht zu vergleichen mit den begehrten Adidas Schuhen aus dem Westen.

Die Lehrer ließen diese Generation im Stich, denn sie mussten sich selbst mühevoll in einer neuen Welt zurechtfinden, in der es völlig andere Lehrpläne, unbekannte Notensysteme und komplett andere Leistungsanforderungen gab.

Und die Eltern? Auf sie konnten die jungen Leute, gerade frisch in der Pubertät eingetroffen, auch nicht zählen. "Ihre Erfahrungen schienen nutzlos geworden, nutzlos für uns jedenfalls, sodass wir gut auf sie verzichten konnten."

Jana Hensels Ausführungen wurden von Gleichaltrigen aus dem Osten heftig angegriffen: zu viel Glorienschein. Doch bislang hat diese Erlebnisse noch niemand in solch aufrüttelnder Weise festgehalten. "Weil unsere Kindheit ein Museum ohne Namen ist, fehlen mir die Worte dafür; weil das Haus keine Adresse hat, weiß ich nicht, welchen Weg ich einschlagen soll." Die richtigen Worte hat Jana Hensel durchaus gefunden. Und ein wenig Glanz dürfen Kindheitserinnerungen haben - davon leben sie schließlich.
manuela haselberger


Jana Hensel Jana Hensel - Zonenkinder
Übersetzt von Ost- in Westdeutsch:
Jana Hensel ;-)
© 2002, Reinbek, Rowohlt Verlag, 175 S. 14.90 € (HC)
© 2003, DAV Verlag, 175 S. 19.95 € (CD)
© 2004, Reinbek, Rowohlt Verlag, 175 S. 8.90 € (HC)


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Das schöne warm. Wir-Gefühl
Über unsere Kindheit

Am letzten Tag meiner Kindheit, ich war dreizehn Jahre und drei Monate alt, verließ ich gemeinsam mit meiner Mutter am frühen Abend das Raus. Es war bereits dunkel, man sah den Atem vor dem Gesicht, Nieselregen fiel vom Himmel. Ich musste hohe Schuhe, Strumpfhosen und zwei Pullover unter meinen blauen Thermoanorak ziehen und niemand wollte mir so richtig sagen, wo es hingehen sollte. Auf dem Weg zur Straßenbahn, den wir immer liefen, um in die Leipziger Innenstadt zu kommen, mussten wir über ein Bahngelände, und ich weiß nicht mehr, ob ich es mir heute einbilde oder ob wir tatsächlich keinem Menschen begegnet sind und ob ich damals schon dachte, dass der Regen, den man nur im gelben Licht der Laternen erkennen konnte, sehr schön aussah, wie er da so ruhig und gleichmäßig vor sich hin fiel.
In der alten Straßenbahn, deren Türen man mit der Hand aufziehen musste und die sich nie richtig schließen ließen, sodass der Wind eiskalt hereinpfiff, während man sich auf den beheizten Ledersitzen den Hintern verbrannte, waren alle Leute so komisch dick angezogen, als gäbe es an diesem Abend ein Fußballspiel oder ein Feuerwerk. Ein paar Frauen hatten Ohrenschützer, die man seit kurzem auch in unseren Läden kaufen konnte, über den Kopf gezogen, andere selbst gestrickte Stulpen an den Füßen, und seltsamerweise hatte niemand eine Tasche bei sich. Als nach einigen Stationen der Fahrer die vorderste Tür des Wagens aufzog und rief, dass die Bahn jetzt hier halten und nicht mehr weiterfahren würde, stiegen alle aus und liefen, ohne dass jemand ein Wort gesagt hätte, weiter in die Innenstadt, so als hätten heute Abend alle dasselbe Ziel.

Später, am Ziel, das mir immer noch niemand wirklich nennen konnte, waren viele Leute dicht zusammengedrängt und strebten zur Nikolaikirche und vor die Oper, auf den Karl-Marx-Platz. Dass man hier vereinzelt Transparente und Plakate ausmachen konnte und dass sich alle, als gäbe es einen unsichtbaren Regisseur, zu einem Zug formierten und den Ring entlangzogen und dass das der Anfang vom Ende war, das kennt man aus dem Fernsehen. Ich weiß selbst auch nicht mehr genau, was ich mit eigenen Augen und was ich, an diesem Abend zum ersten und dann unzählige Male später, in den Tagesthemen sah. Fest eingeprägt allerdings habe ich mir - und das weiß ich vielleicht deshalb noch, weil ich es nie jemandem erzählt habe -, dass ich den Studenten, der ziemlich lange neben mir lief, gern an der Hand gefasst hätte und die Soldaten, die am Straßenrand auf uns aufpassen mussten, gern gefragt hätte, ob sie nicht mit zu uns rüberkommen wollten, wir seien doch viel mehr als sie.

Stattdessen lief ich brav zwischen dem Studenten und meiner Mutter den Ring entlang und dachte wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, dass mit dem Land, das immer meine Heimat gewesen war, gerade etwas geschah, von dem ich gar nicht wusste, was es war, und dass gewiss kein Erwachsener mir erklären konnte, wohin es führen würde. Hätte der Student neben mir gesagt: Dies hier sei erst der Anfang, künftig würden von Montag zu Montag mehr Leute auf den Straßen zu finden sein, und all das würde dazu führen, dass die Mauer fallen und unser Land bald verschwinden und alles mitnehmen werde, sodass nichts mehr von ihm übrig bliebe, dann hätte ich ihn bestimmt verwundert angeschaut und im Stillen bei mir gedacht, unser Land könne das ruhig versuchen. Doch nie im Leben werde es das schaffen.

Heute sind diese letzten Tage unserer Kindheit, von denen ich damals natürlich noch nicht wusste, dass sie die letzten sein würden, für uns wie Türen in eine andere Zeit, die den Geruch eines Märchens hat und für die wir die richtigen Worte nicht mehr finden. Eine Zeit, die sehr lange vergangen scheint, in der die Uhren anders gingen, der Winter anders roch und die Schleifen im Haar anders gebunden wurden. Es fällt uns nicht leicht, uns an diese Märchenzeit zu erinnern, denn lange wollten wir sie vergessen, wünschten uns nichts sehnlicher, als dass sie so schnell wie möglich verschwinden würde. Es war, als durfte sie nie existiert haben und als schmerzte es nicht, sich von Vertrautem zu trennen. Eines Tages schlossen sich die Türen dann tatsächlich. Plötzlich war sie weg, die alte Zeit.

Heute, mehr als zehn Jahre später und nach unserem zweiten halben Leben, ist unser erstes lange her, und wir erinnern uns, selbst wenn wir uns anstrengen, nur noch an wenig. Ganz so, wie unser ganzes Land es sich gewünscht hatte, ist nichts übrig geblieben von unserer Kindheit, und auf einmal, wo wir erwachsen sind und es beinahe zu spät scheint, bemerke ich all die verlorenen Erinnerungen. Mich ängstigt, den Boden unter meinen Füßen nur wenig zu kennen, selten nach hinten und stets nur nach vorn geschaut zu haben. Ich möchte wieder wissen, wo wir herkommen, und so werde ich mich auf die Suche nach den verlorenen Erinnerungen und unerkannten Erfahrungen machen, auch wenn ich fürchte, den Weg zurück nicht mehr zu finden.

Als nach dem Mauerfall zuerst die Bilder von Erich Honecker und Wladimir Iljitsch Lenin aus den Klassenzimmern verschwanden, gab es lange kein anderes Gesprächsthema. Tagein, tagaus hatten wir die Männer angeguckt wie das Testbild im Fernsehen, doch erst als sie nicht mehr da waren, fielen sie uns plötzlich auf. Wann der Milchdienst ging, wann jeder seine Milchtüte allein beim Hausmeister kaufen und nicht wie früher den ganzen Monat im Voraus bezahlen musste, weil das markt-wirtschaftlich betrachtet uns Neukunden eher hätte abschrecken können, habe ich dann schon gar nicht mehr bemerkt. Ich weiß noch, dass es ein Ritterschlag gewesen war, wenn man es zum ersten Mal hinbekommen hatte, so in der zweiten oder dritten Klasse, den glibberigen, immer leicht stinkenden Beutel hinter dem Rücken der Lehrer lässig mit zwei Zähnen aufzureißen und direkt aus der Öffnung zu trinken, während die anderen noch ihren Kindergartenstrohhalm benutzen mussten.
Ich erinnere mich nicht, wann es plötzlich keine Samstage mehr gab, an denen wir in die Schule gehen mussten. Nachdem die meisten Mitschüler es vorgezogen hatten, mit ihren Eltern in den Westen zu fahren, um das Begrüßungsgeld abzuholen, und bestenfalls noch die halbe Klasse in die Schule kam, hatten irgendwann auch die Lehrer die Nase voll und wollten endlich ihre 100 DM abholen. Da musste man die Samstage gar nicht erst abschaffen; sie verschwanden einfach, ohne ein Wort zu sagen. Die Dienstagnachmittage bald danach, denn ohne AG Popgymnastik, Junge Historiker, Schach oder Künstlerisches Gestalten waren sie sowieso ein bisschen funktionslos geworden.
S.11-15


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22.3.03
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© 29.1.2003

by Manuela Haselberger
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