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Helden des Alltags
Wladimir Kaminer und Helmut Höge - Helden des Alltags

aum einer ist vor der messerscharfen Beobachtung Wladimir Kaminers sicher. Zumindest niemand in seiner näheren Umgebung. Im neuen Buch "Helden des Alltags" beobachtet er Menschen bei ihren ganz normalen Tätigkeiten: Menschen, die sich etwas erzählen, Menschen, die lesen, Menschen, die kämpfen und gleich in seinem Zitat am Anfang des Buches macht Kaminer deutlich, dass er sich auf keinen geringern als Lenin bei seinen Notizen stützt: "Nicht der reaktionäre Professor, der einfache Mensch ist unser Held."

So lässt ihn seine russische Vergangenheit auch nicht ruhen, obwohl er am Prenzlauer Berg, in der Schönhauser Allee in der Zwischenzeit heimisch wurde. Der Onkel aus der Ukraine, der für sein Leben gern feiert und am liebsten gar nicht mehr damit aufhören möchte, findet bei Kaminer ebenso seinen Platz wie die neue Babyborn - Puppe seiner Tochter. Egal, ob es um die neue Erlebnispädagogik in Sibirien geht oder um einen Besuch seiner Mutter, die mit Hingabe den Kühlschrank inspiziert und sich selbst von großen Stücken "schwarzbraunen Schimmels" nicht abhalten lässt, ihrem Sohn ein wenig "Kühlschrankmanagement" beizubringen.

Ergänzt werden Kaminers Ausführungen, die er in seinem bekannt nüchternen, klaren Stil schildert und mit einem leichten ironischen Ton unterlegt, von Fotografien, die Helmut Höge sammelte. Zumeist sind es Polaroids aus den fünfziger Jahren, die Höge auf Trödelmärkten zusammengetragen hat. Längst leben die meisten Personen auf diesen Bildern nicht mehr, doch die Atmosphäre von damals vermitteln sie ausgezeichnet. Zugegeben, nicht immer passen die Fotos zu den Texten Kaminers, vor allem dann nicht, wenn er über die Gegenwart schreibt. Doch wer möchte schon, nachdem von den Menschen von damals nur die Bilder übrig geblieben sind, diese auf den Müll werfen?

"Helden des Alltags" ist ein gelungenes Gemeinschaftsprojekt über unser alltägliches Leben, unsere kleinen Sorgen und Unannehmlichkeiten, unsere Attitüden und Blasiertheiten. Und wenn das alles einmal zu Papier gebracht ist, kann man sogar darüber lachen.
manuela haselberger


Wladimir Kaminer und Helmut Höge - Helden des Alltags
s/w- Fotografien

© 2002, München, Goldmann Manhattan, 159 S., 14.90 € (HC)





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Menschen beim Feiern

Einmal verschlug mich das Schicksal an die Spree. Dort, an der Ecke Schiffbauerdamm/Albrechtstraße, feierten die Neuberliner Bundesbeamten aus dem Rheinland in den dortigen Kneipen Ständige Vertretung und Zum Kölner sowie in einem Hinterhof-Festzeit ihren Karneval. Immer wieder kamen lustig verkleidete Männer und Frauen aus dem Zelt an die frische Luft, sahen sich vorsichtig um und griffen sich dann hinter einigen Baustellenabsperrungen Bierbüchsen und kleine Schnapsflaschen, die sie dort deponiert hauen. Gierig nahmen sie ein paar Schlucke und stürzten sich dann erneut ins Getümmel, um weiter ihre sinnlose Polonäse zu tanzen und wildfremden Menschen um den Hals zu fallen.

Diese Szene erinnerte mich an meinen Onkel. Jemand, der schlau genug ist und Durst hat, findet immer einen guten Grund zum Feiern.
Mein Onkel zum Beispiel, der in einem kleinen ukrainischen Kaff arbeitete, war ein sehr lebenslustiger Mensch. Als junger Mann hatte er einmal an den großen Feierlichkeiten anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der großen sozialistischen Oktoberrevolution teilgenommen. Dieses Fest beeindruckte ihn so tief, dass er danach nicht mehr aufhören konnte zu feiern. Immer wieder versuchte er, zum normalen Alltag zurüc kzukehren, allein zwei Mal machte er eine Entzugstherapie, aber alles war umsonst. Mein Onkel war zum Feiern geboren, so wie andere Menschen zum Arbeiten oder zum Fliegen geboren sind. Er konnte nirgendwo auf Dauer arbeiten, wurde stets vorzeitig entlassen und gründete keine Familie. Da war er der lustigste Mensch in der ganzen Stadt, und alle mochten ihn.

Er lebte zusammen mit einer dicken Katze und einem sprechenden Papagei und hatte jeden Tag ein paar wichtige Gründe zum Feiern. Ihm fiel immer was ein. So konnte er bei der Nachbarin anklopfen und erzählen, seine liebe Katze habe heute Geburtstag, nun sitze sie den ganzen Tag in der Ecke und sei ganz traurig, weil keiner mit Geschenken vorbeikomme. Und er sei ausgerechnet heute knapp bei Kasse. Ob die Nachbarin ihm vielleicht einen Fünfer borgen könne, damit er in der Lage sei, ein paar anständige Geschenke für seine Katze aufzutreiben? Die Nachbarin gab ihm das Geld. Er ging sofort los und kaufte zwei Flaschen billigen moldawischen Portwein der Marke Laubfall, im Volks- mund »V-Patron« genannt, wegen der ungewöhnlichen Form der Flasche, die einer Bombe ähnelte. Außerdem kaufte mein Onkel noch zweihundert Gramm Konfekt und einen Fisch für die Katze. Sie hieß Susanne und wusste wahrscheinlich nicht einmal, wann sie wirklich Geburtstag hatte, freute sich aber trotzdem immer, wenn sie ein Geschenk bekam. Sie fraß den Fisch, mein Onkel leerte die Flaschen, der Papagei sagte: »Zum Wohl«, viel mehr konnte er nicht. Im Fernsehen spielte ein symphonisches Orchester »Bilder einer Ausstellung«. Das Leben meines Onkels war eine unablässige Abfolge von Festen, die nicht nach dem Kalender, sondern nach Lust und Laune gefeiert wurden.


Lesezitat nach Wladimir Kaminer und Helmut Höge - Helden des Alltags


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