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Ungleiche Schwestern
Francesca Marciano - Casa Rossa

it ihrem Roman "Casa Rossa", das rote Haus, erzählt die gebürtige Italienerin Francesca Marciano eine breit aufgefächerte Familiengeschichte. Es ist ein richtiger Schmöker mit schillernden Figuren, die es dem Leser leicht machen, ein wenig ihr Leben zu teilen.

Halt und Stütze in der Welt der Bohème, denn keines der Familienmitglieder geht einer geregelten Arbeit nach, bietet das von Großvater Lorenzo erworbene Haus in Apulien, Casa Rossa. Als Maler hat er sich in die Landschaft, das Licht und die halbverfallene Ruine verliebt und sich hierher zurückgezogen, um Ruhe vor dem hektischen Rom zu finden oder auch Zuflucht, als ihn seine Frau verlassen hat und mit einer wunderschönen Deutschen abreiste. Ausgerechnet mit einer Deutschen in der Zeit des Krieges. Das gibt jede Menge Anlass für Gerüchte und riecht nach Verrat.

Es sind die Frauen, die auch die weiteren Geschicke der Familie bestimmen. Alba, die Tochter Lorenzos, die bei der Wahl ihrer Männer keine besonders glückliche Hand hat, bringt zwei Töchter, Alina und Isabella zur Welt. Als ihr erster Ehemann sich das Leben nimmt, um aus einer zermürbenden Ehe zu fliehen, wird sie von ihren beiden Kindern lange am Tod ihres Vaters für schuldig befunden. Doch auch das Leben von Alina und Isabella, die beide in ihrer Kindheit unzertrennlich waren, entwickelt sich in sehr konträre Richtungen.

Alina gelingt es nur knapp, nicht in die Drogenszene abzugleiten und in Amerika ein Stück eigenes Leben aufzubauen, während das Engagement Isabellas immer weiter in terroristische Kreise abgleitet. Und dann kommt der alles verändernde Anruf: Isabella wurde von der Polizei festgenommen. Es wird ihr der Mord an einem bekannten Richter vorgeworfen.

Ganz am Ende ist es an Alina den Schlussstrich zu ziehen, das alte Haus zu entrümpeln und zu verkaufen. Ein schmerzvoller Prozess. "Ein Ort, den du liebst müsste zu existieren aufhören, wenn du nicht mehr da bist, oder noch besser in Trümmer zerfallen."

Francesca Marciano nimmt ihre Leser mit in das Leben des 20. Jahrhunderts in Italien, es ist die Zeit der Roten Brigade und die Entführung und Ermordung Aldo Moros. Und sie spart auch nicht an großen Gefühlen, da bietet sie von Eifersucht, Hass bis zu bedingungsloser Liebe das komplette Programm. Dass hier und da ein wenig Kitsch dazwischengerät, das gehört einfach zum italienischen Ambiente.
Ein Roman zum Eintauchen.
manuela haselberger


Francesca Marciano - Casa Rossa
Originaltitel: »Casa Rossa«, © 2002
Übersetzt von Barbara Schaden

© 2002, München, Blessing Verlag, 445 S., 24.90 € (HC)
© 2002, Hamburg, Hoffmann und Campe, 4 CDs., 29.90 € (CD)
© 2002, Hamburg, Hoffmann und Campe, 4 MCs., 29.90 € (MC)





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Als wir klein waren, meine Schwester lsabella und ich, fragten wir uns immer, ob Alba unseren Vater ermordet hatte.
Und sich dann diese Selbstmordgeschichte ausgedacht hatte.
Wir beide in der Küche, auf der Suche nach etwas Essbarem, zwei magere Mädchen, zehn und zwölf Jahre alt. Ermordet. Wir ließen diese Möglichkeit im kaum schweben und warteten, ob irgendetwas einstürzte oder zerbarst, aber es rührte sich nichts. Das Haus blieb vollkommen still.

»Aber das wird sowieso keiner je wissen«, sagten wir, uni die Sache zu beenden. Wir wollten es eigentlich auch gar nicht wissen. Falls sie es wirklich getan hatte, würde sie früher oder später abgeholt und eingesperrt.
Es war ohnehin schon schlimm genug, wie es war - Papa verschwunden wie eine Karte bei einem Zaubertrick.
Wir hörten den Schlüssel in der Tür. Sie kam lächelnd herein, in Sandalen und ihrem grünen Kleid, die Arme voller Lebens-mittel. Das war sie: Alba. Unsere Mutter. Die Mörderin.
»Wollt ihr ein Schinkensandwich, meine Süßen?«
Als wir so klein waren, veränderte alles ständig seine Proportionen: Das wirklich Gefährliche schrumpfte zusammen, rollte sich zu einer Kugel, die wir uns zuwerfen, sorgfältig betrachten und fallen lassen konnten, sobald sie uns langweilig wurde. Es war ein stillschweigendes Abkommen zwischen meiner Schwester und mir. Weiterleben, überleben.
Dieses Sandwich essen.


Vorsichtig jetzt. Pass auf, was du tust.
Du starrst dieses Wohnzimmer an und denkst, du wirst diese Aufgabe nicht bewältigen. Seine Ordnung aufzubrechen erscheint dir wie ein Frevel, wie die Verwüstung eines Tempels.
Wie lang hat dieser dunkelrote Sessel gegenüber dem zerschlissenen Sofa gestanden, gleich neben dem bemalten Lampenschirm? Wie viele Jahre hat der verblichene Teppich auf diesen Steinfliesen gelegen? Seit wann hängt Renées Bild an der Wand? Wie lange hat die Opalglasvase auf dem Kaminsims gestanden?
Mein Großvater hat das Haus Ende der zwanziger Jahre erstanden. Damals war es ein heruntergekommenes Bauernhaus, keiner wollte es haben. Meine Mutter ist hier aufgewachsen. Meine Schwester und ich ebenfalls.

Seit über siebzig Jahren war dieses Haus, die Casa Rossa, unser Familiensitz.
Ich kenne seinen Geruch, wie ich den Geruch von gemähtem Gras kenne. Sein Grundriss ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, ich kann mich mit verbundenen Augen darin bewegen.
Warum dachte ich, das alles werde für immer so bleiben, und ich könnte jederzeit zurückkommen und den Sessel, das Sofa, den Teppich und das Bild an Ort und Stelle wieder finden? Auf diese Weise konnte ich die verschiedenen Momente, die meinen Werdegang mitbestimmt haben, in Gedanken immer wieder neu inszenieren.
Wie den Tag, als Renée meinem Großvater auf dem Rohrstuhl Modell saß und ihm, während er sie wieder einmal malte, von Muriel erzählte. Den Sommertag, an dem Oliviero zum Essen kam und unter der Pergola im Innenhof saß und sich in meine Mutter verliebte. Die Nächte, in denen meine Schwester schlaflos im Bett lag, eingehüllt in ihren Hass, und sich vor jedem Geräusch fürchtete. Oder den Abend, an dem ich Daniel Moore zum ersten Mal hierher mitnahm. Ich öffnete die Tür und zeigte ihm dieses Zimmer. Diesen Teppich, dieses verblichene Sofa, diesen vergilbten Lampenschirm. Das Zimmer roch nach Holzfeuer. »Das ist es«, sagte ich.

Ich hoffte, es würde für immer so bleiben, damit ich mir, wenn ich zurückkam und alles genau so vorfand, wie ich es verlassen hatte, einreden konnte, ich hätte meine Geschichte an einem sicheren Ort verwahrt. In einem Schrein, wo nichts verloren ging. So wie Gebete in einer Kirche nie verloren gehen. Man kann jederzeit wiederkommen und eine neue Kerze anzünden.

Während ich durch das Erdgeschoss der Casa Rossa gehe, von der geräumigen Küche hinüber ins Wohnzimmer, dann durch die breite Holztür ins Atelier meines Großvaters, sehe ich mich um, zähle meine Schritte, markiere mein Territorium, als wäre es das allerletzte Mal. Und was soll ich sagen - es stimmt. Es ist das allerletzte Mal.

Ich führe Selbstgespräche - wie immer, wenn ich Angst habe. Vorsichtigjetzt. Pass auf, was du tust. Alles, was du tust, wird endgültig sein und überraschend schnell. Die Möbelpacker werden kommen und auf ein Zeichen von mir warten. Dann werden sie den Tisch hochheben, dann das Sofa, werden den Teppich aufrollen und das Bild von der Wand nehmen. Sie werden die Möbel in Decken wickeln und mit Seilen verschnüren. Sie werden den vertrauten Formen die Augen verbinden und die Luft abdrücken und sie im Lastwagen übereinander stapeln. Unter einer Decke wird eine Arnilehne hervorlugen, und der Fleck auf dem verblichenen Stoff wird Mitleid erregend aussehen. Die Kratzer am Tischbein, der kaum sichtbare Ring, den eine Tasse auf der Fläche hinterlassen hat: All diese Markierungen, die du so gut gekannt hast, werden gespenstisch wirken. Wie Narben. Früher hat man sie kaum beachtet. Aber jetzt wird es unmöglich sein, sie anzusehen, ohne sich zu schämen. Du wirst zugeben müssen, dass die Sachen sich in das verwandelt haben, was sie immer gewesen sind, was du aber nicht zur Kenntnis nehmen wolltest: in einen Haufen traurigen alten Plunder.

Sobald jedes einzelne Möbelstück und jede einzelne Kiste auf den Lastwagen geladen sind, wird dieses Haus, das an einem einzigen Vormittag leer geräumt wurde, wieder stumm sein. Eine weiße Leinwand, auf der jemand anderes seine Geschichte festhalten wird.
So schnell zerfallen unsere Erinnerungen.

* * *

Natürlich habe ich den Anruf bei der Möbelspedition vor mir hergeschoben. Wer täte das nicht? Es ist ja, als verabredete man einen Termin für seine eigene Hinrichtung und machte dann noch dem Henker Beine.

Stattdessen bin ich benommen durch die Zimmer gewandert, habe Oberflächen berührt, Dinge betrachtet. Jedes Mal wenn ich eine Schublade öffne oder in die Tiefe eines Schranks spähe, überrascht mich irgendein neues Fundstück, und ich muss mich erst einmal setzen, starr vor Verblüffung. Ich drehe und wende meinen Fund in den Händen, als erwartete ich, dass er mich anspricht. Aber meine Entdeckungen sind immer nur verstreute Bruchstücke, die für sich genommen nichts bedeuten. Ein staubiges altes Band (von einem Hut? Eine Geschenkschleife?), ein Zeitungsausschnitt aus den fünfziger Jahren, die Seite mit den Todesanzeigen (von wessen Tod erfahren wir hier?), ein einzelner hellblauer Seidenschuh, Rlaßgefertigt in Paris (von Renée?), ein winziges Schwarzweißfoto auf dem sich eine Gruppe junger Leute in Schwimmanzug im Stil der dreißiger Jahre auf einem Strand zusammendrängt (welcher ist mein Großvater?), eine einzelne Seite aus einem Brief
Es ist, als versuchte man die Geschichte einer ägyptischen Mumie anhand ihres Rings, einiger Glasperlen und Tonscherben, einer verblassten Inschrift nachzuzeichnen. Ja, sie war eine Kaufmannsgattin, nein, eine Pharaonenschwester oder vielleicht eine Hohepriesterin. Die Geschichte verlangt eine fortlaufende Handlung mit einem ordentlichen Anfang und einem ordentlichen Ende.
Dies ist jedoch keine Geschichte über das, was wir wissen, auch nicht über das, was wir besitzen.
Es ist eine Geschichte über das, was unterwegs verloren geht.

* * *

Zweimal am Tag ruft meine Mutter Alba aus ihrem Haus in Roni an. Sie will wissen, wie es mit dem Umzug vorangeht.
»Oh«, sage ich schwungvoll, »ich bin noch nicht ganz so weit. Ich muss noch die ganzen Schubladen oben in den Schlafzimmern durchgehen. Die vielen Papiere, die Fotos, du hast keine Ahnung, wie...«
»Stopf einfach alles in die Kisten«, fallt sie mir hastig ins Wort. »Du wirst nie mehr lebendig da rauskommen, wenn du dir alles ansiehst. Die Leute wollen nächste Woche einziehen!«
»Schon gut. Sie haben das Haus jetzt für ihr ganzes Leben, da können sie ruhig noch ein, zwei Tage warten. Übrigens habe ich dein Hochzeitskleid gefunden.«
»Ach du meine Güte!«
»Es sieht überhaupt nicht aus wie ein Hochzeitskleid. Ich habe es nur nach den Fotos erkannt.«
»Die hast du auch gefunden?«, fragt sie.
»Ja, es lag alles zusammen irgendwie wahllos in einer Kiste auf dem Schrank in deinem Zimmer. Darin waren Hüte, gedruckte Hochzeitseinladungen, ein Briefumschlag voller Bilder. Papa sieht aus wie ein bebrillter Wunderknabe, ein Mathegenie oder so was. Warum hast du nicht in einem langen weißen Kleid geheiratet?«
»Ach, ich weiß nicht. Es war eine ländliche Hochzeit ... ich wollte es schlicht halten.« Sie seufzt, verliert schon die Geduld mit mir. »Es, war ein hübsches Kleid, erinnere ich mich.«
»Knielang, mit weitem Rock. Mit gestickten Mohnblumen darauf So im Fünfziger-Jahre-Stil. Ich habe es an.«
»Tatsächlich?«
»Es passt mir kaum, aber wenn man dabei so was Nettes trägt, macht das die ganze Sache ein bisschen lustiger, finde ich.«
»AIina«, seufzt sie und verstummt. »Wird es dir nicht zu viel, wenn du das alles allein machen musst? Soll ich zu dir kommen? Ich könnte morgen in den Zug steigen, wenn du mich brauchst.»
Die Frage stellt sie mir zweimal am Tag, und in ihrem Ton schwingt die Befürchtung mit, ich könnte Ja sagen.
»Nein, ich komm schon zurecht. Du wärst mir nur im Weg, «

»Sicher? Ich komme unbedingt, wenn ... «
»Nein, wirklich. Ich genieße es sogar. Eigentlich ist es ... wie eine Art Therapie.«
Am anderen Ende der Leitung bleibt es stumm, deshalb füge ich erklärungshalber hinzu: »Ungefähr so, wie man so lange nicht an den Tod eines geliebten Menschen glaubt, bis man mit eigenen Augen sieht, dass er begraben wird. Es gehört dazu.«
»Jesus, bist du makaber!«, sagt sie, aber ich spüre, wie erleichtert sie ist, dass sie in Rom bleiben darf.
Mir war immer klar, dass sie sich drücken würde, wenn es daran ginge, diese Schubladen zu öffnen. Es war nie ihre Sache, in der Vergangenheit herumzukramen.

* * *

Apulien ist der Absatz des italienischen Stiefels, der schmalste Streifen Land zwischen zwei Meeren. Genau deshalb, sagte mein Großvater Lorenzo, wegen der Spiegelung der Sonne im Wasser zu beiden Seiten, sei das Licht in Apulien so satt und warm. Aus diesem Grund hatte er sich entschieden, hier ein Haus zu kaufen. Das war das Licht, in dem er malen musste, sagte er.
S. 5-11


Lesezitat nach Francesca Marciano - Casa Rossa










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Francesca Marciano
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by Manuela Haselberger

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