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Frauenleben in Israel
Ronit Matalon - Sara, Sara

ara und Ofra leben in Tel Aviv und sind schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit beste Freundinnen. Die resolute Sara ist es gewohnt, den Ton anzugeben. Das gilt auch für ihren Mann Udi, den sie sehr schnell geheiratet hat schon bald ein Kind von ihm bekommt. Kurz: um Sara, impulsiv, spontan und launisch, dreht sich die Welt. Und sie hat etwas Charismatisches an sich, das ist nicht zu leugnen, denn Ofra und Udi stellen ohne zu zögern oder zu fragen ihr Leben ganz in ihren Dienst.

Selbst als Sara ein Verhältnis mit dem Araber Marwan beginnt, den sie bei ihrer Arbeit als Fotografin im Gaza Streifen kennen lernt, wird dies toleriert.

Jahre später, Sara ist geschieden, versucht Ofra die Biografie ihrer Freundin zu schreiben, um hinter ihr Geheimnis zu kommen und um ihr ungestümes Leben zu verstehen.

In drei langen, nebeneinander verlaufenden Erzählsträngen fasst die israelische Autorin Ronit Matalon ihren Roman "Sara, Sara" ein, der mit der Ermordung Rabins endet.
Eine ausgedehnte Passage nimmt das Abschiedsgespräch der beiden Frauen auf dem Flughafen in Tel Aviv ein, als Ofra für zwei Wochen nach Paris zur Beerdigung ihres Cousins fliegt. Ein weiterer Abschnitt ist die Zeit der Trauer, die Ofra mit ihrer weit verzweigten Familie verbringt. Und in einer Rückblende erinnert sie sich an zwei endlose Nächte, in denen sie zusammen mit Saras Ehemann Udi wartete. Sara ist verschwunden und die beiden machen sich große Sorgen um sie. Ist ihr etwas zugestoßen? Warum meldet sie sich nicht?

Durchsetzt sind diese unterschiedlichen Erzählflüsse mit einer Vielzahl von Erinnerungen Ofras, die ein vielschichtiges Bild moderner Frauen in Israel ergeben. Frauen, die sich nicht in politische oder religiöse Schablonen pressen lassen, sondern ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Sara meint in einem Gespräch: "Ich denke nicht daran, was werden soll, Ofri! Ich weiß sehr gut, was nicht werden soll." "Was?" "Ein Leben, bei dem die Gegenwart zu Gunsten irgendeiner verschwommenen Zukunft belastet wird. Was jetzt geschieht, das nehme ich mit."

Dieses frei sein von allen Vorurteilen ist sicher mit ein Grund, dass "Sara, Sara" wochenlang auf den israelischen Bestsellerlisten stand. In Anbetracht der jetzigen politischen Eskalation, liest sich dieser Roman wie aus einer lange vergangenen Zeit.
© manuela haselberger


Ronit Matalon - Sara, Sara
Originaltitel: Sara, Sara, © 2000
Übersetzt von Ruth Achlama

© 2002, München, Luchterhand Verlag, 313 S., 20.50 € (HC)




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DIE ZEITABSCHNITTE ORDNEN SICH vor meinem geistigen Auge wie Legosteine, in verschiedenen Reiben und Formationen, in wechselnden Größen und Farben. Ich kann mich schwer zwischen den vorgeschlagenen Organisations- und Ordnungsregeln entscheiden, zögere oder springe zwischen ihnen hin und her. Besonders schwer tue ich mich bei der präzisen Einschätzung des Verhältnisses zwischen dem wirklichen Geschehen und der Erinnerung daran: Stunden dauernde Szenen erstrecken sich in meinem Gedächtnis über Wochen, und Jahre verdichten sich zu einem Augenblick.

"Du bist meine Biographin, Ofri", sagt Sara sorglos dahin. Ich räche mich an ihr in den Seiten: würfle alles durcheinander, ohne Hand und Fuß. Für mich allein behalte ich, wie einen Geheimkode oder eine ordentliche Menüempfehlung, eine grobe Gliederung, die im wesentlichen drei Zeitbiöcke umfaßt: Mitte bis Ende der achtziger Jahre - Udi, Gaza, Schwangerschaft. Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre - Mims. Mitte der neun ziger Jahre ungefähr - die Geschichte mit Marwan, die Scheidung.

Gelegentlich muß ich Sara zu Rate ziehen, halte mich aber an die Vagheit, die sie um sich verbreitet. Der Versuch, sie sprach lich zu fassen, zeigt mir, was ich ohnehin schon wußte: Die Vagheit ist bei ihr eine Frage der Anschauung und des Stils, nicht der Ohnmacht. "Du sammelst Indizien gegen mich", scherzt sie. "Gegen mich", sage ich. Sie legt die flache Rand auf die beschriebenen Seiten. "Das ist manchmal dasselbe, Ofri, weißt du. "

DRAUSSEN, IM RÜCKWÄRTIGEN GARTEN, herrscht die übliche Stille. Ich stecke den Finger in die großen Tonkübel: strohtrocken. Der Gartenschlauch ist nahebei, hübsch aufgewickelt, aber mir fehlt die Kraft. Der November hier fällt dieses Jahr schön aus: seltsame, fragile Frühlingshaftigkeit, weiche Sonne und die grüne Klarheit eines aquamarinfarbenen Himmels. Die Hängematte, die der Onkel früher mal zwischen zwei Bäumen angebracht hat, ist noch da, übersät mit Federn, Katzenhaaren, Nesseln, trockenem Laub. Lily liegt darauf, die Beine zur Seite gestreckt, tut so, als schliefe sie. "Runter, Lily", sage ich. Sie regt sich nicht. Ihr dicker Schwanz schlägt zweimal. Ich kippe die Hängematte um, auf den geschorenen Rasen. Lily schlägt wie ein Sack auf den Boden, öffnet benommen die Augen, einen verdutzten Ausdruck im Gesicht. Sie hat etwas Hypnotisierendes an sich: diese maßlose Torheit, fast schon selbstverliebte Naivität, die jedoch täuscht. Es ist eine gänzlich dunkle Naivität, begrenzt auf den Urinstinkt der Selbstverteidigung und Selbsterhaltung. Dieses Staunen über die Welt steht für sich, immerwährend, faszinierend, unberührt von Zeit und Umstand. Seltsame Zuneigung weckt dieses Geschöpf bei mir, gepaart mit leichtem Abscheu, der auch wiederum wohlig stimmt. Lily liegt weiter auf der Seite, nunmehr unter der Hängematte, ungestört, ohne zu stören, auch als ich darin liege: Baumwipfel, Blättergespinste und Himmelsfetzen schwanken sachte hin und her, wie von einem Lufthauch bewegt. Meine Hand streicht Lily übers Fell und läßt dann, über den Rasen schlingernd, wieder davon ab, im Wiegen der Matte. Welch seltsame, strahlende Stille liegt im Blick der Gestalt, die auf David Gintons Gemälde hinter den Bäumen liegt!

Es fällt mir jetzt mit einem Schlag ein, offenbar wegen der Dichte und Intensität der auf mich einströmenden Reize, und nicht einmal das Original, sondern die Reproduktion im Katalog, die die Künstlerhand eher vertuscht, das Physische daran, die Ölpastellschicht, das Geheimnis dieses Glücks hinter den Bäumen vergeistigend: Die Frische der Farben; der klare Blick der Gestalt, die dort vor uns liegt, ohne greifbar zu sein, mehr eine ferne Verheißung unter dem unwirklichen plastikartigen Glanz der fleischigen Gummibaumblätter; die Schatten auf dem Gesicht der ausgestreckten Gestalt - eine Schraffierung; der Gummibaum, der das Bild zerteilt wie eine Wäscheleine; die Artischocke zur Rechten, die ihr aufs Gesicht zu fallen droht; und vor allem: die nackten Füße, die plötzlich aus dem oberen Bildte~ ragen und Sehnsucht und Alptraum vermischend das Bild jeden Augenblick zu sprengen drohen.

Zum ersten Mal seit Michels Tod treten mir die Tränen in die Augen. Als hätten die Lebendigkeit des Bildes und dieser linde Schmerz des Glücks hinter den Bäumen die harte Kruste des Grauens aufgelöst, die sich über Michel gelegt, ihn abgekapselt hatte, und ihm statt dessen ein Geschenk gemacht: eine andere, weitläufige Rückzugsmöglichkeit, einen Pfad, dessen Spuren sich langsam und zögernd verlieren, in einem Wald.

Ich muß wohl eingenickt sein, denn plötzlich schlage ich die Augen auf, von unerträglichem Jucken geplagt. Hinter mir steht David, vorgebeugt, und kitzelt mich mit einem Halm am Hals. "Hast du ein bißchen geschlafen?" fragt er.
Er setzt sich ans Ende der Hängematte, schaukelt sie, die Füße am Boden abgestützt, rollt eine Zigarette. Sein strenges Profil … S. 47-49


"WIR HABEN SIE IM STICH gelassen", sagte ich in der bewußten langen Nacht bei ihnen daheim, über das Balkongitter gelehnt und gespannt auf ferne Schritte in der schwulen, dunklen Straße horchend.

"Wir haben sie nicht im Stich gelassen, Ofra, wir haben uns selbst geschützt. Du vergißt, daß sie alles aufreiben kann, was neben ihr steht. Sie ist ein ermüdender Mensch, Ofra, sie kann einen todmüde machen", sagte er, sich neben mir übers Geländer lehnend, unsere Ellbogen berührten sich.
"Das vergesse ich nicht", sagte ich.

Er reckte sich, versuchte tief durchzuatmen: "Die Luft steht. Ein einsames Scheuertuch an der Wäscheleine des Etagenhauses gegenüber bewegte sich leicht, weckte Hoffnung auf ein wenig Wind, sank jedoch erneut nieder, baumelte neben den rostzerfressenen Regenrohren, den geschlossenen Plastikjalousien, denen hier und da Lamellen fehlten, einem verstaubten, verdorrten Blumenkasten, den vorspringenden Klimaanlagen, krummen Drähten, einem riesigen Fleck ausgebesserten Putzes - miserable Arbeit. Haß würgte mir in der Kehle. "Diese ganze Stadt ist ein einziges großes Übergangslager, Nord, Süd, Mitte, Bauhaus und Klamotte, alles ein Übergangslager", sagte ich.

"Das gerade liebe ich", sagte er in sein Hemd, die Stirn aufs Geländer gelegt, auf seine Füße blickend.
"Was liebst du? Was gibt's hier zu lieben? Deine Phantasien liebst du, wie alle", sagte ich.

"Phantasien sind auch was."
Ich blickte auf seinen starken, behaarten Nacken. "Siehst du nicht, daß es zum Kotzen ist?"
"Was ist zum Kotzen, Ofra, was denn?"
"Dieser krampfhafte Selbstbetrug. Besoffene Kakerlaken in halb leergetrunkenen Flaschen, das ist die Realität hier." "Was willst du denn, was fängst du wieder mit dieser Schwarzmalerei an?"
"Ein bißchen Schönheit, warum nicht? Es könnte wenigstens normal aussehen." Sein Gesicht verbreiterte sich plötzlich zu einem Lächeln. "Was findest du denn lustig?" fragte ich gereizt. "Nur so, ich habe mir Ines vorgestellt, wie es aussähe, wenn sie an der Spitze eines Renovierungsteams von Gebäude zu Gebäude durch die Straßen traben würde. Binnen Jahresfrist würde sie hier Ordnung schaffen, alles Gerümpel rauswerfen, einschließlich der halben Einwohnerschaft."
"Zu spät, die Häßlichkeit ist schon zu tief in alles eingedrungen", sagte ich, nahm ihm die Zigarette aus der Hand, zündete meine daran an.
"Nicht nur die Häßlichkeit", sagte er und hob die vor Schlafmangel geröteten Augen zu mir auf. Seine Lider waren schwer. "Ich bin kurz vorm Verhungern. Möchtest du was essen?" Ich wollte nicht, lehnte mich wieder übers Geländer, lauschte dem Öffnen und Schließen der Küchenschränke, dem Wimmern der Kühlschranktür, dem Klappern des Bestecks, dem Strom fließenden Wassers. Unten erstreckte sich die leere Straße in Stille und Arglosigkeit, nur übertönt von den häuslichen Geräuschen, die von nichts kündeten - harmlose Töne, wie beim Gegeneinanderklirren leerer Flaschen. Ich folgte ihm in die Küche, beobachtete seine peniblen Verrichtungen. Jetzt wischte er mit einem Stück Küchenkrepp die Krümel von der Marmorplatte.
"Hast du dich besonnen, wegen Essen, meine ich?" fragte er. Ich setzte mich auf Mims Schemel, blätterte nachlässig in der Zeitung vom Vortag. "Man könnte Shelly anrufen, vielleicht weiß sie was."

"Nein", er drehte sich mit einem Ruck zu mir um, "daß du es ja nicht wagst."
"Was fürchtest du denn? Daß es herauskommt? Es wissen ohnehin schon alle." "Nicht von mir. Von mir hat keiner was erfahren.
"Ist doch unwichtig, von wem sie es wissen, oder?"
"Es ist wichtig." Er zerrte einen Stuhl heran, setzte sich, stellte den Teller auf die Knie, die Beine eigenartig verschränkt: mit krumm aneinandergelegten Fußsohlen. "Es draußen ausposaunen heißt aufgeben. Ich habe noch nicht aufgegeben.

Eine ganze Weile saßen wir in der Küche, er auf dem Stuhl, ich auf dem Schemel zu seinen Füßen, den Kopf an die grünlichen Kacheln gelehnt, das Gesicht schräg nach oben der nackten Birne zugewandt, die an der Schnur baumelte, ein wenig schwankte, ihre Aufmerksamkeit gleichmäßig nach rechts und links verteilte. Wir warteten auf etwas, wohl auf sie, versanken mit offenen Augen in Schlaf. Die Pupillen nach innen gerichtet, sackten wir langsam hinab, nicht etwa in einen Sumpf, sondern in etwas anderes, ein riesiges, tiefes Feld voller Styroporkugeln, das eine Gänsehaut erzeugt, wenn sie aneinanderreiben. S. 183-185

Lesezitate nach Ronit Matalon - Sara, Sara










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Titel von
Ronit Matalon
 Hardcover



Eine Geschichte, die mit dem Begräbnis einer Schlange beginnt

( Ab 10 J.).
© 1999



Was die Bilder nicht erzählen.

© 1998


© 12.7.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de