Mumun erwartete uns draußen, rittlings auf seinem Motorrad sitzend.
"Da seid ihr ja", sagte er, lächelte fröhlich und streckte uns die Hand entgegen.
Er ließ uns aufsitzen, Giovanni vor ihm und ich hinter ihm. Den kleinen Fiberkoffer band er, so gut es ging, neben dem Hinterrad fest. Ich stützte das Bein darauf.
"Kann's losgehen?" fragte er, die Beine noch auf den Boden gestemmt, um das Motorrad im Gleichgewicht zu halten. Eine Schwester mußte jetzt am Fenster stehen. Doch wir sahen nicht nach oben, sondern taten so, als hätten wir sie schon vergessen.
Mein Vater schob sich die Baskenmütze auf dem Kopf zurecht und griff nach der Lenkstange.
"Seid ihr fertig? Sitzt ihr sicher?"
Mit einem heftigen Ruck fuhren wir los und sausten, zur Seite geneigt, um die Ecke. Ängstlich und aufgeregt klammerte sich Giovanni an die Lenkstange; ich hatte die Arme um den kräftigen Körper meines Vaters geschlungen, und seine frohe Laune und sein überschäumendes Selbstgefühl übertrugen sich auf mich. Die Menschen und die wenigen Autos auf der Straße - ich sah sie kaum. Ich streckte den Kopf zur Seite, um mir den Wind ins Gesicht wehen zu lassen, und widerstand der Versuchung, mir die Haare aus den Augen zu streichen.
Mumun fuhr das Rad mit leichter, sicherer Hand, während er sich gleichzeitig mit uns unterhielt.
"Ich wette, ihr habt noch nie auf einem Motorrad gesessen!" Er wartete unsere Antwort nicht ab, sondern fuhr lachend fort: "Giovannino, du hast Angst, sag die Wahrheit. Aber ein kleiner Mann wie du - und Angst haben!"
Giovanni schüttelte den Kopf, ohne dabei seinen Griff um die Lenkstange zu lockern; seine Hände waren vom Festhalten schon ganz blau.
"Anna, wie geht's?" Er drehte sich etwas zu mir um, so daß ich sein sonnengebräuntes, von ein paar tiefen, breiten Furchen durchzogenes Gesicht sah, n:' der Sonnenbrille auf der fleischigen Nase. "Möchte du ein Eis haben? Wie blaß du aussiehst, Kleinchen. Wie blaß mal auf, wie gut dir die See bekommen wird. Die Schwestern werden dich nicht wiedererkennen, wenn du zurückkommst."
Ich dachte wieder an das Internat, das dort zurück blieb und auf uns wartete, an die Nonnen in ihre langen Schleiern, den Vorstecknadeln und den leise klappernden Rosenkränzen. Für Mumun war alles einfach. Jetzt fuhr er mit uns ans Meer, in die Feriei Dann brachte er uns wieder zurück, auf demselbe alten Motorrad und mit dem gleichen wohlgelaunte und gleichmütigen Gesicht, zurück bis vor jenes für Meter hohe Tor. Ich schloß die Arme enger um seine breiten, muskulösen Körper. Neugierig drehte er sich um.
"Du willst ein Eis haben, nicht wahr?" fragte er und blinzelte mir zu. "Wir sind gleich da."
Wir hielten an der Ecke eines Dorfplatzes vor eine Eisdiele. Ein dichter Schwarm von Fliegen stieg vor einer im Rinnstein zerdrückten Tüte auf. Eine Katz kam und schnupperte an der Tüte, dann schlich sie träge weiter. Giovanni wollte nicht absteigen. Mumun lachte ihn aus, während er seine hellen Lederhandschuhe abstreifte.
"Der Wind brennt", sagte Giovanni und faßte sich an die glühenden Wangen.
"Die Sonne brennt", verbesserte ihn Papa und schlug den Perlenvorhang vor dem Eingang zurück.
Mumun bestellte zwei Eis zu fünf Lire mit Pistazien und Mandeln. Giovanni nahm seine Eistüte behutsam in die Hand. Langsam und bedächtig leckte er mit weit herausgestreckter Zunge das Eis und bewegte dazu, mit vor Anstrengung kraus gezogener Stirn, kauend die Kiefer.
Papa unterhielt sich mit dem Besitzer der Eisdiele, einem vierschrötigen, dicken Mann, der ihm Photographien berühmter Boxer zeigte.
"Luigi Musina", sagte er und wies dabei auf eine Photographie mit Widmung. "Er ist Europameister im Halbschwergewicht. Er hat keine Nase mehr aber sehen Sie sich diese Muskeln an."
Mein Vater nickte zustimmend. Er blickte auf Giovanni, der ganz mit seinem Eis beschäftigt war.
"Und das ist Proietti. Einfach toll. Ein schönes Photo, nicht?"
"Schön", pflichtete ihm Mumun ohne großes Interesse bei.
"Enrico Urbinati, Europameister im Fliegengewicht", erklärte er und klatschte dabei in die Hände. "Die verdienen heute, was sie wollen."
"Die ja", meinte Mumun gelangweilt.
"Es ist ein langer Weg, aber er gibt einem auch manche Genugtuung. Auch ich habe ihn versucht, müssen Sie wissen. Doch ich war zu eilig, ich hatte keine Geduld. Aber wie schön war es, anzugreifen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, bis man nicht mehr konnte."
"Hat's geschmeckt?" fragte Papa und beugte sich zu Giovanni hinab, ohne auf den Wirt zu achten. Er fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. Der Mann hinter der Theke beobachtete uns aufmerksam. Sein Mund stand ein wenig offen; er atmete hörbar.
"Hat dir das Eis geschmeckt?" fragte Papa noch einmal liebevoll. S. 11-14
Lesezitate nach Dacia Maraini - Tage im August