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7:00

Am Donnerstagmorgen, dem 19. Oktober dieses Jahres, erreichte den achtundsiebzigjährigen Rentner und ehemaligen Concierge Leon Culman ein eingeschriebener Eilbrief folgenden Wortlauts: »Heute, am 19. Oktober; wirst du, Leon Culman, zur Strafe für frühere Untaten hingerichtet.« Der Text war mit der Maschine geschrieben worden und steckte in einem Allerweltsumschlag ohne Absender.

Er stand barfuß im kalten Flur und hörte immer noch das Geräusch des Fahrstuhls, der den Postboten wieder nach unten brachte. Der Luftzug aus dem Treppenhaus hatte die Asche der ersten Zigarette des Tages aus dem Aschenbecher geblasen, in der sie wie ein kleiner weißer Zylinder mit einem schwarzen Knick in der Mitte lag. Culman kratzte sich den linken Handrücken, wie er es sich angewöhnt hatte, wenn ihn etwas ärgerte, schüttelte den Kopf und legte den Brief aufs Regal, nahm ihn wieder herunter; steckte ihn in die Tasche murmelte etwas vor sich hin und schielte zu seiner Frau hinein, die immer noch im Bett lag. Der Geruch der nassen Briefträgerkleider hing in der Luft des Flurs und vermischte sich mit dem Tabakrauch und dem ständigen Geruch der Wohnung nach Kaffee und bitteren Mandeln.

Culman ging den zehn Meter langen Flur hinunter; der seine Kammer mit dem Rest der Wohnung verband, und stand mit dem Rücken zum Schlafzimmer; als die erwartete Frage fiel: Seine Frau wollte wissen was der Postbote gebracht hatte. Ohne sich umzudrehen, antwortete Culman, es sei die Nebenkostenabrechnung der Hausverwaltung. Die Mühelosigkeit seiner Lüge überraschte ihn selbst; normalerweise war er nicht so schlagfertig. S. 5


Lesezitat nach Bjarne Reuter - Am Ende des Tages


Bookinists Buchtipp zu


Am Ende des Tages

von Bjarne Reuter
... Jugendliteratur-
Preis 2000




So ist das Leben
Bjarne Reuter - Am Ende des Tages

Der Tag, ein ganz gewöhnlicher Donnerstag, beginnt für den achtundsiebzigjährigen Leon Culman mit einem gehörigen Schrecken. Der Briefträger überreicht ihm ein Einschreiben, in dem ein anonymer Briefschreiber lapidar ankündigt: "Heute, am 19. Oktober, wirst du Leon Culman, zur Strafe für frühere Untaten hingerichtet."

Wer ist der Verfasser dieser Drohung? Oder steckt ein Scherzbold dahinter? Leon brennt diese Notiz in der Tasche. Mit seiner Frau möchte er nicht darüber reden. Kritisch geht er in Gedanken alle Bekannten und den Freundeskreis durch. Seit Jahren laden Leon und seine Frau jeden Donnerstagabend alte Freunde zum Essen ein. Sollte einer von ihnen der Verfasser dieser Drohung sein? Auch diesen Abend sind wieder alle beisammen.

Bjarne Reuter, der dänische Erfolgsschriftsteller, ist in Deutschland zunächst mit seinen Kinderbüchern bekannt geworden. Sein jüngstes "Hodder der Nachtschwärmer" erhielt den Deutschen Jugendliteraturpreis 2000 in der Sparte Kinderbuch. Sein neuer Roman "Am Ende des Tages" erscheint erstmals auf Deutsch in einer Hardcover Ausgabe. Stilistisch geschickt hat Reuter den Tag des alten Mannes Leon in Stunden und dreißig Minuten Abschnitte unterteilt. So hält er die Spannung seines Romans bis zur letzten Seite auf höchstem Niveau.

Das Besondere an diesem Buch ist, wie Reuter mit einem Ruck Leon die Sicherheit der gewohnten Umgebung entreißt und Gewohnheiten, Freunde, sogar seine Familie neu betrachtet und gleichzeitig sein Leben in der Erinnerung Revue passieren lässt. Alles was es dazu braucht: einige harmlose Buchstaben.

Doch genau besehen erzählt Bjarne Reuter über das Leben eines jeden von uns: "Wir alle haben einen Drohbrief in der Tasche, ... der uns ankündigt, dass dieser Tag unser letzter ist. Also gilt es, sich nichts entgehen zu lassen. So ist die Zeit!" © manuela haselberger

Bjarne Reuter - Am Ende des Tages
Übersetzt von Knut Krüger
© 1999, Originaltitel: " Mordet pa Leon Culman"
2000, München, Diana Verlag, 300 S.
2001, München, Heyne Hörbuch, 3 CDs, 195 min, (21 € ab 2002)
2001, München, Heyne Hörbuch, 3 Cass, 195 min

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© 2001
Der Erfolg Reuters ist nicht aufzuhalten: Der Schauspieler Uwe Friedrichsen liest mit seinen außergewöhnlichen Sprechlünsten "Am Ende des Tages" auf 3 CDs (195 min) - einfach geniesen!

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Fortsetzung des Lesezitats ...

»Wir alle haben einen Drohbrief in der Tasche«, murmelte er; »der uns ankündigt, dass dieser Tag unser letzter ist. Also gilt es, sich nichts entgehen zu lassen. So ist die Zeit!«

Culman öffnete die Wohnungstür, blieb kurz beim Müllschacht stehen und hatte schon den Umschlag in der Hand, überlegte es sich jedoch anders und ging in die Wohnung zurück, um sein Resümee der guten Donnerstage fortzusetzen:

Die Frauen spielten gern Karten, meistens eine Art Tarock, ihre große Leidenschaft, angeführt von der lustigen Witwe Susse Wiid, die sich mit fortschreitendem Alter einen spirituellen Tick zugelegt hatte. Wenn es ihnen zu okkultistisch wurde, zogen sich Culman, Tinberg und Johansen auf Culmans Zimmer zurück und diskutierten über Politik, Fußball und die gemeinsamen, längst verfestigten Idiosynkrasien. Um Punkt elf brachen die Gäste auf, bedankten sich für den Abend und fahren mit dem Fahrstuhl des alten Hauses hinunter, in dem Culman seit über dreißig Jahren wohnte. Eine halbe Stunde später; nachdem auch die Mädchen gegangen waren, nahm Leon den Platz neben seiner Frau im weichen Ehebett ein, jeder mit seinem Rest Rotwein vom Abendessen. Wenn sie miteinander redeten, ging es um Susse, das jüngste Mitglied ihres Freundeskreises; Susse war neunundsechzig, frei wie ein Vogel, schlagfertig und, wie Anna sagte, immer auf der wundervollen Suche nach Grenzerfahrungen. Culman fand Susse unverfroren, laut und bisexuell, behielt das aber für sich. Um Mitternacht herum ,wurde das Licht gelöscht, und der Donnerstag nahm sein Ende. Genau wie alle die anderen, die er nicht gezählt hatte. Aber jetzt war irgendein Geistesgestörter in diesen Donnerstag, den 19. Oktober; eingebrochen und hatte damit gedroht, ihn zu Culmans letztem zu machen. S. 16

Culman zündete sich eine Zigarette an, legte die Schallplatte mit den Mills Brothers auf und ließ seine Gedanken zum St. James Park Hotel in Manhattan wandern, wo er als Concierge gearbeitet hatte, was in den Fünfzigerjahren sowohl Portier als auch Kofferträger bedeutete. Er besaß eine Unzahl von Schwarzweißbildern - alles andere als schlechte Fotos - seiner damaligen Kollegen, von Pikkolos, Laufburschen, Zimmermädchen und Hotelmanagern, breit grinsend, mit müden Gesichtern und Tränensäcken, von Menschen, die mit dem Rücken zur Wand in der Lobby saßen, einem Nachtportier im Unterhemd, einem farbigen Mädchen mit Staubwedel, das von der Augustsonne so geteilt wurde, dass es wie ein halber Albino aussah. Während der Hitzewelle. Und schließlich ein Bild des Fotografen unter dem Baldachin des Hoteleingangs: mit glänzenden Knöpfen, Schirmmütze und weißen Handschuhen beim Schneeschaufeln.

Blizzard, December 1949.

Das war mit weißer Tinte auf den braunen Karton unter das Foto geschrieben worden.

Auf der Innenseite des Einbands hatte der junge Leon Culman mit hastiger und energischer Schrift notiert: In dieser Stadt befinden wir uns alle in einem Film ohne Anfang und ohne Ende. Alles kann geschehen, denn hier ist nichts wirklich. Plötzlich erstarrt der Verkehr auf dem Times Square, wir beginnen zu tanzen wie Gene Kelly und Ginger Rogers, und der Broadway' verwandelte sich in ein Musicalfinale.

Er hatte es sooft gesagt, dass es fast seine Richtigkeit haben musste:
»Ich kam 1946 in NewYork zur Welt, mit dem Koffer eines fremden Mannes in der Hand.« S. 20

Anna fragte: »Kennt ihr euch?« Sie schaute von Culman zu Janni, die den Kopf etwas zurücklegte, um die Silhouette in der Türöffnung besser erfassen zu können. Ihr Blick wanderte um Culmans Körper, so wie die Nadel einer Nähmaschine dem gestrichelten Muster folgt.
»Herr - Culman!'.« Sie sagte es klar und deutlich, während sie zwischen »Herr« und »Culman« eine kleine Pause machte. Dehnte die Sekunde wie ein Gummiband, das sie erst losließ, als es zu reißen drohte.

In dieser Sekunde, dachte Culman, sterben Menschen; die Zeitspanne bringt sie um.

Das Mädchen mit den Reklamezetteln schaute Nina an und sagte: »Wir haben deinen Vater immer Walter genannt.«
Culman zwang sich dazu, sie anzusehen. Sie hatte eine ganz bestimmte Sprechweise, eine Betonung, als würde sie einen Witz machen, einen dieser schnellen Witze, von denen es so viele im Fernsehen gab, besonders an den Nachmittagen, an denen es von Spaßvögeln nur so wimmelte.

Anna sagte, sie stünde auf der Leitung. Indes versuchte Culman, sich auf Kammas Hosenanzug und ihre voluminöse, feuerrote Haarpracht zu konzentrieren. Vielleicht waren Perücken wieder in Mode.

Janni schaute Culman direkt in die Augen. Ihr Blick war unpersönlich und hart und ihr Lächeln bis zu den Zähnen bewaffnet. Vielleicht hasst sie gar nicht mich, ging Culman durch den Kopf, sondern Männer im Allgemeinen. Vielleicht macht sie meine Generation dafür verantwortlich, dass sie Werbezettel verteilen muss. S. 225

 

Es klingelte an der Tür. Nicht unten, sondern draußen.

Culman schaute auf: die Türklingel! Jetzt beginnt es, dachte er. Du hast es die ganze Zeit gewusst. Der Anfang vom Ende. Die Treppe der Jons Kapel hat keine weiteren Stufen, meine vielen Gesichter starren den Alten auf dem Plateau an. Ich vermisse ein Kind, dachte er; ein Kind, das die Geschichte des Lebens noch einmal erzählen kann. Ich kenne so viele Antworten, was die Mysterien des Lebens angeht, habe aber die Frage vergessen.

»Machst du auf, Leon? « Annas ungeduldige Stimme.
Das war normalerweise seine Aufgabe: die Begrüßung der Gäste.

Doch er wusste, dass er jetzt nicht auf die Beine kam. Nicht in diesem Moment. Der Körper war zu schwer; seine Beine konnten ihn unmöglich tragen, es schmerzte am ganzen Körper, und er hatte das Gefühl, sein Gehirn habe angefangen sich loszureißen, und auch der Schädel wolle diese lästige nicht länger tragen, so dass er binnen Minuten sein Gehirn im Schoß haben würde. » Leon, gehst du an die Tür? « S. 227


Lesezitate nach Bjarne Reuter - Am Ende des Tages


© 9.11.2000 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de