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Als kleiner Junge träumte Jack Keller davon, wie Icarus in den Himmel aufzusteigen und zu fliegen. Doch dann passieren schreckliche Dinge im siebzehnten Stock eines New Yorker Bürohauses, die sein Leben prägen. Erst als Jack Jahre später seine Frau Caroline trifft, gelingt es ihm, die Katastrophe zu überwinden und sich eine Existenz aufzubauen. Ihre Restaurant-Kette entwickelt sich schnell zum Geheimtip über die Grenzen der Stadt hinaus, und das Glück scheint vollkommen. Eine zweite Katastrophe jedoch setzt dem ein abruptes Ende: Bei der Eröffnung eines neuen Lokals erschießt ein Maskierter Caroline und wirft sie aus dem Fenster. Jack, schwerverletzt und gebrochen, wird plötzlich wieder von den Gespenstern seiner Vergangenheit eingeholt. Die Umstände des Mordes aber bleiben verworren, und die polizeilichen Ermittlungen verlaufen im Sande. Jack ahnt, daß der Schlüssel in seiner Vergangenheit liegen muß, und macht sich selbst auf die Suche. Nach und nach setzt er die Bruchstücke des eigenen Lebens neu zusammen, doch auf jede Entdeckung folgt ein weiterer Mord, und die Kreise des Killers um Jack und seine Vertrauten werden immer enger.

Klappentext des Verlags Rütten & Loening



Icarus
Russell Andrews - Icarus

ls Jack Keller 1969 zum ersten Mal in der Schule von Ikarus aus der griechischen Mythologie hörte, war er von dem Jungen fasziniert, "der es gewagt hatte, zu nahe an die Sonne zu fliegen. Jack gefiel die Idee, Flügel zu basteln und damit immer höher in den Himmel zu steigen. Er dachte fast jeden Tag daran, stellte sich vor, er wäre Ikarus, ließe die Erde hinter sich und flöge höher, als jemals einer geflogen war."

Mit seinen zehn Jahren konnte er nicht ahnen, dass es bald nichts Schlimmeres für ihn mehr geben würde, als der Blick aus schwindelnden Höhen. Der Grund dafür ist der Tod seiner Mutter. Jack muss mitansehen, wie seine Mutter von einem Irrsinnigen aus dem Fenster der Anwaltskanzlei gestoßen wird, in der sie arbeitet. Danach zerspringt die Welt des Jungen in tausend Stücke.

Viele Jahre später, Jack ist zwischenzeitlich verheiratet und beruflich sehr erfolgreich, holt ihn sein Schicksal erneut ein. Bei der Einweihung eines neuen Restaurants geschieht das Unfassbare: seine Frau Caroline wird das Opfer eines Raubüberfalls. Der Täter erschießt sie und wirft sie aus dem Fenster. Eine zufällige Parallele zum Tod seiner Mutter? Jack, selbst schwer verletzt, beginnt Nachforschungen anzustellen und bemerkt, dass er die Geschehnisse der letzten Jahre oft nicht im richtigen Zusammenhang gesehen hat. Zum Beispiel stellt sich heraus, dass seine Frau ohne sein Wissen eine Abtreibung hatte, ein gemeinsamer Freund spurlos verschwindet und eine längst vergessene Affäre an Bedeutung gewinnt. Doch je mehr Puzzlestücke Jack zusammenträgt, umso mehr häufen sich die Morde in seiner nächsten Umgebung. Für wen stellt er mit seinem Wissen eine Bedrohung dar?

Bereits der erste Thriller von Russell Andrews "Anonymus" zählt zur erstklassigen Krimikost. Wobei es sich übrigens beim Autorennamen um ein Pseudonym handelt, hinter dem sich die amerikanischen Schriftsteller Peter Gethers und David Handler verbergen, die als Verfasser von Drehbüchern seit langem sehr erfolgreich zusammenarbeiten. Geschickt variieren sie die Charaktere ihrer Hauptpersonen, fügen Ereignisse in der Vergangenheit ein, die die jeweils beschriebene Handlungen in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Das Ganze ist klug zusammengesetzt, lässt aber im Vergleich zu "Anonymus" ein klein wenig Spannung vermissen; doch alles in allem, ein Thriller, der gut dazu beiträgt, Ihre Fingernägel sehr kurz zu halten.
manuela haselberger


Russell Andrews - Icarus
Originaltitel: » Icarus«, © 2001
Übersetzt von Uwe Anton

gebunden
© 2003, München, Rütten und Loening, 488 S., 22.50 € (HC)




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Eins Der Tag begann wirklich verheißungsvoll für den zehnjährigen Jack Keller. Zuerst war Miß Roebuck krank, die Lehrerin der fünften Klasse, was bedeutete, daß er Vertretungsunterricht hatte und nicht viel arbeiten mußte. So konnte er ausgiebig seinen Tagträumen über die Knicks nachhängen, speziell über Willis Reed, den er glühend verehrte. Zweitens: Dom nahm ihn an diesem Abend zu einem Spiel mit, nur sie beide, und es gab nichts, was er mehr liebte, als sich mit Dom ein Spiel der Knicks anzusehen. Seit seinem vierten Lebensjahr, als sie einander kennenlernten, waren die beiden ein Herz und eine Seele. Der brummige alte Mann hatte etwas ganz Besonderes an sich - er erzählte Jack ständig, daß er erst vierundvierzig Jahre alt sei, aber Jack bestand darauf, ihn »alter Mann« zu nennen -, so fühlte Jack sich geborgen und beschützt. Er hatte niemals Angst gehabt vor Doms Wutausbrüchen, die furchtbar sein konnten, wurde auch niemals abgeschreckt durch seine bärbeißige Art, die sonst jeden verrückt machen konnte. Die Leute gingen Dom aus dem Weg, als hätten sie Angst vor ihm, aber Jack begriff nie, was ihnen diese Angst einflößte. Dom war mager und drahtig und früher einmal Boxer gewesen, daher sah er ziemlich hart aus, aber viele Leute sahen hart aus, ohne anderen Leuten gleich Angst einzujagen. Sie konnten eigentlich gar nichts wissen von Dom, von seiner Vergangenheit. Erst recht nicht die Dinge, die Jack wußte. Das war ein Geheimnis. Ein großes Geheimnis. Wenn sie es wüßten, dachte Jack, hätten sie wirklich Angst. Aber manchmal, vor allem, wenn sie zusammen unterwegs waren, dachte er, daß man Doms Geheimnis gar nicht kennen mußte.

Vielleicht konnte man es schon ahnen, indem man einfach nur hinsah.
Andererseits hätte es auch der Arm des »alten Mannes« sein können, der allen Unbehagen bereitete; die Leute wußten nie, wie sie mit so etwas umgehen sollten. Jack hatte niemals darüber nachgedacht, daß man damit auf besondere Art umgehen müßte. Dom war einfach Dom, mit Arm und allem, und wenn sie im Garden waren, ließ er Jack so viele Hotdogs futtern, wie er wollte - sein Rekord lag bei vier Stück -, und Cola trinken, was seine Mom fast nie erlaubte.
Drittens: Als sei das noch nicht genug, waren an diesem Abend die Celtics in der Stadt, daher würde er aus nächster Nähe die allgemein verhaßten John Havlick und Bill Russell sehen, die Jack, als Knick-Fan, ebenfalls hassen sollte, die er aber, wie er - wenn auch niemals laut - zugeben mußte, im Grunde durchaus mochte.
Als er aus der Schule kam, blieb sein Tag in etwa so perfekt. Bill Kruses Mom brachte ihn nach Hause, zusammen mit Billy, weil sie nur zwei Häuser weiter wohnten. Jacks Mom war noch nicht von der Arbeit zurück, was prima war, denn Jack war gern allein. Er konnte seine Hausaufgaben machen, sich vor den Fernseher setzen und noch ein wenig träunien. Manchmal träumte er von seinem Vater, an den er sich kaum erinnerte. Seine Mom hatte ihm erzählt, daß sein Dad tot sei, daß er starb, als Jack noch ein Baby war, aber seit kurzem vermutete er etwas anderes. Er war sich nicht ganz sicher, weshalb er ihr nicht glaubte, außer daß es nie wirklich so klang, als wäre es wahr. Er hatte von Männern gehört, die ihre Familien im Stich gelassen hatten oder ins Gefängnis gekommen waren - das war in Hell's Kitchen nichts Ungewöhnliches; Billy Kruses Dad saß drei Jahre wegen bewaffneten Raubüberfalls -, und etwas an der Art, wie seine Mutter ihre Geschichte erzählte, ließ Jack auf den Gedanken kommen, daß sein Dad gar nicht gestorben war, sondern sich nur aus dem Staub gemacht hatte. Oder daß er abgeholt worden war. Jack fragte Dom einmal danach, denn Dom hatte Jacks Dad gekannt, er war sein Freund gewesen. Bill Keller hatte in Doms Fleischfabrik gearbeitet, und Dom sagte: »Er ist weg, Jack. Und das allein ist wichtig.« Als Jack fragte: »Okay, aber ist er tot?«, erwiderte Dom nur: »Weg ist weg.«
Gegen fünf Uhr rief seine Mom an und sagte Bescheid, daß Dom ihn in einer halben Stunde abholen würde. »Ist das nicht ziemlich früh?« fragte er, und sie sagte: »Er bringt dich hierher, ins Büro, vor dem Spiel. Ich muß mit dir reden.«
»Habe ich was aus gefressen?« fragte Jack, und seine Mutter lachte. »Nein, mein Schatz, ich will dich nur sehen. Ich habe dir etwas zu erzählen. Etwas Gutes.« »Cool«, sagte er, und das meinte er auch so, denn er mochte seine Mom, sogar noch mehr als Willis Reed, und ging gern in ihr Büro. Sie arbeitete als Anwaltsgehilfin in einer Kanzlei. Das Büro befand sich in einem Wolkenkratzer in der Stadt, im siebzehnten Stock, und durch die großen Fenster hatte man einen wunderschönen Blick auf den East River und auf Queens. Jack ging immer gleich zum Fenster und drückte die Nase gegen die Scheibe. Er streckte die Arme aus, so hoch er konnte, spreizte die Beine ein wenig, drückte sich, so fest es ging, gegen die Fensterscheibe und stellte sich vor, daß er flöge. Früher in diesem Jahr hatte Miß Roebuck der Klasse etwas über griechische Mythologie erzählt. Jacks Lieblingsgeschichte war die von Daedalus und Icarus. Er ging sogar in die Bibliothek und schaute in mehreren Büchern nach und las alles, was er fand, über den Jungen, der es gewagt hatte, zu nahe an die Sonne zu fliegen. Jack gefiel die Idee, Flügel zu basteln und damit immer höher in den Himmel zu steigen. Er dachte fast jeden Tag daran, stellte sich vor, er wäre Icarus, ließe die Erde hinter sich und flöge höher, als jemals einer geflogen war. Meistens dachte er nur an dieses herrliche Gefühl, und er konnte sich selbst so deutlich sehen, daß es für ihn real wurde. Er konnte spüren, wie die Luft an seinem Körper vorbeiströmte, er konnte sich in die Stille des Fluges und in den Reiz der außerordentlichen Freiheit hineinversenken. Aber manchmal wagte er auch an den Sturz zu denken. Wie Icarus würde auch er zu hoch steigen, und seine Flügel würden schmelzen, und dann konnte Jack in seiner Magengrube das Gefühl des Abstürzens, des geradewegs nach unten Fallens, spüren, und die Angst, die ihn dann überfiel, riß ihn aus seiner Phantasie, und er fand sich in seinem Zimmer oder in der Klasse wieder, mit zitternden Händen, trockenem Mund, die Finger um das geklammert, was er gerade hatte greifen können, als wäre es ein Rettungsanker, der ihn sicher mit dem Erdboden verband.

Aber oben im Büro seiner Mutter, die Arme hoch erhoben, hatte er nie Angst. Dort gab es nur kühles Fensterglas an seinem Körper. Und er konnte der glorreiche Icarus sein und flog hinaus über den Fluß, über die ganze Stadt. Und er schaute auf die Welt hinunter und schwang sich der Sonne entgegen...
Jack beendete schnell seine Hausaufgaben, nichts allzu Schweres, hauptsächlich Mathe, und zog sich um - Jeans, Turnschuhe, das graues Knicks-Shirt und die blau-orangefarbene Knicks-Jacke. Dann trat er hinaus auf den Treppenabsatz vor dem Haus, um darauf zu warten, daß Dom ihn abholte. Während er auf dem rauhen Beton saß, überlegte er, was seine Mom ihm wohl erzählen würde und ob die Knicks an diesem Abend gewinnen würden. Er dachte auch noch ein wenig über seinen Dad nach. Am meisten aber überlegte er, wie viele Hotdogs er wohl schaffen könnte. Er nahm sich vor, heute einen neuen Rekord aufzustellen.

Joanie Keller war nervös.
Sie verstand es nicht ganz. Sie wußte, weswegen sie nervös war, aber nicht genau, warum.
Vielleicht, weil sich Joan Keller mehr als alles andere in ihrem Leben wünschte, daß ihr Sohn glücklich war, und sie nicht sagen konnte, ob das, was sie ihm erzählen, ihn auch wirklich glücklich machen würde. Wenn nicht, hatte sie keine Ahnung, was sie tun sollte. Auf jeden Fall die Pläne weiter verfolgen? Sie wußte nicht, ob sie dazu imstande wäre. Die Pläne nicht weiter verfolgen? Ob sie das könnte, wußte sie auch nicht. O Gott! Wenn sie so darüber nachdachte, glaubte sie zu wissen, weshalb sie nervös war. Sie wollte aber im Augenblick nicht darüber nachdenken, ihr ging sowieso seit Tagen nichts anderes durch den Kopf. Daher entschied sie, sich zu beschäftigen und ihre Ablage - eine langweilige, mühselige Arbeit - auf Vordermann zu bringen. Aber es dauerte nicht lange, und sie saß stirnrunzelnd da, und ihre Lippen bewegten sich, und sie probte, was genau sie sagen würde. Das ist verrückt, wurde ihr klar. Er ist zehn Jahre alt, und er ist ein tolles Kind. Warum also sollte er sich über die Neuigkeit nicht freuen? Sie konnte sich keinen Grund vorstellen, der dagegen sprach. Überhaupt keinen. Also erzähl's ihm und umarme ihn und gib ihm einen Kuß und hoffe, daß er dich ebenfalls umarmt und küßt. Natürlich würde er. Genau das würde er tun. Warum also sollte sie nervös sein? Nicht mehr lange, und sie würden einander umarmen und küssen und lauthals lachen.
Sie blickte auf die Uhr. Es war 17:14. Jeden Moment würde Gerald Aarons, einer ihrer drei Chefs, der wichtigste der drei, denn er leitete den Betrieb, aus seinem Büro kommen, sie flüchtig ansehen, irgend etwas Unverständliches murmeln und zum Fahrstuhl eilen. Das machte er jeden Tag, es sei denn, er hatte eine wichtige Konferenz. Er machte stets um Viertel nach fünf Feierabend, damit er um 17:45 seinen Zug nach Westport erreichte. Der Minutenzeiger von Joanies Armbanduhr rückte weiter und ... Jawohl. Auf die Sekunde genau öffnete sich Geralds Bürotür, und er trat ins Vorzimmer, und da war er - der Blick, etwas, das ungefähr klang wie »aufwiedersehenbismorgen«, und dann ging er durch den Flur und war verschwunden. Nicht lange, und nach und nach öffneten sich die restlichen Bürotüren und wurden wieder zugeschlagen. Schon bald war der Flur gefüllt mit eiligen Businessanzügen. Die meisten Anwälte hatten das Haus bis 17:30 verlassen, da fast alle ebenfalls außerhalb wohnten und Familien hatten, die auf sie warteten. Diejenigen, die in der Stadt wohnten und keine Familie hatten, gingen jedoch nicht später. Sie wollten zu ihren Martinis oder Stewardessen oder Pokerrunden, wo sie erwartet wurden.
Okay, genug gegrübelt wegen Jack, dachte Joanie. Es war lächerlich. Es gab nichts, weswegen sie sich Sorgen machen mußte. Überhaupt nichts. Er würde herkommen, sie würde es ihm erzählen, und er würde sich freuen. Kein Problem. S.11-15


Lesezitat nach Russell Andrews - Icarus






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by Manuela Haselberger
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