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Männerfreundschaft
Stephen Booth - Kühler Grund

tephen Booth legt mit der Nominierung für den "Anthony Award" als bestes Krimidebüt des Jahres mit seinem hervorragend geschriebenen Thriller "Kühler Grund" einen furiosen Start hin.

Das ungleiche Ermittlerpaar, Ben Cooper und Diane Fry, haben den Tod eines jungen Mädchens aufzuklären. Laura Vernon wurde mit eingeschlagenem Schädel in der Nähe ihres elterlichen Anwesens im Wald gefunden. Ihre Mutter schildert sie als behütetes, beliebtes und begabtes Mädchen. Die Mitschüler und Freunde aus dem nahe gelegenen Dörfchen Edendale sehen das völlig anders.

Gefunden wurde Lauras Schuh, die Spur die letztlich die Polizei auch zu ihrer Leiche führt, von Harry Dickinson, einem alten Mann. Er und seine drei Freunde, eigensinnige und verbiesterte Männer, geben der Polizei durch ihr undurchschaubares Verhalten eine Menge Rätsel auf. Sind die betagten Männer tatsächlich in den Tod Lauras verwickelt? Oder sind die sexuell ausschweifenden Partys in ihrem Elternhaus doch nicht spurlos an dem lebenslustigen Mädchen vorbeigegangen?

Ben Cooper, der eigentlich gerne auf der Karriereleiter weiter aufsteigen möchte, kennt die Familie von Harry schon lange. Doch nachdem er privat, seine Mutter ist unheilbar an Schizophrenie erkrankt, eine Menge Problem am Hals hat, unterlaufen Ben bei seinen Ermittlungen schwere Fehler. Die ehrgeizige Diane Fry weiß die Gunst der Stunde zu nutzen und zieht die richtigen Schlüsse.

Sehr geschickt und psychologisch ausgefeilt hält Stephen Booth seine Leser in Atem. Die handelnden Personen tummeln sich in einem brodelndem Milieu, das gleich einem Schnellkochtopf unter einem ungeheuren, ständig zunehmendem Druck steht. Für Außenstehende ist diese hitzige Konfrontation nur zu erahnen, doch Stück für Stück gewährt Booth seinen Lesern Einblick in die Zusammenhänge. Allerdings ist die ganze Geschichte, wie in einem richtig guten Krimi, erst am Schluss zu durchschauen.

Ein wenig erinnert das ungleiche Ermittler-Duo Cooper und Fry an den adligen Inspector Lynley mit seiner Assistentin Barbara Heavers bei Elizabeth George. Sie sind mit ihrer individuellen Biographie, Cooper ist mit seiner kranken Mutter beschäftigt und Diane Fry kaut schwer an einer früheren Vergewaltigung, ebenfalls wie ihre Vorbilder sehr komplex angelegt und man darf auf die Fortsetzung gespannt sein. In England ist bereits der zweite Fall von Cooper und Fry erschienen.
© manuela haselberger


Stephen Booth - Kühler Grund
Originaltitel: Black Dog, © 2000
Übersetzt von Regina Rawlinson
© 2002, München, Manhattan, 445 S., 21.90 € (HC)
© 2003-Mai, München, Goldmann, 448 S.,   8.00 € (HC)





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Das jähe grelle licht tat den Augen der jungen Frau weh, als sie aus der Hintertür des Cottage ins Freie stürzte. Sie hastete barfuß über die Steinfliesen, und das Haar floss ihr in roten Wellen über die nackten Schultern.
Das Gezeter aus dem Haus endete abrupt, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Während sie den Gartenweg entlanglief, wirbelte zwischen den Platten der Staub der sonnengedörrten Erde auf. Der Dorn einer scharlachroten Strauchrose, die halb über den Weg rankte, riss ihr beim Vorbeilaufen den Arm auf, doch sie nahm den Schmerz kaum wahr.

»Warte!«, rief sie.
Aber das alte hölzerne Gartentor war schon geräuschvoll zugeschlagen, bevor sie es erreichte. Sie reckte sich über die Trockenmauer und hielt den alten Mann auf der anderen Seite am Ärmel fest. Trotz der Hitze trug er eine Wolljacke, und durch den Stoff hindurch fühlte sich sein Arm steif und sehnig an. Als die junge Frau fester zugriff, spürte sie, wie sich seine Muskeln über die Knochen schoben, als wäre sie mit ihrer Hand tief in seinen Körper eingedrungen.

Harry Dickinson blieb stehen und drehte den Kopf weg, um der Bitte in den Augen seiner Enkelin zu entgehen. Die einzige Veränderung in seinem Gesicht war ein leichtes Zucken der Mundwinkel, als er an Helen vorbei über die Reihe der steinernen Cottages blickte. Die Mauern mit den weiß gestrichenen Sprossenfenstern, die bereits im abendlichen Schatten lagen, kühlten allmählich ab, obwohl die Sonne noch immer tief über den Schieferdächern hing und gnadenlos vom Himmel brannte.

Harrys Pupillen zogen sich zu ausdruckslosen schwarzen Punkten zusammen, bis er den Kopf wendete, sodass ihn der Schirm seiner Mütze gegen die Sonne schützte.
Helen stieg der Geruch von Erde, Schweiß und Tieren in die Nase, der tief in die Wolle der Jacke eingedrungen war und nur überlagert wurde von dem vertrauten Duft kalten Tabakrauches. »Es hat keinen Sinn, einfach zu verschwinden. Früher oder später musst du den Tatsachen ja doch ins Gesicht sehen. Du kannst nicht ewig davonlaufen.«

Ein lautes Knattern, das hinter Harry durch das Tal hallte, ließ ihn zusammenfahren. Seit über einer Stunde rollte der Lärm nun schon über den dichten Wald, der bis in die Talsenke hinunterreichte. Das Geräusch prallte von den gegenüberliegenden Hängen zurück wie das wütende Flügelschlagen eines Vogels, hämmerte auf Ginster und Heidekraut ein und erschreckte die Schafe auf den höher gelegenen Hängen.

»Wir würden es verstehen«, sagte Helen. »Wir sind doch deine Familie. Wenn du nur mit uns reden wurdest... « Der alte Mann hielt den rechten Arm unnatürlich abgeknickt, sodass sich der Ärmel seiner Jacke zu einer hässlichen Ziehharmonika zusammenschob.

Helen wusste, dass die Wälder eine starke Anziehungskraft auf Harry ausübten, der er sich kaum entziehen konnte, auch wenn er sich noch so sehr dagegenstemmte. Einen Moment lang wirkte er unentschlossen, doch dann schienen die widerstreitenden Emotionen seine Abwehr noch zu verstärken. Seine Miene drückte Entschlossenheit aus, bei seinem einmal gefassten Entschluss zu bleiben.
»Granddad? Bitte.«

Sie spürte die scharfen Kanten der Gartenmauer durch ihre Shorts, und der linke Handteller tat ihr weh, wo sie sich an den schartigen Decksteinen aufgeschürft hatte. Nachdem sie, von ihren Gefühlen überwältigt, hinter ihm hergestürzt war, wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie spürte die Machtlosigkeit der Konventionen, die die Kommunikation unter Erwachsenen regelten selbst wenn sie zur selben Famlile gehörten. Genau wie ihrem Großvater fehlten auch ihr die Worte, um ihre Gefühle auszudrücken. Vor allem den Menschen gegenüber, die ihr am nächsten standen.

»Grandma ist wütend«, sagte Helen. »Aber sie beruhigt sich bald wieder. Sie macht sich doch nur Sorgen um dich.«
Helen war bei Harry immer ohne viele Worte ausgekommen. Er hatte stets genau gewusst, was sie wollte, und auf ihren Blick reagiert, auf das schüchterne Lächeln, auf den 5onnenglanz in ihrem Haar, auf die kleine Hand, die sich vertrauensvoll in die seine legte. Doch dieses Kind gab es nicht mehr, schon seit Jahren nicht mehr. Als Lehrerin hatte sie sich eine andere Form der Verständigung aneignen müssen, basierend auf Distanz, nicht auf Nähe. Aber Harry verstand sie noch immer. Er wusste, was sie in diesem Augenblick von ihm wollte. Doch er konnte es nicht tun, weil es seinen lebenslangen Gewohnheiten widersprach.

Nach und nach verebbte das Knattern, von den Bäumen und dem bergigen Gelände zu einem dumpfen Brummen abgemildert. Nun machten sich die leisen Geräusche des Abends bemerkbar - das Rascheln einer Brise in den Buchen, das Mühen einer Kuh im Tal, das Lied einer Lerche über dem Heidekraut. Harry lauschte, als hörte er eine Stimme, die niemand sonst vernehmen konnte. Sie verstärkte die Trauer in seinen Augen, aber auch seine Entschlossenheit. Er straffte den Rücken und ballte die Fäuste. Sein Griff um die abgewetzte schwarze Lederschlaufe, die er in der einen Hand hielt, wurde fester.
»Komm zurück und rede mit uns. Bitte, Granddad«, sagte Helen.

Sie hatte die Stimme nie gehört. Sie hatte es oft versucht, wenn sie beobachtete, wie sich der Gesichtsausdruck ihres Großvaters veränderte, aber nicht zu fragen gewagt, was er vernahm. Stattdessen hatte sie selbst die Ohren gespitzt, um vielleicht wenigstens ein schwaches Echo zu erhaschen. Wie die meisten Männer, die unter Tage gearbeitet hatten, verbrachte auch Harry so viel Zeit wie möglich an der frischen Luft. Wenn sie mit ihm zusammen war, konnte Helen die Geräusche des Waldes und des Himmels hören, die winzigen Bewegungen im Gras, die Richtungsänderungen des Windes, das Springen der Fische im Bach. Doch was ihr Großvater hörte, hatte sie nie gehört. Sie war in dem Glauben aufgewachsen, dass diese Stimme nur ein Mann vernehmen konnte.
»Wenn du schon nicht mit Grandma darüber sprechen willst, warum erzählst du es dann nicht wenigstens mir, Granddad?«

Langsam schwoll das Knattern wieder an, es kam auf sie zu, während es dem Verlauf der Straße folgte, die sich durch das Tal schlängelte. Es kam immer näher, über die steinigen Hänge der Raven's Side, um eine schroff hervortretende schwarze Felsennase herum, immer weiter auf das Dorf zu, bis es fast über ihnen war. Das Getöse war so laut, dass jede Verständigung unmöglich war. Ausgerechnet in diesem Moment entschloss Harry sich, etwas zu sagen, trotzig erhob er die Stimme, um sich gegen den Lärm durchzusetzen.
»Verdammte Radaubrüder«, sagte er.

Der Hubschrauber stand reglos in der Luft, der blaue Rumpf flirrte im Schatten der Rotorblätter. In der Kabine beugte sich ein Mann nach vorn und starrte auf die Erde. Der Hubschrauber trug die Aufschrift POLIZEI.

»Sie suchen das vermisste Mädchen«, sagte Helen, der die Worte regelrecht von den Lippen gerissen wurden. »Die Kleine aus der Villa.«
»Aye, gut. Aber müssen sie deswegen so einen Krach machen?« Harry räusperte sich ausgiebig und spuckte den Schleim in das gelbe Jakobskraut neben dem Gartentor.

Als wäre er beleidigt, wandte sich der Hubschrauber plötzlich vom Dorfrand ab und schwebte auf eine Reihe hoher Nadelbäume zu, die auf dem Grundstück eines großen weißen Hauses wuchsen. Die Klanghöhe veränderte sich, als das Geräusch an dem Gebäude vorbeiglitt und über die Dächer und Schornsteine streifte, wie ein Echolot, das einen Tiefseegraben abtastete. S. 7-10

Lesezitate nach Stephen Booth - Kühler Grund



© 11.6.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de