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Die Behandlung
Mo Hayder - Die Behandlung

ie Zeiten, in denen von Krimiautorinnen sanfte Häkelkrimis zu erwarten waren, scheinen endgültig vorbei zu sein. Die Engländerin Mo Hayder, die bereits mit ihrem Erstling "Der Vogelmann" eine harte Gangart im Genre angeschlagen hat, mutet auch in ihrem Folgeband "Die Behandlung" dem Leser einiges zu.

Inspector Caffrey hat eine schwierige Aufgabe, als er den kleinen Jungen der Familie Peach suchen soll. Ein Unbekannter hat sie überfallen und drei Tage in ihrem Haus festgehalten. Beide Eltern sind nicht in der Lage über diese Zeit des Schreckens zu sprechen. Nun ist dieser Mensch mit ihrem Sohn verschwunden. Nach und nach kristallisiert sich heraus, dass die Familie nicht ganz unbeteiligt war an diesem Verbrechen. Immer wieder drängen sich Caffrey Parallelen zu seiner eigenen Vergangenheit auf. Sein eigener Bruder verschwand im Alter von neun Jahren ebenfalls spurlos und bis heute lässt ihn dies nicht zur Ruhe kommen.

Doch die Zeit eilt, denn der Täter hat schon neue Opfer im Auge. Wieder eine Familie mit einem kleinen Sohn.... Und Caffrey täuscht sich nicht als er deprimiert konstatiert: "Scheint so, als ob sich die Dinge allmählich zu einem monströsen Bild fügen."

Die Spannung, die Mo Hayder erzeugt, ist nicht zu überbieten, doch die Fakten um den psychopathischen Täter und dem Thema Kindesmissbrauch, - sie erspart hier keine noch so ekelerregenden Details, sind nicht dazu geeignet, die Nachtruhe des Lesers zu fördern. Etwas zu kurz kommt allerdings die titelgebende "Behandlung" in der handschriftlichen Abhandlung am Ende des Buches. Zugegeben, keine schlechte Idee, doch die Chance, eine tiefere psychologische Ausleuchtung ihres Täters hat Mo Hayder damit leider nicht ergriffen.

Eine deutliche Warnung: "Die Behandlung" ist nichts für zartere Gemüter, doch wer gerne einmal wieder eine schlaflose Nacht einlegen und sich so richtig durch ein Buch hetzen lassen möchte, bitteschön, diese Garantie kann gegeben werden. Sie haben es so gewollt.
© manuela haselberger


Mo Hayder - Die Behandlung
Originaltitel: The Treatment, © 2001
Übersetzt von Christian Quatmann

© 2002, München, Goldmann Verlag, 497 S., 22.90 € (HC)
© 2002, München, BMG Wort, 6 CDs., 39.50 € (CD)
© 2002, München, BMG Wort, 4 Cass., 39,50 € (Cass)




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1. KAPITEL (17. Juli)

Als alles vorbei war, musste sich Detective Inspector Jack Caffery von der Mordkommission Südlondon eingestehen, dass ihn an jenem wolkenverhangenen Juliabend in Brixton am meisten die Krähen aus der Fassung gebracht hauen.
Sie waren schon da, als er aus dem Haus der Familie Peach trat - gut zwanzig Vögel, die ihn vom Rasen des Nachbargartens aus zu beobachten schienen und sich weder um die Polizeiabsperrung scherten noch um die Neugierigen oder die Beamten von der Spurensicherung. Einige der Krähen hatten den Schnabel geöffnet, während andere nach Luft zu schnappen schienen. Sie starrten ihn an, als wüssten sie, was in dem Haus passiert war. Als machten sie sich insgeheim darüber lustig, wie sehr ihn der Anblick schockiert hatte, der sich ihm am Tatort geboten hatte, und als spotteten sie über seine unprofessionelle Reaktion, darüber dass er die ganze Geschichte viel zu persönlich nahm.

Erst später gestand er sich ein, dass das Verhalten der Krähen völlig normal gewesen war, dass sie keinesfalls seine Gedanken gelesen oder gewusst haben konnten, was der Familie Peach Schreckliches zugestoßen war. Doch in diesem Moment ließ ihn bereits der Anblick der schwarzen Vögel erschaudern. Am Ende des Gartenweges blieb er stehen, streifte den Schutzanzug ab und reichte ihn einem Kriminaltechniker. Dann schlüpfte er in die Schuhe, die er jenseits des Absperrbands aus Plastik hatte stehen lassen, und ging auf die Vögel zu. Sie schlugen mit ihren blauschwarzen Flügeln, flatterten hoch und setzten sich ein Stück entfernt in einen Baum.

Der Brockwell Park im Süden Londons ist ein aus Baumgruppen und Wiesenflächen bestehendes, riesiges Dreieck, dessen Spitze bis zum Bahnhof Herne Hill reicht. Wie ein Riegel schiebt sich die knapp zwei Kilometer lange Grünfläche durch die Stadtlandschaft. Westlich des Parks liegt Brixton, wo die Gemeindearbeiter am frühen Morgen manchmal Sand auf die Straße streuen, um das nachts vergossene Blut zu bedecken. Im Osten grenzt der Park an den Stadtteil Dulwich mit seinen blumengeschmückten Altenresidenzen und neoklassizistischen gläsernen Kuppeldächern. Donegal Crescent, wie die Adresse des Tatorts lautete, lag unmittelbar am Rand dieses Parks. Am Anfang der ruhigen, kleinen Straße lag eine mit Brettern vernagelte Kneipe, an ihrem Ende ein indischer Lebensmittelladen. Ansonsten war sie von Reihenhäusern des sozialen Wohnungsbaus aus den Fünfzigerjahren gesäumt. In den Vorgärten wuchsen weder Bäume noch Blumen, und die Fenster und Türen waren braun gestrichen. Nach vorne gingen die Häuser auf eine ungepflegte, hufeisenförmige Grasfläche hinaus, wo sich gegen Abend Kinder auf ihren Fahrrädern austobten. Caffery konnte sich gut vorstellen, dass sich die Peaches hier ziemlich sicher gefühlt hatten.

Er stand mit hochgekrempelten Ärmeln vor dem Haus und war froh, endlich wieder an der frischen Luft zu sein. Er drehte sich eine Zigarette und schlenderte dann zu einigen Beamten hinüber, die neben dem Einsatzwagen der Spurensicherung standen. Ms er näher kam, brachen die Männer ihr Gespräch ab. Er wusste genau, was sie dachten. Obwohl Caffery erst Mitte dreißig und durchaus kein hohes Tier war, eilte ihm in Südlondon ein gewisser Ruf voraus. Ja, die Police Review hatte ihn sogar einmal als einen "unserer jung-dynamischen Aufsteiger" bezeichnet. Er wusste also, dass er in Polizeikreisen hohes Ansehen genoss, und fand diese Vorstellung eher komisch. Wenn die wüssten, dachte er nur und hoffte, dass keiner der Beamten seine zitternden Hände bemerken würde.

"Und?" Er zündete die Zigarette an und starrte auf eine versiegelte Plastiktüte, die ein junger Kriminaltechniker in der Hand hielt. "Was gefunden?"
"Wir haben das hier drüben im Park entdeckt, vielleicht zwanzig Meter hinter dem Haus der Familie Peach."

Caffery betrachtete den Inhalt der Tüte, einen Kinderturnschuh von Nike, der kaum größer war als seine Handfläche. "Wer hat den gefunden?"
"Die Hunde, Sir."
"Und?"
"Kurz darauf haben sie leider die Spur verloren. Zuerst waren sie ganz wild, kaum zu halten." Ein Sergeant, der das blaue Hemd der Hundeführerstaffel trug, stand auf den Zehenspitzen und wies über die Dächer zu der Stelle, wo in der Ferne die Bäume des Parks dunkel in den Himmel ragten. "Zuerst sind sie die ganze Zeit dem Weg am westlichen Rand des Parks gefolgt, aber nach ungefähr einem Kilometer war plötzlich Schluss." Er blickte skeptisch zum Abendhimmel auf. "Und jetzt wird es auch noch dunkel."

"Ja, leider. Am besten, wir fordern Suchhubschrauber an." Caffery gab dem jungen Mann den Turnschuh zurück. "Verwahren Sie das Ding in einer luftdichten, sterilen Tüte."
"Wie bitte?"
"Haben Sie etwa nicht gesehen, dass Blut daran klebt?"

Die Scheinwerfer des Helikopters flammten auf und tauchten das Haus der Familie Peach und die Bäume unten im Park in gleißendes Licht. Im Vorgarten untersuchten Beamte der Spurensicherung in blauen Gummianzügen Zentimeter für Zentimeter den Rasen auf Spuren. Und jenseits des Absperrbandes standen die schockierten Nachbarn in kleinen Gruppen rauchend und flüsternd beisammen und umdrängten sogleich neugierig jeden Kripobeamten, der ihnen zu nahe kam. Auch die Presse war schon da und wartete ungeduldig auf Neuigkeiten.

Caffery stand neben dem Wagen der Einsatzleitung und blickte nachdenklich auf das Haus, ein zweistöckiges Reihenhaus mit grobem Kieselputz. Die Fensterrahmen waren aus Aluminium, über der Haustür sah man einen feuchten Fleck, und oben auf dem Dach war eine Satellitenschüssel installiert. In den Fenstern hingen weiße Gardinen, dahinter zugezogene dunkle Vorhänge.

Caffery hatte die Familie Peach - beziehungsweise das, was von ihr noch übrig war - zwar erst hinterher zu Gesicht bekommen, aber die Leute kamen ihm dennoch bekannt vor. Beziehungsweise nicht sie selbst, sondern der Typ, den sie verkörperten. Die Eltern, Alek und Carmel, gehörten nicht unbedingt zu jenen Opfern, die automatisch das Mitgefühl der Ermittler weckten: Beide waren Alkoholiker, beide waren arbeitslos, und Carrnel Peach hatte sogar die Sanitäter beschimpft, als man sie zum Rettungswagen gebracht hatte. Den neunjährigen Rory, den einzigen Sohn des Paares, hatte Caffery allerdings nicht gesehen. Als er am Tatort eingetroffen war, hatten die Beamten des zuständigen Reviers schon das halbe Haus auseinander genommen und bereits in sämtlichen Schränken, auf dem Dachboden, ja sogar hinter der Wandvertäfelung nach dem Jungen gesucht. In der Küche hatte man einen Blutspritzer auf der Fußleiste entdeckt und in der Tür, die nach hinten in den Garten hinausführte, eine zertrümmerte Scheibe. Gemeinsam mit einem anderen Beamten war Caffery zu einem mit Brettern vernagelten Nachbarhaus gegangen, hatte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt und war dann auf dem Bauch durch ein Loch in der Hintertür in das Haus hineingekrochen. Entdeckt hatten die beiden allerdings nur die üblichen Obdachlosen-Hinterlassenschaften. Ansonsten kein Lebenszeichen. Auch von Rory Peach keine Spur. Alles in allem sprachen die Fakten eine sehr deutliche Sprache, und für Caffery beschworen sie zudem Ereignisse aus seiner Vergangenheit herauf, Erinnerungen, gegen die er sich nicht wehren konnte. Hör endlich auf mit dem Schwachsinn, ]ack. Pass auf, dass du nicht noch mal völlig ausrastest.

"Jack?" Wie aus heiterem Himmel stand plötzlich seine Chefin, Chief Inspector Danniella Souness, neben ihm. "Alles in Ordnung?"
Er sah sie an. "Danni, mein Gott, gut, dass Sie da sind."
"Was ist hier eigentlich los? Sie sehen ja verboten aus."
"Danke, Danni." Er rieb sich mit den Händen über das Gesicht und streckte seine Glieder. "Ich bin ja auch schon seit Mitternacht in Bereitschaft. "
"Und was genau ist hier los?" Sie zeigte auf das Haus. "Hab ich recht verstanden - ein kleiner Junge wird vermisst? Rory?" "Ja. Eine ganz üble Geschichte. Der Junge ist erst neun Jahre alt."

Souness atmete hörbar aus und schüttelte den Kopf. Sie war stämmig gebaut und nur eins sechzig groß, doch in ihrem Männeranzug und den schweren Stiefeln brachte sie glatt siebzig Kilo auf die Waage. In diesem Aufzug, mit ihrem kurz geschorenen Haar und ihrer blassen Haut sah sie eher wie ein jugendlicher Straftäter bei seinem ersten Gerichtstermin aus als eine vierzigjährige Chefinspektorin. Doch das täuschte. Sie nahm ihren Job ausgesprochen ernst. "Und was sagen die Kollegen von der Kripo?"
"Die haben sich hier noch nicht blicken lassen."
"Typisch - die faulen Säcke."
"Die Jungs vom zuständigen Revier haben schon die ganze Bude auseinander genommen, aber bisher nichts gefunden. Ich hab Suchtrupps und Hundestaffeln in den Park geschickt und Suchhubschrauber angefordert."
"Und woher wissen Sie, dass der Kleine sich im Park befindet?"
"Die Häuser hier stehen alle direkt am Rand des Parks." Er wies auf die Bäume, die hinter den Dächern aufragten. "Außerdem gibt es einen Zeugen, der gesehen hat, wie irgendetwas das Haus Nummer dreißig durch die Hintertür verlassen hat und dann zwischen den Bäumen verschwunden ist. Im Übrigen war die Hintertür nicht abgeschlossen, und dann gibt es noch ein Loch im Zaun. Außerdem haben unsere Jungs am Rand des Parks einen Schuh gefunden."
"Okay, okay. Klingt plausibel." Souness verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete aufmerksam die Kriminaltechniker, die Fotografen und die Beamten des zuständigen Reviers, die geschäftig herumliefen. S. 5-9

Lesezitate nach Mo Hayder - Die Behandlung










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Mo Hayder
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Der Vogelmann

© 2002

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Der Vogelmann

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Der Vogelmann
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Der Vogelmann
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© 13.6.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de