"Unser kleiner Tanz."
Die drei Tage alten Stoppeln im Gesicht des Betrunkenen durchschnitt ein Lächeln. Bosch sah, dass ihm ein Zahn fehlte, der ihm letztes Mal noch nicht gefehlt hatte. Er legte die Hand auf das Tonbandgerät, stellte es aber noch nicht an.
"Steh auf. Wir müssen reden."
"Sie haben sie wohl nicht alle. Ich habe keine Lust"-"Du hast nicht mehr viel Zeit. Sprich mit mir."
"Lassen Sie mich in Ruhe, verdammte Scheiße noch mal."
Bosch blickte zum Fenster hoch. Es war frei. Er sah wieder auf den Mann am Boden hinab.
"Dein Heil liegt in der Wahrheit. Jetzt mehr denn je. Ohne die Wahrheit kann ich dir nicht helfen."
"Sind Sie jetzt plötzlich ,n Priester, oder was? Wollen Sie mir die Beichte abnehmen?"
"Willst du sie denn ablegen?"
Der Mann auf dem Boden sagte nichts. Nach einer Weile dachte Bosch, er wäre vielleicht wieder eingeschlafen. Wieder stieß er dem Mann die Schuhspitze in die Seite, in die Niere. Der Mann explodierte in Bewegung, schlug mit Armen und Beinen um sich.
"Leck mich!", brüllte er. "Hau ab. Ich will einen Anwalt." Einen Moment blieb Bosch still. Er nahm das Tonbandgerät und steckte es in seine Tasche zurück. Dann beugte er sich vor, die Ellbogen auf den Knien, die Hände verschränkt. Er sah den Betrunkenen an und schüttelte langsam den Kopf.
"Dann kann ich dir wohl nicht helfen", sagte er.
Er stand auf und sah durch das Fenster nach dem diensthabenden Sergeant. Er ließ den Mann auf dem Boden liegen.
"Wir kriegen Besuch."
Terry McCaleb sah seine Frau an und folgte dann Ihrem Blick auf die gewundene Straße hinab. Er konnte den Golf-Cart die steile, kurvenreiche Straße zum Haus heraufkommen sehen. Der Fahrer war durch das Dach des Gefährts verdeckt.
Sie saßen auf der hinteren Terrasse des Hauses, das er und Graciela in der La Mesa Avenue gemietet hatten. Die Aussicht reichte von der schmalen, kurvenreichen Straße unterhalb des Hauses bis nach Avalon und seinem Hafen und dann über die Santa Monica Bay hinaus zu der Smogschicht, die das Festland anzeigte. Diese Aussicht war der Grund dafür gewesen, daß sie sich bei ihrem Umzug auf die Insel für dieses Haus entschieden hatten. In dem Moment, in dem seine Frau sprach, hatte sein Blick jedoch auf dem Baby in ihren Armen geruht, nicht auf der Aussicht. Er konnte nicht weiter sehen als bis zu den großen blauen vertrauensvollen Augen seiner Tochter.
McCaleb sah die Mietnummer an der Seite des unter ihm vorbeifahrenden Golf-Carts. Es war kein Einheimischer, der sie besuchen kam. Es war jemand, der wahrscheinlich mit der Catalina-Express-Fähre vom Festland gekommen war. Trotzdem fragte er sich, woher Graciela wusste, dass der Wagen zu ihrem Haus unterwegs war und nicht zu einem der anderen in der La Mesa.
Er fragte sie nicht danach - sie hatte schon öfter solche Vorahnungen gehabt. Er wartete bloß, und kurz nachdem der Golf-Cart verschwunden war, klopfte jemand an der Haustür. Graciela ging öffnen und kehrte wenig später mit einer Frau, die McCaleb drei Jahre nicht mehr gesehen hatte, auf die Terrasse zurück. S. 5-7
Nachdem er zu einer neuen Seite seines Notizbuchs weitergeblättert hatte, schlug er die Mordakte auf. Er ließ die Ringe aufschnappen1 nahm die Dokumente heraus und schichtete sie ordentlich auf dem Schreibtisch auf. Das war eine Marotte von ihm, aber es gefiel ihm nicht, einen Fall so zu studieren, als blätterte er in den Seiten eines Buches. Es gefiel ihm, die einzelnen Berichte in den Händen zu halten. Es gefiel ihm, die Kanten des ganzen Stapels ordentlich auszurichten. Er legte den Ordner beiseite und begann die Ermittlungsresümees in chronologischer Reihenfolge aufmerksam durchzulesen. Bald war er ganz in die Akten vertieft.
Der Mord war am Mittag des ersten Januar, einem Montag, in der West Hollywood Station des Los Angeles County Sheriff's Department gemeldet worden. Der anonyme Anrufer sagte, in Wohnung 2B der Grand Royale Apartments in der Sweetzer Avenue auf Höhe der Melrose Avenue sei ein Toter. Danach hängte der Mann auf, ohne seinen Namen zu nennen oder sonst noch etwas zu sagen. Weil der Anruf nicht auf einer Notrufleitung einging, wurde er nicht aufgezeichnet. Ebenso wenig war es möglich, mittels einer Fangschaltung seine Herkunft festzustellen.
Die zwei Deputies, die zu der Wohnung geschickt wurden, fanden die Tür angelehnt vor. Nachdem sich auf ihr Klopfen und ihre Rufe niemand meldete, betraten sie die Wohnung und stellten rasch fest, dass die Angaben des anonymen Anrufers stimmten. In der Wohnung war ein toter Mann. Die Deputies verließen die Wohnung und verständigten das Morddezernat. Der Fall wurde Jaye Winston und Kurt Mintz zugeteilt. Die Leitung der Ermittlungen hatte Winston.
Das Opfer wurde in den Untersuchungsberichten als der vierundvierzigjährige Anstreicher Edward Gunn identifiziert. Er hatte neun Jahre allein in der Wohnung in der Sweetzer Avenue gelebt.
Eine Computerüberprüfung auf Vorstrafen oder aktenkundige Straftaten hin ergab, dass Gunn wegen einer ganzen Reihe von geringfügigen Vergehen vorbestraft war. Diese reichten von Ansprechen von Prostituierten und Herumtreiberei bis zu wiederholten Festnahmen wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit und am Steuer. Allein in den drei Monaten vor seinem Tod war Gunn zweimal wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet worden, unter anderem auch am Vormittag des 31. Dezember. Er wurde gegen Kaution wieder freigelassen. Keine 24 Stunden später war er tot. Die Kartei enthielt auch eine Festnahme wegen eines Kapitalverbrechens, die jedoch zu keiner Verurteilung geführt hatte. Gunn war sechs Jahre vor seinem Tod vom Los Angeles Police Department wegen Mordes festgenommen und vernommen worden. Er wurde jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt, ohne dass Anklage gegen ihn erhoben wurde.
Laut den Ermittlungsberichten, die Winston und ihr Partner in die Mordakte aufgenommen hatten, gab es keine Hinweise darauf, dass irgendwelche Gegenstände aus Gunns Wohnung entwendet worden waren, sodass das Motiv für seine Ermordung unklar blieb. Bewohner der restlichen sieben Wohneinheiten des Hauses erklärten, sie hätten am Silvesterabend nichts Ungewöhnliches aus Gunns Wohnung gehört. Falls bei seiner Ermordung dennoch irgendwelche Geräusche entstanden sein sollten, wurden sie vermutlich vom Lärm der Silvesterfeier übertönt, die ein Mieter in der Wohnung direkt unter der Gunns veranstaltet hatte. Die Party hatte sich bis weit in die frühen Morgenstunden des ersten Januar hineingezogen. Laut Aussagen mehrerer vernommener Partygäste war Gunn weder auf der Party gewesen noch zu ihr eingeladen worden. S. 40-41
Lesezitate nach Michael Connelly - Dunkler als die Nacht