Die zwei standen auf dem Bürgersteig vor dem Kinderheim. Es war ein quadratischer viktorianischer Kasten aus grauem Stein; das einzige freistehende Einzelhaus auf dieser Straßenseite. Direkt gegenüber befand sich ein Sozialwohnungskomplex, ein Betonlabyrinth, das die Sonne aussperrte und die schmale Straße in Schatten tauchte.
Tom Reynolds, der im Wagen wartete, stellte jetzt den Motor ab und schien aussteigen zu wollen. Susan schüttelte den Kopf. Sie waren ohnehin schon spät dran. Nur noch ein paar Minuten, und sie würden unweigerlich in den Rushhourverkehr geraten. Einige Jungs aus der Sozialsiedlung spielten auf der Straße Fußball, warfen sich mit jedem Schuss Beleidigungen an den Kopf, bemerkten nichts von der Abschiedsszene, die sich vor ihren Augen abspielte.
Susan zitterte. Obwohl erst Anfang Oktober, blies der Wind bereits recht frisch und kündete vom nahenden Winter. Ein älteres Paar ging bepackt mit Lebensmitteln vorüber und warf Sean einen mitfühlenden Blick zu. Im Stillen verfluchte sie Michael. Darauf konnte sie im Moment wirklich verzichten. "Ich hab's dir doch gesagt, Sean", sagte sie mit einem schärferen Ton als beabsichtigt. "Wir können ihn nicht finden. Es tut mir sehr Leid, aber so ist es nun mal." S. 7
2. KAPITEL
Am nächsten Abend traf sich Michael auf einen Drink mit seinem Freund George.
Viel Zeit hatte er jedoch nicht. Rebecca hatte für später einen Termin vereinbart, um sich mit ihm die Wohnung anzusehen. Sie trafen sich in einer Weinstube an der St. Paul's: ein Kellerlokal mit Fässern als Tische und Sägemehl auf dem Boden. Gäste erhielten in der Weinstube kostenlos eine Schale mit Käsekräckern, und als Michael eintraf, saß George bereits mit einem Glas Wein und munter mampfend in der Ecke.
Michael nahm Platz. Die Kräckerschale war fast leer. "Freut mich, dich essen zu sehen. Du musst doch groß und stark werden."
George griff nach den letzten Kräckern. "Schrecklich, stimmt's? Wenn ich noch dünner werde, breche ich in der Mitte durch." Er hatte das Jackett ausgezogen, sein Hemd spannte über dem gewaltigen Bauch. Er war klein und rund, hatte ein pausbäckiges Babygesicht. "Ich hab dir schon mal ein Glas Wein bestellt", sagte er.
"War das in Ordnung?"
Michael nickte. "Danke. Wie war dein Tag? "
"Viel wichtiger: Wie war deiner?"
"Frag nicht." Zwischen ihnen auf dem Fass stand eine Kerze. Michael feuchtete einen Finger an und begann, ihn durch die Flamme pendeln zu lassen. George beobachtete ihn. "Machen sie dir das Leben immer noch schwer?"
"Manche, und es kotzt mich an. Ein Fehler, mehr war's ja nicht. Aber das ist typisch für den Laden. Du machst nur einen einzigen Schnitzer, und schlagartig vergisst jeder alle positiven Sachen. Ich bin gut in meinem Job. Ich bin derjenige, zu die' Referendare kommen, wenn sie Hilfe brauchen. Auch Leute auf meinem eigenen Level. Ich habe die Übernahme dieser Druckerei praktisch im
Alleingang gemeistert, und das war bestimmt kein Klacks. Der Mandant hat mir nach erfolgreichem Abschluss Champagner geschickt. Jeder war begeistert, alles sieht wunderbar aus, dann ein einziger verfluchter Anruf, und plötzlich bekommt die ganze Angelegenheit einen schalen Beigeschmack."
"Es war ein Mandant", sagte George unbeholfen.
"Na und? Es war ja nicht so, dass ich geflucht oder ihn Idiot genannt hätte. Ich war einfach nur -", er unterbrach sich, suchte nach dem richtigen Wort, "- ein bisschen kurz angebunden. Ich war gestresst. So was kommt doch vor. Er klang nicht mal so, als würde ihm das besonders viel ausmachen. Dann werde ich plötzlich ins Büro des geschäftsführenden Sozius zitiert und erhalte eine förmliche Verwarnung, und jetzt hab ich das Gefühl, dass sie mich ständig beobachten und nur darauf warten, dass ich Mist baue. Wir haben ein neues Mandat erhalten, eine Unternehmensfusion. Ich arbeite an der Sache mit diesem Wichser, Graham Fletcher, der mir die ganze Arbeit aufhalsen und versuchen wird, mich zu feuern, sollte mir auch nur der kleinste Fehler unterlaufen."
Michael sprach nicht weiter. Sein Gesicht war gerötet, er atmete schwer. "Tut mir Leid. Du bist nicht hier, um dir so was anzuhören. Schimpfkanonaden. "
Georges Miene drückte Verständnis aus. "Schon okay."
Michael lehnte sich zurück und richtete den Blick zur Decke. "Es kommt mir nur einfach so vor, als verbrächte ich mein ganzes Leben mit dem Versuch, mich einzufügen und anzupassen, aus Angst, dass mir alles, was in meinem Leben gut ist, entrissen werden könnte. So wie gestern Abend. Wir waren mit Beckys Eltern essen. Den ganzen Abend glotzt mich ihr Vater an, als wäre ich ein Haufen Dreck, und ihre Mutter versucht ständig, einen Streit von~ Zaun zu brechen, und ich muss brav dasitzen und lächeln und eine Miene machen, als wäre ich glücklich, dort sein zu dürfen." Er holte tief Luft. "Manchmal hab ich das Gefühl, als würde ich jeden Augenblick explodieren."
"Besser bei denen als in der Arbeit, was?", schlug George vor.
"Wirklich? In beiden Fällen könnten die Folgen katastrophal sein."S. 38-39
Sie merkte, dass sie an Michaels Freund George dachte. An den pummeligen, chaotischen George. Der Tink Winky des Rechnungswesens. Sie wusste, dass er allein war, und fragte sich, ob er ihn mit Emily bekannt machen sollte. Er war kaum, um einen Ausdruck ihrer Mutter zu benutzen, die Antwort auf die Gebete einer Jungfrau. Aber er war witzig und sehr nett, und Emily verdiente etwas Anständiges und Zuverlässiges. Sie beschloss, mit Mike darüber zu reden, ob er es für eine gute Idee hielt. Hoffentlich.
Sie beobachtete, wie Emily ihre Gabel auf den Tisch legte, der Teller noch halb voll. Keine Glanzleistung, aber es hätte schlimmer sein können.
"Fertig?"
"Dann lass uns zu dieser Espressobar am Gericht gehen und eine große heiße Schokolade mit Sahne trinken. Ich lade dich ein, also keine Diskussion."
Zum ersten Mal lachte Emily jetzt. "Ich würde es nicht wagen." Arm in Arm marschierten sie zur Tür.
Michael saß mit Rebecca auf der Couch und sah Boulevard der Dämmerung. Im Zimmer war es dunkel. Das einzige Licht kam von dem flackernden Bildschirm.
Auf dem Tisch vor ihm lag eine große Toblerone. Ein weiteres wesentliches Element ihrer Freitagabendrituale. Rebecca streckte die Hand danach aus. Er gab ihr einen Klaps auf den Arm. "Vielfraß. "
"Stimmt gar nicht."
"Du hast gerade erst ein riesiges Curry gegessen."
"Du hast das Curry gegessen. War mir viel zu scharf." Sie brach zwei Schokoladendreiecke ab und reichte ihm eines.S. 62
Er schaute zur Decke und beobachtete, wie die Schatten darüber tanzten. "Wissen Sie", sagte er ruhig, "manchmal wünsche ich, dass ich sie noch einmal sehen könnte. Die Chance bekäme, ihr zu sagen, dass ich verstehe, was für ein Leben sie geführt haben muss, und dass ich sie nicht hasse für das, was in meinem passierte."
"Und wenn Sie diese Chance bekämen", fragte Max einfühlsam, "denken Sie, Sie würden ihr das alles sagen können?"
"Ich weiß es nicht", antwortete er aufrichtig. "Ich hoffe es."
Er nahm sein Glas und drehte es in der Hand, beobachtete, wie sich in der dunklen Flüssigkeit das Licht der Kerze brach.
"Und Sie?", fragte er. "Denken Sie manchmal an Ihre Eltern?" Max schüttelte den Kopf.
"Überhaupt nicht?"
"Ich war so jung, als sie starben. Sie sind für mich nicht real. Nur diffuse Bilder, genau wie Ihre Mutter für Sie. Meine Kindheitserinnerungen kreisen ausschließlich um die Lexden Street." Max lächelte. "Und um den Laden an der Ecke." In der Luft hing der Duft des Zigarrenrauchs, den Michael beruhigend fand. Hinter sich hörte er gedämpft die anderen Unterhaltungen.
Er wusste, es war schon spät, und morgen hatte er einen arbeitsreichen Tag vor sich. Aber es gefiel ihm in diesem Lokal, und er wollte noch bleiben und reden. "Es ist schrecklich", sagte er langsam, "das Bedürfnis nach Liebe. Es macht einen verletzlich. Es kann einen dazu bringen, Dinge zu tun, die man eigentlich gar nicht tun will."
"Zum Beispiel, was?"
"Im Heim gab es einen Mann namens Cook. Er hatte ein Milchgesicht und einen kupferroten Bart und sah aus wie ein großer Teddybär. Er kannte sich aus mit dem Bedürfnis nach Liebe. Wusste, wie man es ausnutzen konnte. Er mochte Kinder, wissen Sie.S. 86
"Wenn er dafür sorgt, dass gegen Sie keine Anzeige wegen Körperverletzung erstattet wird, würde ich dafür sorgen, dass Robert eine Liste neuer Mandanten erhält, die beeindruckend genug ist, um ihm noch vor Jahresende eine Partnerschaft zu garantieren."
"Und er war einverstanden?"
"Natürlich. Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, dass jeder eine Schwachstelle besitzt. Und die von Mr. Blake ist die Liebe zu seinen Kindern."
Die Wortwahl beunruhigte ihn. "Liebe sollte keine Schwäche sein."
"Oh, ist sie aber. Die größte dem Menschen bekannte Schwäche. Sie kann einem schneller die Kräfte rauben als jede Krankheit, und dagegen gibt es keine Therapie."
Während er sprach, hielt Max den Blick fest auf die vor ihm liegende Straße gerichtet. Michael spürte, dass Max, obwohl die Worte an ihn gerichtet waren, eigentlich mit sich selbst sprach.
Er vertraute Max, fühlte sich aber immer noch unbehaglich. Er lehnte sich zurück und versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren.S. 298
Also legte ich einen Schwur ab. Ein Versprechen an mich selbst, dass ich eines Tages soviel Macht haben wurde, mir niemals mehr von jemandem wehtun lassen zu müssen.
Und das ist das Schreckliche an der Liebe. Sie ist die endgültige Kapitulation der Macht. Wenn man jemanden liebt, verleiht man ihm die Macht, einem die schlimmsten Schmerzen zuzufügen, und man kann ihn nicht daran hindern. Es sei denn, man kontrolliert ihn vollkommen."
Sie schüttelte den Kopf. "Ich würde dir niemals wehtun."
"Das weiß ich. Nicht meine Emmie." Ein Seufzen. .Wenn nur Michael so gedacht hätte wie du."
Seine Worte waren wie ein Messer, das ihr Gehirn durchbohrte.
Seine Hand streichelte weiter über ihr Haar. "Armer Michael. Rebecca hat ihm alles bedeutet. Er wird mich mehr als je zuvor brachen, jetzt, wo sie nicht mehr lebt."
Ihre Arme waren immer noch um seinen Hals geschlungen. Blut von ihren Ärmeln hinterließ Flecken auf seiner Haut, aber er zeigte keinerlei Reaktion. Sein Blick war weiterhin voller Mitgefühl und Verständnis auf sie gerichtet.
"Arme Emmie. Du hast etwas viel Besseres verdient als mich. Jemanden, der dich so lieben könnte, wie du es dir wünschst. So wie diese Mutter in der Radiosendung ihre zweite Tochter liebte. Diejenige, für die sie alles andere geopfert hätte, was ihr etwas bedeutete. Ich hätte dich so lieben können. Du hättest diese Macht über mich gehabt, hätte Michael sie nicht zuerst beansprucht."
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie fühlte sich, als zerfiele sie. Verlöre ihre Gestalt. Hörte auf zu existieren.
"Ich bin nichts", flüsterte sie.
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Lesezitate nach Patrick Redmond - Der Schützling