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Auf eigenen Füßen stehen
Gérald Métroz - Ich lass mich nicht behindern

Gérald Métroz ist ein wahres Muli-Talent: Sport geht ihm über alles, Eishockey, Basketball, Tennis stehen an erster Stelle. Nicht unbedingt Sportarten, die gut geeignet sind, um sie mit einer Behinderung auszuüben. Doch davor schreckt der Schweizer nicht zurück.

Im Alter von zwei Jahren hatte er als kleiner Junge einen schrecklichen Unfall. Ein Zug fuhr ihm fast in Hüfthöhe beide Beine ab. Doch Gérald macht sich bereits als Schüler den Wahlspruch seines Vaters zu Eigen: "So sein wie die anderen." Und das erst recht im Sport. Den jungen Mann bringt sein Ehrgeiz bis zur Teilnahme an den Paralympics 1996 in Atlanta. Bis dahin verdiente er sich sein Geld als Radio -Journalist, ist für zwei Jahre nach Amerika gereist und hat dort gelebt. Zurück in der Schweiz gründete er seine eigene Firma, die professionelle Hockey Spieler betreut und an Vereine vermittelt.

Mit einer ganz unglaublichen Kraft, meistert er alle Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellen und so setzt er mittlerweile seine Prothesen eher selten ein, fährt mit dem Rollstuhl oder dem Auto und am liebsten bewegt er sich auf den Händen. Für seine Umwelt sicher ein ungewohnter Anblick, doch Métroz hat seine eigene Mitte gefunden und stört sich nicht an aufdringlichen Blicken.

Für ihn gilt, "dass nichts im Leben unmöglich ist, wenn man es nur will und sich organisiert." Mittlerweile hat der umtriebige junge Mann beruflich eine neue Kehrtwende hingelegt, ein Buch veröffentlicht und spielt mit Hingabe Konzert-Gitarre. "Vielleicht ist unsere Existenz ein Puzzlespiel und wir müssen alles daransetzen, damit sich sämtliche Einzelteile in der richtigen Reihenfolge zusammenfügen lassen. Fehlt auch nur ein einziges Teil, ist das Bild nicht perfekt."

Perfekt gelungen ist allerdings seine Autobiografie "Ich lass mich nicht behindern". In einem nüchternen, sehr sachlichen Stil erinnert sich der heute 37-jährige an sein abwechslungsreiches Leben. Ergänzt wird sein eigenes Bild durch Aufzeichnungen seiner Mutter über den Unfall sowie durch Briefe seiner Lehrer, Freunde und seiner ehemaligen Freundin.

Ein Buch, das durch seine Ehrlichkeit und seinen rasanten Schwung einen richtigen Energieschub verleiht.
© manuela haselberger


Gérald Métroz - Ich lass mich nicht behindern
Originaltitel: Soudain un train, © 2001
aufgezeichnet von Jacques Briod
übersetzt von Ulrike Kolb
16 sw-Fotoseiten

© 2002, München, Scherz Verlag, 175 S., 14.90 € (HC)






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Camille Michaud, Lehrer

Nach Schulschluss wollte ich, wie jeden Abend, mit meinen Schülern im Zug nach Hause fahren. Der Bahnhof von Sembrancher ist klein und der Zug, in den wir einstiegen, nicht sehr imposant. Er bestand nur aus der Lokomotive und einem einzigen Waggon. Im Wageninneren befanden sich noch andere Personen, die ich nicht kannte. Die Lokomotive setzte sich in Bewegung, sie fuhr nicht schnell, zehn Stundenkilometer vielleicht. Wir waren kaum hundert Meter gefahren, gerade mal so weit, dass wir Zeit hatten, uns hinzusetzen, als der Zug plötzlich anhielt. Der Lokführer kam in unseren Wagen, er sah völlig verstört aus und sagte:

"Ich hab gerade ein Kind überfahren... Traut sich jemand nachschauen zugehen? Ich kann es nicht.»
Im Wagen saßen, wie ich schon sagte, meine Schüler und ein paar ältere Leute. Ich habe nicht eine Sekunde gezögert und bin nach draußen gegangen.
Beim Aussteigen hielt ich Ausschau, konnte das Kind jedoch nicht sofort sehen, weil es durch den Wagen, der über die Gleise hinausragte, verdeckt war.

Und plötzlich entdeckte ich es, mit weit geöffneten Augen lag es auf den Schienen zwischen den Achsen des Zuges, den Kopf zum Bahnsteig hin. Es weinte nicht. Man sagt, dass man einen Verletzten nicht berühren soll, aber ich habe mir in dem Moment keine Frage gestellt. Es trug lange Hosen und ich sah keinerlei Blutspuren auf dem Stoff. Ich nahm es in meine Arme. Ich kannte das Kind, ich wusste, dass es der Sohn des Stationsvorstehers war und dass er in dem kleinen Haus, gerade gegenüber den Gleisen, im ersten Stock wohnte.

Ich stieg die Treppe hoch und ging in die Stube. Dort stand ein Sofa, zu dem ich ihn brachte. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe ihn hingesetzt und nicht gelegt. Als ich ihn in dieser Stellung absetzte, fielen seine beiden Beine auf den Boden. Eigentlich sind sie nicht mit einem lauten Krach hingefallen, sondern ich spürte nur, wie sie sich ablösten und aus der Hose rutschten. In dem Moment drehte ich mich um und sah seine Mutter im Türrahmen stehen. Wir haben uns angeschaut, ich habe kein Wort hervorgebracht, sie auch nicht. Wir waren unfähig zu sprechen, aber wir haben beide, im selben Moment, dasselbe verstanden. Ich dachte an meinen Zug, der nicht auf mich warten würde, und ging hinaus. Ich ließ sie dort stehen, wie die Jungfrau Maria am Fuße des Kreuzes.

Im Waggon hab ich mich selber beschimpft: "Du hast ihm die Arterie nicht abgebunden, der Kleine wird wegen dir verbluten, du hättest die Mutter niemals alleine lassen dürfen.» Als ich zu Hause ankam, fing ich wie ein Idiot an zu heulen. Meine Frau zwang mich, ihr zu erzählen, was passiert war.
Zwei Tage lang habe ich nichts gegessen.
Heute sage ich mir, dass der Kleine mit seinen zweieinhalb Jahren Glück gehabt hat; dass ich einen Toten aufgehoben hätte, wenn der Zug ihn nur zehn Zentimeter höher überrollt hätte. Ich denke auch, ganz ernsthaft, dass er ohne diesen Unfall nicht der geworden wäre, der er heute ist. S. 13-15


Ich liebe es zu gewinnen: Ich bin vor allem ein "Wettkampf-Spieler». Das heißt, ich trainiere zwar gerne, bin aber bei einem Spiel immer besser als beim Training. Nichts spomt mich mehr an als ein Wettkampf, bei dem es um einen Einsatz geht. Ich muss zugeben, dass ich schon immer Mühe hatte, Sport nur zum Vergnügen zu treiben, aber heute versuche ich zu verstehen, warum ich von diesem Zwang, zu gewinnen, getrieben werde.

Ich glaube, dass das Rollstuhlbasketball meine Liebe zum Spitzensport geweckt hat. Eines Tages wurde mir bewusst, dass ich bis dahin nur Mannschaftssport betrieben hatte. Tief in meinem Inneren fühlte ich mich jedoch immer mehr zu einer individuelleren Disziplin hingezogen, bei der ich selbst über mein Schicksal, über Sieg oder Niederlage entscheiden kann.

Bevor ich nach Kanada ging, war ich schon einmal mit Rollstuhltennis als Sportart in Berührung gekommen. In Verbier, einem Ort in den Schweizer Alpen, hatte ich die Bekanntschaft von Marc Grenouilleau gemacht. Marc war Franzose und leitete in Verbier Tenniscamps. Wir unterhielten uns über meine Aktivität als Basketballspieler und kurz darauf befand ich mich mit meinem Basketballrollstuhl, einen Schläger in der Hand, auf dem Tennisplatz und versuchte, die Bälle zurückzuschlagen. Ich sah sofort, dass mir meine Kenntnisse und Geschicklichkeiten vom Basketball von enormem Nutzen waren: von links nach rechts drehen, mich schnell vorwärts und rückwärts bewegen, die Flugrichtung des kleinen gelben Balls voraussehen und natürlich das Gefühl für die Taktik. So habe ich einen ganzen Sommer lang wie ein Dilettant Tennis gespielt.

Als ich aus Kanada zurück war, fing ich wieder mit Tennis an, und zwar mit demselben Feuereifer, den ich auch schon beim Basketball entfaltet hatte und mit den altbewährten Rezepten: Arbeit und Training. Ich hatte Schwächen bei der Vorhand und mein Gleichgewicht auf dem Rollstuhl war wegen der sehr kurzen Stümpfe nicht gerade stabil. Ich kompensierte diese Lücken durch taktische Geschicklichkeit, schnelle Bewegungen und eine starke, präzise Rückhand. Nach zwei Jahren und dank dem Training mit sehr guten, nicht behinderten Partnern hatte ich mir solide Grundlagen angeeignet, so dass ich 1990 die Entscheidung traf, das Basketball endgültig aufzugeben, um anzufangen, Tennisturniere zu spielen. Ich trainierte also drei- bis viermal die Woche mit professionellen Trainern und begann, an nationalen und internationalen Turnieren teilzunehmen. Schließlich wurde ich viermal Schweizer Meister im Einzel, sechsmal im Doppel, machte bei internationalen Turnieren mit und schaffte es zu guter Letzt, fünf Jahre nach meinen Anfängen im Jahr 1993, bis auf den ii. Platz der Weltrangliste vorzurücken.
Als Krönung meiner sportlichen Karriere flog ich drei Jahre später mit der Schweizer Mannschaft in die Vereinigten Staaten zu den Paralympics von Atlanta. S. 89-90


Wo gehobelt wird, da fallen Späne

Ich habe festgestellt, dass ich mich langsam verändere. Wenn ich früher ein Match verfolgte, achtete ich vor allem auf die Resultate, auf die rein technische, sportliche Seite. Heute frage ich mich nicht mehr, ob die Spieler richtig oder falsch, gut oder schlecht handeln. Ich fange an, mich für ihre emotionale Seite zu interessieren. Ich beobachte, wie sie innerhalb ihrer Mannschaft miteinander kommunizieren, wie einige Spieler in kritischen Momenten die Oberhand über andere gewinnen, wie sie mit Druck fertig werden, was sie motiviert und was ihnen Angst bereitet.

Der im Spitzensport vorherrschende Geist hat sich in den letzten Jahren verändert. Kreativität und Improvisation werden von der physischen Kraft und der Ausdauer eines Spielers verdrängt. Auch das Eishockey bildet bei dieser Regel keine Ausnahme: Kreative Spieler und talentierte Künstler haben es immer schwerer, haben immer größere Mühe, sich auszudrücken. Mein Berufsleben, meine Arbeit als Spielervermittler waren immer, in jeder Hinsicht, eine Bereicherung für mich. Heute kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mir diese Tätigkeit immer weniger bedeutet. Besonders wenn ich für meine Klienten Werte verteidigen soll, die überhaupt nicht meinen eigenen entsprechen, zum Beispiel hohe Spielerhonorare, als einziges Kriterium für Lebensqualität. Ich spüre zu viel Wettbewerb, zu viel Geld, zu viel Autorität, zu viel Arbeit. Und zu wenig Humor.

Ich komme viel mit wohlhabenden Leuten zusammen. Sie haben nur wenig Zeit und ihr Lebensinhalt ist eng verbunden mit Macht und Geld; bei ihnen herrscht ständig Aufregung und Oberflächlichkeit. Sie sind zwar da, sie sitzen mir gegenüber, sind aber gleichzeitig schon wieder woanders. Sie sind hier sprechen aber schon mit jemand anderem. Sie sind niemals präsent, niemals hier und jetzt, sie sind ein Trauerspiel. Aber wo gehobelt wird, da fallen Späne; ich kann mich nicht mitten unter ihnen aufhalten, ohne ihrem Einfluss ausgesetzt zu sein. Also mache ich mich auf die Suche nach etwas anderem.

Ich sage mich nicht los von diesem Milieu, das mich nach wie vor begeistert, aber ich stoße an die Grenzen dieses Abenteuers. Mit siebenunddreißig Jahren, das heißt auf halbem Weg angelangt, was meine Lebenserwartung betrifft, spüre ich, dass der Moment gekommen ist, woanders hinzugehen, mich einem Gebiet zuzuwenden, das mir mehr entspricht.S. 153-154

Lesezitate nach Gérald Métroz - Ich lass mich nicht behindern



© 4.7.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de