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Bookinists Buchtipp zu


Fliegen ohne Flügel

von Tiziano Terzani
© 1996
Lesen Sie Terzanis großen Asienbericht




Eine gute Gelegenheit
Tiziano Terzani - Briefe gegen den Krieg

iziano Terzani, langjähriger SPIEGEL - Auslandskorrespondent (1972 - 1997) gilt unter den westlichen Journalisten als ein hervorragender Kenner Asiens. Heute lebt er überwiegend in Indien. Den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 in New York erlebte er, wie so viele andere Menschen, am Fernsehgerät mit.

Entgegen seiner italienischen Kollegin Oriana Fallaci, die mit einem sehr emotionalen Buch ("Die Wut und der Stolz") auf die Terroristen reagiert, ist die Kernfrage, die Terzani bewegt: "Hier geht es nicht darum, zu rechtfertigen oder zu verurteilen. Wir müssen verstehen. Denn ich bin überzeugt, dass wir den Terrorismus nicht besiegen werden, indem wir die Terroristen töten, sondern nur, indem wir die Ursachen beseitigen, die sie zu solchen machen." So urteilt er nicht vorschnell, sondern versucht die Hintergründe zu beleuchten und das geht am besten vor Ort.

Terzani reist nach Peschawar, an die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan, begibt sich nach Quetta und berichtet aus Kabul. Es sind bewegende Notizen, die er in seinem Buch "Briefe gegen den Krieg" veröffentlicht, denn Terzani ist nicht bereit, westliche Berichterstattung nachzuplappern. Er reist auf eigene Faust und kommt mit den einfachen Menschen in den Basaren und auf der Straße ins Gespräch.

Mit seinem immensen politischen und historischen Hintergrundwissen regt Terzani zu eigenem Nachdenken an und legt den Finger auf den wunden Punkt, denn die amerikanische Sichtweise ist in der Tat nicht die einzig mögliche. Es lohnt sich seinen Gedanken zu folgen, denn "das Drama der moslemischen Welt in der Auseinandersetzung mit der Moderne, die Rolle des Islam als Weltanschauung, die sich gegen die Globalisierung wehrt," ist durchaus stichhaltig. Der Westen muss wohl oder übel akzeptieren, dass "es heute auf der Welt eine beträchtliche Anzahl von Menschen gibt, die nicht so sein möchten wie wir, die nicht unsere Träume träumen und nicht unsere Interessen und Ziele teilen." Auch mit einem Krieg wird sich diese Einstellung nicht vom Tisch wischen lassen.

Tiziano Terzani, der durch und durch von einer pazifistischen Einstellung geprägt ist, hat ein überaus wichtiges Buch zum Verständnis der aktuellen Lage in Afghanistan geschrieben, auch wenn er manchmal in der Verteidigung der Handlungweise der Taliban etwas zu tolerant ist.

Leser, die daran interessiert sind, mehr über Hintergründe und Zusammenhänge zu erfahren, sollten sich unbedingt die Zeit für diese nachdenklichen, klugen und besonnenen "Briefe gegen den Krieg" nehmen.
© manuela haselberger


Tiziano Terzani -
Briefe gegen den Krieg
Originaltitel:
Lettere contro la guerra, © 2002
übersetzt von Elisabeth Liebl

© 2002, München, Riemann Vlg, 218 S., 16.90 € (HC)





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Es gibt Tage im Leben, an denen rein gar nichts passiert; Tage, die vorübergehen ohne eine Erinnerung, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, so als habe man sie gar nicht erlebt. Genauer betrachtet verbringen wir die meisten Tage auf diese Weise, und erst wenn uns klar wird, dass die Zahl derer, die noch vor uns liegen, deutlich begrenzt ist, fragen wir uns, wie wir so viele Tage ungenutzt verstreichen lassen konnten, einfach so. Aber so sind wir eben: Erst wenn es verschwunden ist, wissen wir das, was vorher war, zu schätzen. Erst wenn etwas unwiderruflich der Vergangenheit angehört, denken wir daran, wie es wäre, wenn es noch da wäre. Aber dann ist es zu spät.

Der 10. September war für mich so ein Tag, und sicher nicht nur für mich: ein Tag, an den ich mich absolut nicht erinnern kann. Ich weiß nur, dass ich in Orsigna war. Der Sommer war vorüber, die Familie hatte sich wie jedes Jahr in alle Winde verstreut, und ich selbst habe vermutlich Dokumente und Kleidung eingepackt, weil ich zum Überwintern wieder nach Indien zurückwollte.

Nach meinem Geburtstag wollte ich los, aber auf einen Tag mehr oder weniger kam es mir nicht an, und so verging auch dieser 10. September, ohne dass er mir im Bewusstsein blieb, so als hätte nicht einmal der Kalender ihn vermerkt. Schade. Denn für mich und für uns alle - auch für jene, die sich immer noch weigern, dies zu akzeptieren - war dies ein ganz besonderer Tag, ein Tag, an dem wir jeden einzelnen Augenblick in vollen Zügen hätten genießen sollen. Es war der letzte Tag unseres früheren Lebens: der Zelt vor dem 11.September, vor dem World Trade Center, vor dem neuen Barbarentum, vor der Beschneidung unserer Freiheitsrechte, vor der großen Intoleranz, vor dem hoch technisierten Krieg, vor den Massakern an Gefangenen und unschuldigen Zivilisten, vor der großen Heuchelei, vor dem Mitläufertum, vor der Gleichgültigkeit - oder, was noch schlimmer ist, vor dem Ausbruch unserer erbärmlichen Wut und unserer kaum verhohlenen Überheblichkeit. Der letzte Tag, an dem das Streben unserer Fantasie noch einem Mehr an Liebe, Brüderschaft, Geist und Freude galt. Bevor sie sich dem Hass zuwandte, der Verschärfung von Unterdrückung und Leid, der Mehrung von Besitz.

Ich weiß: Nach außen hin hat sich an unserem Leben wenig oder nichts geändert. Der Wecker läutet immer noch zur selben Zeit. Wir gehen unverändert unserer Arbeit nach. Im Zugabteil klingeln die Handys wie ,immer, und jeden Morgen erscheinen die Zeitungen und verbreiten ihren typischen Mix aus SO Prozent Wahrheit und 50 Prozent Lüge. Aber dieser Eindruck täuscht. Er trügt wie die Sekunden vor dem Donner einer gewaltigen Detonation. S. 11-12


Der Brief erschien am 16. September. Der Titel war zwar nicht jener, den ich vorgeschlagen hatte: »Eine gute Gelegenheit«, doch ansonsten hatte ich - wie immer - keinen Grund, mich zu beschweren. Die ersten Zeilen kamen auf die Titelseite, und der übrige TeiI füllte noch einmal eine ganze Seite. Was ich sagen wollte, war im Prinzip dies: Wir sollten die Terroristen zu begreifen suchen, das Drama der moslemischen Welt in der Auseinandersetzung mit der Moderne, die Rolle des Islam als Weltanschauung, die sich gegen die Globalisierung wehrt. Der Westen musste unter allen Umständen einen Religionskrieg vermeiden. Letztlich gebe es nur einen möglichen Ausweg: Gewaltlosigkeit.

Ich hatte also den ersten Stein geworfen. Daher packte ich Kleidung und Unterlagen ein und fuhr nach Florenz. Ich war mir nicht sicher, ob ich In den Himalaya wollte. Meiner Ansicht nach konnte ich mich jetzt nicht in meine geruhsame Abgeschiedenheit zurückziehen. Gerade hatte Bush verlautbaren lassen: »Wir werden Osama bin Laden ausräuchern.« Tatsächlich aber hatte Osama mich aus dem Versteck geholt. S. 18


Diejenigen von uns, deren Kinder - glücklicherweise - geboren wurden, sodass wir ihnen keine posthumen Briefe schreiben müssen, beginnen nämlich, sich Sorgen zu machen, wenn sie sie in diesem neuen, sich rapide ausbreitenden Flammenmeer der Gewalt umtost sehen, von dem das World Trade Center vielleicht nur der Anfang war. Hier geht es nicht darum, zu rechtfertigen oder zu verurteilen. Wir müssen verstehen. Denn Ich bin überzeugt, dass wir den Terrorismus nicht besiegen werden, indem wir die Terroristen töten, sondern nur, Indem wir die Ursachen beseitigen, die sie zu solchen machen.

In der Geschichte der Menschheit gibt es keine einfachen Erklärungen. Nur selten existiert zwischen einem Faktum und einem anderen ein klarer und direkter Zusammenhang. Jedes Ereignis, auch in unserem Leben, hat Tausende von Ursachen, die ihrerseits wieder Tausende von Wirkungen hervorrufen. Das Attentat auf das World Trade Center ist ein solches Geschehnis: Resultat einer Unmenge komplexer Fakten. Eines ist es aber sicher nicht: ein Angriff im Rahmen eines »Religionskrieges« der moslemischen Extremisten, eines Kreuzzuges mit umgekehrten Vorzeichen, der auf die Gewinnung unserer Seelen abzielt, wie du dies formulierst, Oriana. Und es ist auch kein »Angriff auf die Freiheit und die westliche Demokratie«, wie die Politiker jeglicher Couleur dies vereinfachend auszudrücken belieben.

Ein früherer Professor an der Berkeley-Universität, ein Mann, den man sicher nicht antiamerikanischer Umtriebe oder finsteren Sympathisantentums verdächtigen kann, liefert für das Geschehene eine ganz andere Begründung. »Die Selbstmordattentäter vom 11. September haben keineswegs Amerika angegriffen: Sie haben die amerikanische Außenpolitik attackiert«, schreibt Chalmers Johnson in der Oktoberausgabe von The Nation. Für ihn, der mehrere Bücher geschrieben hat (sein letztes, Blowback, »Gegenschlag«, das im Jahr 2001 erschien, hat nachgerade etwas Prophetisches), handelt es sich bei dem Attentat nur um einen von zahllosen »Gegenschlägen«, die mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Vereinigten Staaten ihre Vorherrschaft in der Welt durch ein Netz von immer noch 800 Militärbasen in aller Welt unterstreichen, obwohl der Kalte Krieg nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion vorbei ist.

Johnsons Analyse wäre in Zeiten des Kalten Krieges wohl als gezielte Desinformation von Seiten des KGB gewertet worden, denn er listet sämtliche Staatsaffären, Komplotte, Verfolgungen, Morde und Eingriffe in innere Angelegenheiten auf, in welche die Vereinigten Staaten verwickelt waren. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden dabei korrupte oder diktatorische Herrscher und Regierungen in Lateinamerika, Afrika, Asien und im Nahen Osten mehr oder weniger offen unterstützt.

Der »Gegenschlag«, der als Antwort auf die Attacken auf das World Trade Center und das Pentagon gedacht war, steht in einer ganzen Reihe ähnlicher »Geschehnisse«:

1953 die Vertreibung von Mossadegh aus dem Iran und die Unterstützung von Schah Resa Pahlevi, der Golfkrieg und die daran anschließende permanente Präsenz der amerikanischen Truppen auf der Arabischen Halbinsel, vor allem in Saudi-Arabien, wo die heiligen Stätten des Islam liegen. Johnson zufolge ist dieser Zug der amerikanischen Außenpolitik dafür verantwortlich, dass »so viele rechtschaffene Menschen in den islamischen Ländern davon überzeugt sind, Amerika sei ihr unerbittlicher Feind«. Daraus rühre der heftige Antiamerikanismus bei den Muslimen, über den die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sich heute so sehr wundern.

Ob Johnsons Analyse nun zutrifft oder nicht, sei dahingestellt. Unbestreitbar ist aber die ,Tatsache, dass hinter den gegenwärtigen amerikanischen und europäischen Bemühungen im Nahen Osten - von der israelisch-palästinensischen Frage einmal abgesehen - der fast besessene Wunsch steht, die gewaltigen Ölreserven dieser Region mögen in der Hand "befreundeter" Regierungen bleiben. Dies ist die Falle, in die wir getappt sind und aus der wir uns jetzt befreien könnten.

Warum stellen wir unsere wirtschaftliche Abhängigkeit vom Erdöl nicht endlich infrage? Warum erforschen wir nicht endlich, wie wir alternative Energiequellen nutzen können, wie wir es schon vor mehr als zwanzig Jahren hätten tun sollen? S. 54

Zurzeit macht der Witz die Runde, die Amerikaner hätten endlich begriffen, dass sie mit Bomben gegen die Taliban überhaupt nichts ausrichten würden, daher würfen sie nun Säcke voller Dollarscheine ab. »Jede Rakete kostet zwei Millionen Dollar. Und sie haben schon mehr als hundert abgefeuert. Stell dir das mal vor: Hätten sie uns das Geld so gegeben, die Taliban wären schon längst nicht mehr an der Macht«, sagt ein alter afghanischer Flüchtling neben mir, der früher eine antisowjetische Mudschaheddingruppe befehligt hat. Die Vorstellung, dass die Amerikaner einen reichen Geldsegen niedergehen lassen, wenn man sich nur auf ihre Seite schlägt, ist hierzulande weit verbreitet. Vor einigen Tagen versammelten sich im großen Amphitheater im Zentrum Peschawars Hunderte von Stammesältesten und religiösen Führern der afghanischen Exilgemeinde, um über die Zukunft Afghanistans »nach den Taliban« zu diskutieren. Stunden um Stunden standen diese beeindruckenden Gestalten mit ihren telegenen langen weißen Bärten vor den Mikrofonen und redeten von »Einigkeit und Frieden«, doch in ihren Ansprachen war keinerlei Feuer zu spüren, kein Funke von Leidenschaft. »Die sind nur hier, um sich von den Amerikanern registrieren zu lassen und auch ein Stück vom großen Kuchen abzubekommen«, erklärt mir ein alter Freund, ein pakistanischer Intellektueller, der ebenfalls Paschtune ist wie diese Ältesten. S. 74


Das ist also die Problematik, mit der wir uns hier konfrontiert sehen. Ein Problem, das sich nicht mit Bomben lösen lässt und schon gar nicht mit der weltweiten Absetzung von nicht genehmen Regierungen und den Ersatz derselben durch bejahrte Exilkönige oder politische Koalitionen, die in irgendeiner fernen Hauptstadt am grünen Tisch geschmiedet werden. Selbst wenn man bin Laden aus Afghanistan verjagt, selbst wenn man die Taliban entmachtet und in die Berge vertreibt, wo sie lediglich eine neue Guerillaarmee aufstellen werden: Das Grundproblem bleibt. Die Bomben werden es höchstens noch verschärfen.

Auch wenn uns dies merkwürdig vorkommt, so gibt es heute auf der Welt eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die nicht so sein möchten wie wir, die nicht unsere Träume träumen und nicht unsere Interessen und Ziele teilen. Ein Tuchhändler von gut sechzig Jahren hat mir dies bei der Versammlung der Tablighi mit einfachen Worten erklärt: »Wir wollen nicht wie ihr leben. Wir wollen euer Fernsehen nicht sehen noch eure Filme. Wir wollen eure Freiheit nicht. Wir wollen, dass unsere Gesellschaft von der Scharia getragen wird, dem islamischen Recht, und dass unsere Wirtschaft sich nicht nach den Regeln des Profits richtet. Wenn ich am Ende des Tages genug verkauft habe, um meinen Lebensunterhalt zu sichern, schicke ich den nächsten Kunden zu meinem Nachbarn, der bisher noch nichts verkauft hat.« Ich sah mich um. Und wenn die dort versammelte Menge von Männern - am letzten Tag waren es 1,5 Millionen - wirklich dachten wie er?

Ich war neugierig. In der Menge hatte ich die Spur Abu Hanifahs verloren. Daher fragte Ich den Tuchhändler, ob ich ihn zu Hause besuchen könne. Er gab mir seine Adresse in Chaman, einem Städtchen an der Grenze, das genau zwischen Quetta, der Hauptstadt von Belutschistan, und Kandahar, dem spirituellen Zentrum von Mullah Omar in Afghanistan, lag. Für Ausländer ist Chaman aktuell verbotenes Terrain. Man gelangt nur mit Pollzeieskorte dorthin und mit einer besonderen Erlaubnis, die in Quetta ausgestellt wird. Also bin ich jetzt hier in diesem Gasthof

Bei meinem ersten Erkundungsgang entdeckte ich, dass ich in der Nähe des Krankenhauses wohnte, in dem jeden Tag neue Menschen ankamen, die während des amerikanischen Bombardements von Kandahar verwundet wurden. Dort machte ich eine Bekanntschaft: »Abdul Wasey, 10 Jahre, Afghane, Opfer eines Marschflugkörpers, zerschmettertes Bein.« Zumindest stand dies auf einem Schild oberhalb seines schmutzigen, staubigen Betts. Er ist bleich und mager wie ein Hering. Ein Ziegelstein hängt an einem Seil von einer Stange über dem Bett herab. Das Seil … S. 106-107

Lesezitate nach Tiziano Terzani - Briefe gegen den Krieg


Auch wenn uns dies merkwürdig vorkommt, so gibt es heute auf der Welt eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die nicht so sein möchten wie wir, die nicht unsere Träume träumen und nicht unsere Interessen und Ziele teilen. Ein Tuchhändler von gut sechzig Jahren hat mir dies bei der Versammlung der Tablighi mit einfachen Worten erklärt: »Wir wollen nicht wie ihr leben. Wir wollen euer Fernsehen nicht sehen noch eure Filme. Wir wollen eure Freiheit nicht. Wir wollen, dass unsere Gesellschaft von der Scharia getragen wird, dem islamischen Recht, und dass unsere Wirtschaft sich nicht nach den Regeln des Profits richtet. Wenn ich am Ende des Tages genug verkauft habe, um meinen Lebensunterhalt zu sichern, schicke ich den nächsten Kunden zu meinem Nachbarn, der bisher noch nichts verkauft hat.«
Terzani - Briefe ... S.107


© 1.10.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de