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Bookinists Buchtipp zu
einem umstrittenen Buch


Schundroman

von Bodo Kirchhoff





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Ich hielt diesen Verlust für überfällig, was sicher auch mit dem Wechsel in das neue Studienfach zu tun hatte. Kaum eingeschrieben, saß ich, noch vor der Adventszeit, in einer Arbeitsgruppe, in der es so lebhaft - und damit eben nicht ,ein theoretisch - um Orales, Anales und Phallisches ging, daß einem schwindlig werden konnte; mir blieb nur die Flucht nach vorn, ich bewarb mich um eine Hausarbeit zum Thema Interaktion und Orgasmus und verbrachte die nächsten Tage, aus Mangel an Sachkunde, in der Bibliothek. Stundenlang saß ich am Fenster, während draußen die alte Vierundzwanzig vorbeirumpelte, mit kleinen Schneegestöbern zwischen den hölzernen Wagen, und auch schon erste Weihnachtslichter angingen; saß da, allein, über eine Lektüre voller Fallbeispiele gebeugt - gewissermaßen amtliche Aussagen über die Sekunden der Lust -, und mein Verlangen nach einer Umarmung und einem Schoß bekam von Tag zu Tag mehr Macht über mich.

Schon morgens beim Zeitungskauf lächelte ich der Büdchenfrau zu; später in der Trambahn sogar den Schaffnerinnen, die es damals noch gab. Seminare wählte ich nur danach, ob möglichst wenig Männer daran teilnahmen, und in der Mensa verwickelte ich fremde Tischnachbarinnen in Gespräche über das Essen und den Freudo-Marxismus.

Die entscheidende Chance des Tages war jedoch der Andrang bei der Arbeitsvergabe des Studentischen Schnelldienstes, wenn es um diese Jahreszeit schon dunkelte (und man den Zigarettenvorrat für den Abend drehte). Dort, in der Schlange, konnte ich feststellen, welche Studentinnen sich um welche Tätigkeiten bewarben; so bekam ich gleich einen Eindruck von ihren Neigungen, ...
Lesezitat nach Bodo Kirchhoff - Die Weihnachtsfrau, S.


Die Weihnachtsfrau
Bodo Kirchhoff - Die Weihnachtsfrau

Der Erzähler der kurzen Weihnachtsgeschichte von Bodo Kirchhoff, hat nur einen Wunsch zu Weihnachten. Den kann er allerdings seiner Familie oder den Kommilitonen an der Uni nicht so ohne weiteres mitteilen: Er möchte so gerne bis an Weihnachten seine Unschuld verlieren. Endlich einmal will auch er mit einer Frau ins Bett gehen, denn 1968, in der Zeit der Studentenunruhen ist eine männliche Jungfrau überhaupt nicht angesagt, schon gar nicht bei den linken Sozialwissenschaftlern.

Bei seinem Job als Weihnachtsmann, den ihm der studentische Arbeitsdienst vermittelt hat, trifft er Alba. Sie ist eine resolute Person und pocht auf die Gleichberechtigung. Deswegen bekommt sie schließlich den Job als Weihnachtsfrau, mit rotem Kostüm, schief gelaufenen Stiefeln und natürlich dem obligatorischen ausgefransten weißen Bart.

Wie es dazu kommt, dass der Erzähler mit Alba seine Unschuld im heruntergekommenen Wohnwagen verliert, liest der Autor, Redakteur, Sprecher und Moderator Martin Maria Schwarz mit wohltuend variierender Stimme.

Ganz im Mittelpunkt der ungekürzten Fassung dieses Hörbuchs steht die Geschichte selbst, ohne technische oder musikalische Unterbrechungen.

Bodo Kirchhoff hat mit ganz wenigen Sätzen nur die Zeit von 1968 bis in die achtziger Jahre eingefangen. Denn genau da, als der Erzähler selbst etabliert ist, eine Frau und eine kleine Tochter hat, trifft er Alba wieder - immer noch als Weihnachtsfrau verkleidet, die ihren zahnlosen Mund hinter einem weißen Bart verbirgt und verliert zum zweiten Mal seine Unschuld.

Eine moderne Weihnachtsgeschichte, mit kleinen, höchst vergnüglichen ironischen Seitenhieben.



Das Buch
Bodo Kirchhoff - Die Weihnachtsfrau
mit Illustrationen von Clemens Erlebach
1997, Frankfurt, Frankfurter Verlagsanstalt, 80 S., jetzt 8.00 €


Die CD (Hörbuch)
Bodo Kirchhoff - Die Weihnachtsfrau als Hör-CD
mit Illustrationen von Clemens Erlebach
1999, Schwäbisch Hall, Steinbach - sprechende Bücher, etwa 1h, 18.82 €



© by Manuela Haselberger rezensiert am 1999-11-30

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger