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WARTEN

Obwohl Carol Jackson im Kinderwagen sitzen muss, geht ihre Mutter mit ihr raus, während meine unten mit einer par-fümierten Frau in einem Pelz flüstert. Ich beobachte, wie der Kinderwagen um die Straßenecke biegt. Die dürren Beine und Pantoffeln von Mrs. Jackson ver-schwinden als Letztes, aber wenn ich mein Gesicht weiter nach links schiebe, vor den Sprung im Fenster, kann ich sie viel-leicht noch sehen. Das mache ich nicht. Ich lecke die Scheibe, die ich mit meinem Atem überzogen habe, um freie Sicht den Hügel rauf aufs Wettbüro zu haben, und warte auf meinen Vater, wie es mir meine Mutter gesagt hat. Als Eva, die Freundin meiner Mutter, durch die Hintertür reinschlüpfte, dachte ich, sie würde bleiben, wo sie ist. Aber sie kam hinter uns die Treppe rauf. In ihrem Ozelot stand sie auf dem Treppenabsatz, eine Hand umfasste die andere. Meine Mutter postierte mich am Fenster. Mach drei Vaterunser, und wenn du ihn dann immer noch nicht siehst, komm runter, sagte sie. Eva lachte. Ihr Oberkör-per beugte sich nach vorn und sie wedelte mit einem Hand-schuh in der Luft, den sie sich im Eingang Finger für Finger ausgezogen hatte. Meinst du wirklich, dass es geht, Mary? fragte sie und knallte in ihren Absätzen über die Dielen. S. 7


Lesezitat nach Trezza Azzopardi - Das Versteck


Das Versteck
Trezza Azzopardi - Das Versteck

as Leben der Familie Gauci im englischen Cardiff ist alles andere als leicht. Der Vater Frankie, ein armseliger Einwanderer und leidenschaftlicher Spieler, der mehr als einmal die Existenz seiner Familie gefährdet und die Mutter Mary, die versucht ihr Heim mit den fünf Töchtern so recht und schlecht über Wasser zu halten, sind nicht gerade das Elternpaar, das mit der goldenen Ehrennadel ausgezeichnet wird. Doch das Pech heftet sich erst mit der Ankunft von Dolores wie eine Klette an die Fersen der Gaucis .

Als Frankie beim Kartenspiel von seinen Kumpels die Geburt des sechsten Mädchens zugetragen wird, setzt er leichtsinnig alles auf eine Karte und verliert. Nicht nur sein Café, seine kompletten Ersparnisse im Schuhkarton, sondern auch den goldenen Rubinring seines Vaters und das weiße Spitzenkleid der Mutter.

Doch das ist erst der Beginn des Unglücks. Das Haus in dem die Gaucis wohnen, brennt wenige Monate später lichterloh, die kleine Dolores erleidet schwerste Brandwunden, denn die Eltern waren nicht im Haus. Aber auch dieses Ereignis, es war Brandstiftung, wie sich später herausstellt, ist nur eine winzige Drehung der Schraube des Schreckens in der Familiengeschichte.

Frankie verschenkt bei einem dubiosen Handel seine Tochter Marina an seinen ehemaligen Freund und heutigen Rivalen Joe Medora. Sie lebt fortan wieder auf Malta, der Heimat Frankies. Das andere Mädchen, Fran, wird nachdem sie das Haus des Lebensmittelhändlers in Brand gesteckt hat, zu den Nonnen gebracht. Und zuletzt kommt die Hochzeit von Celesta, der ältesten. Für sie hat der Vater einen Witwer, einen erfolgreichen Kaufmann, als Mann ausgesucht.

Nach dem Fest verdrückt sich Frankie und lässt seine Familie ohne einen Cent zurück. Mary flüchtet in den Wahnsinn, den diesen Schicksalsschlag hält sie einfach nicht mehr aus. "Mein Vater wusste was er getan hatte. Er lief im Morgengrauen aus und ... ließ meine Mutter und uns alle zurück. Ein Mann kann hundert Beweggründe haben oder keinen einzigen, um einfach so aus dem Leben, das er sich eingerichtet hat, zu verschwinden. Mein Vater hätte eine Münze geworfen und zugesehen, wie sein Schicksal zur Erde trudelt."

Dreißig Jahre später treffen sich die Schwestern zur Beerdigung Marys wieder. Und noch einmal werden die traurigen, bis an die Schmerzgrenze reichenden Erinnerungen herauf beschworen.

Es ist die Geschichte einer Einwandererfamilie in Cardiff, die Trezza Azzopardi in ihrem herausragenden Roman "Das Versteck" mit all ihrer Brutalität und Armut beschreibt, wobei der Schrecken nicht platt ausgewalzt wird, sondern zwischen den Zeilen lauert. Am ehesten lässt sich diese ergreifende Einwanderergeschichte mit der irischen Kindheit von Frank McCourt "Die Asche meiner Mutter" vergleichen.

Trezza Azzopardi, selbst in Cardiff geboren, hat auf Deutsch bisher keine Bücher veröffentlicht, doch sie zählt, nachdem "das Versteck" für den Booker Prize und den Guardian First Book nominiert und vor Erscheinen bereits in acht Länder verkauft wurde, zu den wichtigsten neuen Stimmen der englischen Gegenwartsliteratur.

Also, "Das Versteck" unbedingt lesen und den Namen Azzopardi im Gedächtnis behalten. Beides lohnt.
© manuela haselberger


Trezza Azzopardi - Das Versteck
Originaltitel: The Hiding Place, © 2000
Übersetzt von Monika Schmalz
2001, Berlin, Berlin Verlag, 357 S.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Noch zwei Stationen. Meine Mutter schiebt Luca rüber auf die andere Schulter und beugt sich vor, um an dem Mann vorbeizukommen, dessen Oberkörper wie ein abgeknickter Fahnenmast in den Gang gekippt ist. Seine Augen schwimmen in seinem Kopf während sich meine Mutter an ihm vorbeidrängt. Es ist so lange her, seit Mary über die Vergangenheit nachgedacht hat, dass es ihr wie das Leben einer Fremden vorkommt. Frank Gauci und Joe Medora; die beiden, so strahlend und charmant - und dann zwingt sie sich, aufzuhören. Sie will nicht über Joe nachdenken - wie das zu Stande kam -, und sie will nicht mehr über Frankie nachdenken; wo er gewesen ist, wo er vielleicht jetzt war; was er mit ihr anstellen wird, wenn er von dem Brand erfährt. Stattdessen konzentriert sie sich auf ihre Kinder.
Aber Frankie denkt an sie. Nach dem Krankenhaus, nachdem er bei unserem Haus war, in das er nicht reinkonnte, nicht mit Joes Wagen davor, geht Frankie zu Salvatore und Carlotta Er sitzt im Wohnzimmer und wartet und grübelt.

Das ist die Abmachung.
Frankie gewinnt: Das Haus, genug Geld, um den Brand-schaden in Ordnung zu bringen; genug Geld, um mit dem; Syndikat reinen Tisch zu machen; das kleine bisschen extra, damit Mary nicht Vollzeit arbeiten muss, um über die Runden zu kommen. Und das Angebot, Geschäftsführer im Moonlight zu werden, wenn Joe nicht da ist.
Er verliert: Marina.

Die Bedingungen sind großzügig, das ist klar. Er sieht auch, eine Klinge, die sich in sein Herz bohrt, wie lange Joe darauf gewartet hat, auf den Moment, in dem er verzweifelt genug -wäre. Er stellt sich vor, wie Mary ihn betrogen hat. Es ist fast unerträglich. Frankies Gedanken wollen nicht mehr zur Ruhe kommen; er versucht, ihnen zu folgen, aber sobald er einen erhascht, entwischt er ihm auch schon wieder, Wahllos wie ein Feuerwerk explodieren sie in seinem Kopf, und die hellen -Schweife verglühen mit einem plötzlichen Zischen und werden schwarz. Seine Augen wandern durch Salvatores Wohnzimmer, auf der Suche nach irgendetwas Festem, auf das er seine Aufmerksamkeit richten kann: eine Uhr, die auf dem Kaminsims trübsinnig vor sich hin tickt, die kühle Kup-pel einer Schneeszene aus Plastik, ein reich verzierter Spiegel über dem Kamin, der sie dunkel zurückwirft. In allem findet er Mary, verwechselt seine Wut mit Liebe. Er will sie, er hasst sie, er wird alles wieder gutmachen. er wird sie in Stücke reißen. S. 96-97

Doktor Reynolds sagt, dass dasganz normal wäre, wenn ich meine Finger mal gehabt hätte, aber er findet es sondertbar, dass ich etwas vermisse, was ich nie gekannt habe. Für mich klingt das nicht so sonderbar; ich vermisse Marina, und die habe ich auch nicht gekannt. Manchmal träume ich, dass ich seilspringe: Ich halte das Ende des Seils mit beiden Händen fest, und während es immer schneller und schneller über mei-nem Kopf hinwegpeitscht springt jemand mit rein. Es ist Marina, die mit mir im Takt hüpft. Und dann wache ich auf und habe diese Schmerzen S. 104

In Filmen findet die Beerdigung immer auf einem üppig bewachsenen Friedhof statt, der von Bäumen gesäumt ist. Und immer regnet es. Die Kamera fährt heran zu einer Nahaufnah-me von ein paar Blättern oder einem verschwommenen Baumstumpf, und dann wieder zurück, um eine schwarz gekleidete Gestalt zu zeigen, die abseits von den anderen Trauernden steht. Wenn es sich bei dieser Person um einen Mann handelt, zieht er unverwandt an seiner Zigarette; ist es eine Frau, sind ihre Hände über dem Bauch gefaltet und Regentropfen glit-zern auf ihrem Schleier. Während ich im langsamen Schlamm des Weges versinke, der uns zum Grab meiner Mutter führen wird, geht mir auf, dass ich noch nie auf einer Beerdigung war. Das gibt mir ein Glücksgefühl.

Wir folgen dem Priester und den Sargträgern. Sie haben den Blick gesenkt und auf den anilingelben Kiefernholzsarg gerichtet; sie halten ihn mit steifen Armen, tief an ihrer Seite. Alle haben eine schwarze Krawatte um den Hemdkragen ge-schlungen. Von ihren Firmenhandschuhen und den verwit-terten Gesichtern abgesehen, könnten sie genauso gut auch Trauergäste sein.
Die Grabstätte meiner Mutter liegt an einem Hang mit Blick auf einen Recyclinghof: Durch den Nebel hindurch kann ich gerade den Namen Peruzzi entziffern. In der Ferne zeich-net sich schemenhaft eine Wohnsiedlung ab. Die Autos auf der Straße unterhalb des Friedhofs fahren nicht langsam, ob-wohl über ihnen nachweisbar der Tod und vor ihnen die Sicht Schlecht ist. S. 317

Lesezitate nach Trezza Azzopardi - Das Versteck













weitere Titel von
Trezza Azzopardi:

gebunden, englische Ausgabe:


The Hidding Place

© 2000

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© 23.2.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de