Du verführst eine schöne junge Frau, bloß um dann festzustellen, daß sie denkt. Daß sie unglücklich ist. Sie denkt, du liebst sie nicht wirklich. Es macht sie unglücklich. Das ist ein Anruf, den ich vielleicht tätigen könnte, falls ich doch nach Rom fahren sollte, dachte ich. Unser Leben verläuft parallel zu unseren Träumen, dachte ich. Aber nie stimmt beides völlig überein. Un-sere Urlaubsreisen sind Parodien unserer Vorstellungen vom Glück. Es ist wirklich nicht schön, dachte ich plötzlich, während ich meinen Blick über die dichte Menschenmenge im Flughafengebäude schweifen ließ, erkennen zu müssen, daß jeder und jede von uns gezwungen ist, sich dauernd irgend etwas durch den Kopf gehen zu lassen, und sei es auch völliger Blödsinn. Oder ein Lied. Wie gern hat meine Frau früher gesungen, wenn sie gut gelaunt war. Immer dasselbe Lied. Wie ein Mantra. Und wie habe ich sie dafür geliebt. Für diese Fähigkeit, ganz im Singen aufzugehen. So banal das Lied auch sein mochte. Wie unermüdlich sie diesem unterernährten Kind vorsang, während das Flugzeug sich über Moskau abwechselnd nach links und nach rechts neigte, bis die Schneepflüge die Landebahn geräumt hatten! Ninna nanna, ninna nanna, La bambina è della mamma. Sie hatte jemanden gefunden, den sie bemuttern konnte, jemanden, den sie retten konnte. Ein Kind für ihre altehrwürdige Familie. Aber als sie Marco das letzte Mal etwas vorsang, da hielt er sich schreiend die Ohren zu. Den-ken kann das reinste Vergnügen sein, überlege ich, die Gewitterwolken betrachtend, von denen ich nur durch das Sicherheitsglas dieses Fensters getrennt bin. So wie für mich in diesen Jahren der Lektüre, der Recherche für ein Buch, das monumental werden wird, da bin ich mir ganz sicher. Aber auch die größte Qual. So wie für Marco in seiner unerklärlichen Verzweiflung. Oder beides zu-gleich. Vergnügen und Qual. So wie jetzt. Parallelen treffen sich im Unendlichen, fällt mir ein. S. 39
Die beiden hielten ein-ander ganz selbstverständlich im Arm. Wir warten auf jemanden, sagte der Mann zur Erklärung. Es tat ihm offenbar gut, die eigene Stimme zu hören. Sie haben sie noch nicht hergebracht. Wir müs-sen warten. Seine Frau drückte sich an ihn, während er sprach, zugleich Trost suchend und spendend. An all das erinnere ich mich sehr genau. Im Radio liefen inzwischen Werbespots. Warum hören wir uns derart verlogenes Zeug an? Unsere Tochter, sagte er. Der Mann hatte das Bedürfnis, die Worte laut auszusprechen. Seine Frau hielt ihn ganz fest. Zu hören, daß er in der Lage war, diese Worte laut auszusprechen. Und aus irgendeinem Grund mußte ich an das altere Paar in Heathrow denken, das uns seine Plätze angeboten hatte. Diese Menschen sind ein Paar, dachte ich und trat von der Tür zur Leichenhalle zurück. Sie sind ein Paar, wie wir es niemals sein können. Das tut mir sehr leid, sagte ich. Ich zeigte auf den Automaten. Möchten Sie irgend etwas? fragte ich. Einen Kaffee vielleicht? Schon ehe sie die Köpfe schüttelten, wurde mir klar, wie töricht mein Angebot war. Warum sollten sie Kaffee wollen? Aber ich wollte ihnen unbedingt mein Mitgefühl zeigen. Wie kommt es, frage ich mich jetzt, während ich in die Wanne steige, in der das heiße Wasser schon ein paar Zentimeter hoch steht, daß du den beiden unbedingt dein Mitgefühl zeigen wolltest? Und zwar so dringend, daß du dich sogar wieder von der Tür zur Leichenhalle abwandtest. Dich von deiner Frau und deinem Sohn abwandtest. Von der offenen Konfrontation. Das Mädchen war auf ihrem Moped angefahren worden, erzählte der Mann. Von einem betrunkenen Busfahrer. Vielleicht haben Sie es in der Zeitung ge-lesen. Amelia Ferrante. Sie sind ein Paar, dachte ich und wandte mich abrupt von der Tür ab. Was immer ich jetzt auch bekenne und beteuere, sagte ich mir und kehrte dem den Rücken, was mir einen Augenblick zuvor noch als die größte und unausweichlichste Konfrontation meines Lebens erschienen war, meine Frau und ich werden niemals so ein Paar werden wie diese beiden. Nichts an dem Leid dieses Mannes und dieser Frau ist künstlich, aufgesetzt, schwülstig oder sentimental, sagte ich mir. Und mir wurde klar, daß sie das unablässige, geistlose Geplärre des Radios nicht einmal bemerkten. Sie hörten es gar nicht. Ein Paar wie dieses, sagte ich mir, würde sich niemals von etwas so Unangemessenem wie dem Radiogedudel ablenken lassen. Nicht in einem solchen Moment. Diese Verlogenheit und Geistlosigkeit liegen ihnen völlig fern. Nichts ist bezeichnender für den Charakter als die Dinge, von denen man sich ablenken läßt, dachte ich. Die Art, wie dieser Mann und diese Frau gemeinsam leiden, dachte ich, hat nichts Künstliches oder Schwülstiges an sich. Die Frau tastete die Man-teltaschen des Mannes nach Papiertaschentüchern ab. Was immer ich meiner Frau sage, wir könnten niemals so vertraut miteinander umgehen. Einander so aufrichtig unterstützen. Wir können die verlorene Zeit nicht mehr aufholen, sagte ich mir. Und hier in der Badewanne, umgeben vom Wasserdampf, der den Spiegel und die gekachelten Wände beschlägt, hier in dem bescheidenen Badezimmer der bescheidenen Wohnung, die ich für meine Tochter gekauft habe, ohne das Wissen meiner Frau, die niemals damit einverstanden gewesen wäre, die sich so tief mit Paola entzweit hatte, daß sie nicht einmal mehr mit ihr sprach, erkenne ich zitternd, daß dieser Gedanke der Auslöser war: die verlorene Zeit. Die Unmöglichkeit, die wundervolle Vertrautheit, die ich heute mitangesehen hatte, jetzt noch zu erlangen. S. 102-103
IHR GESICHT IST DEM LICHT EBENBÜRTIG. Es strahlt die Sonne an. Ihre Augen leuchten. Mara, teuflische Verführerin des Buddha. Für eine ZweihundertfünfzigsteIsekunde öffneten sich ihre Augen weit, um den Himmel herauszufordern. Wir lachten. Obwohl Mara ein Mann war, ein männlicher Teufel. Wenn die Götter ent-deckten, daß ein Mann über das Ziel hinauszuschießen drohte, so erzählte ich ihr - aber das war viele Jahre zuvor - dann schickten sie eine Frau, um ihn abzulenken. Die schimmernden Zähne, der breite, feingeschnittene Mund. Um den Rhythmus seiner Gedan-ken zu unterbrechen, erklärte ich. Das hast du viele Jahre zuvor ge-sagt, in einer Botschaft in Rom. Der lange weiße Hals. Oder sie schickten einen anderen Mann, um die Frau, die er liebte, zu verführen. Um ihn durch Eifersucht abzulenken. Das hast du gesagt, als wir uns kennenlernten. In holprigem Italienisch. Es war auf einem Botschaftsempfang. Sie trug ein auffälliges Pink. Um ein Erwachen zu verhindern, hast du erklärt. Was für ein ernsthafter junger Mann! Dein Italienisch war damals noch sehr dürftig. Ich fürchte, Sie werden eine ernsthafte Ablenkung für mich sein, sagte der junge Mann zu der Frau in Pink. Sie trug pinkfarbenen Lippenstift. Bei allzu großem Ehrgeiz kennen die Götter kein Problem, sagtest du lachend in den frühen Morgenstunden, den ersten von vielen. S. 251
Lesezitate nach Tim Parks - Schicksal