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Am Morgen des 9. Januar 1993, einem Samstag, während Jean-Claude Romand seine Frau und seine Kinder umbrachte, nahm ich mit meiner Familie an einer Sitzung des Elternbeirats teil, die in der Schule unseres Ältesten stattfand. Gabriel war fünf; so alt wie Antoine Romand. Anschließend aßen wir bei meinen Eltern zu Mittag, Romand bei den seinen, die er nach dem Essen tötete. Den Samstagnachmittag und den Sonntag, üblicherweise der Familie vorbehalten, verbrachte ich in meinem Arbeitszimmer, um ein Buch abzuschließen, an dem ich ein Jahr lang geschrieben hatte: die Biographie des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick. Das Schlusskapitel schilderte seine letzten Lebenstage, in denen er im Koma lag. Am Dienstag beendete ich das Manuskript, und am Mittwochmorgen las ich in der Zeitung den ersten Artikel über den Fall Romand. S. 7


zitiert nach Emmanuel Carrère - Amok


Tod einer Familie
Emmanuel Carrère - Amok

s ging durch die Weltpresse, als im Januar 1993 in einem kleinen französischen Ort, nahe der Schweizer Grenze, das Haus der Familie Romand niederbrannte. Der Vater überlebt. Es stellt sich heraus, dass seine Frau und die beiden Kinder schon vor dem Ausbruch des Feuers tot waren. Auch die Eltern von Jean-Claude Romand werden wenige Stunden später aufgefunden. Beide erschossen.

Es dauert nicht lange, bis die Tragödie aufgeklärt ist: Jean-Claude, der Ehemann und Vater, ist der Täter. Was nur treibt einen Menschen zu einer solchen Tat? Diese Frage beschäftigt den bekannten französischen Schriftsteller Emmanuel Carrère in seinem Buch "Amok". Jean-Claude ist eine vielfältig schillernde Figur - zugleich abstoßend, widerwärtig und in seiner Erzählung um Verständnis heischend.

Fast zwanzig Jahre spielt er den Eltern und seiner Familie eine Existenz vor, die es nie gab. Er hat weder sein Medizin-Studium abgeschlossen, noch ist er Doktor. Es kann auch nicht die Rede sein von einem Arbeitsplatz bei einer internationalen Organisation in Genf. Alles erschwindelt und niemand hat sein Lügengebäude je zum Einsturz gebracht. Und die Finanzen? Die Eltern und Verwandten haben dem erfolgreichen Wissenschaftler und Forscher, der jeden Tag über die Grenze fährt, großzügig ihre Ersparnisse überlassen. Damit das Geld für sie in der sicheren Schweiz gewinnbringend arbeiten kann. Kritisch wurde es für Jean-Claude als seine Geliebte in Paris ihre Geldanlage wieder zurückfordert. Ab diesem Zeitpunkt ist er nicht mehr in der Lage sein Lügenkonstrukt aufrecht zu halten und er sucht fieberhaft nach einem Ausweg. "Am liebsten hätte er sich das Hirn aus dem Schädel gerissen und in die Reinigung gegeben." In seiner Verzweiflung erscheint Mord als die einzige Lösung.

Doch die Arbeit, nachdem Jean-Claude im Gefängnis sitzt, ist für den Schriftsteller nicht einfach. Aus welcher Perspektive soll er sich ihm nähern? Zunächst schlüpft er in die Haut des besten Freundes, doch diese Sicht der Dinge ist nicht durchzuhalten. Sie deckt zu wenige Aspekte dieser kranken Persönlichkeit ab. Die Ich-Form verbietet sich von selbst, sie ist zu nah am Täter.

Es dauert bis zum Januar 1999, mit mehrjähriger Pause dazwischen, bis Carrère die Fertigstellung seiner faszinierenden Persönlichkeitsstudie gelingt. In einem kargen, nüchternen Stil legt er den feine Haarriss in der Biografie Romands frei, der sich ein Leben lang nicht mehr kitten lässt und sich zu einer unüberwindbaren Schlucht auswächst. Alles begann an dem Tag, als Romand während seines Studiums es nicht schaffte, an der angesetzten Medizin-Prüfung teilzunehmen. Statt einer Beichte bei den Eltern und der Freundin, verrennt er sich in eine immer irrealere Welt. "Wie sollte er auch ahnen, dass es noch etwas weit Schlimmeres geben konnte als aufzufliegen, nämlich nicht aufzufliegen, dass ihn diese kindische Lüge achtzehn Jahre später dazu treiben würde, seine Eltern, Florence und die Kinder, die er noch nicht hatte, umzubringen?"

Carrère fährt Romands stundenlange Fahrten tagsüber mit dem Auto nach, besucht seine Cafés, sitzt an Autobahnraststätten, denn Jean-Claude lebt nach außen das stressige Leben eines viel beschäftigten Forschers und kann unmöglich zu früh aus dem Büro heimkehren. Es ist schier unglaublich, in welch prachtvolle und sehr erfolgreiche Hülle sich Romand zurückzieht. Nüchtern, kühl, ohne Mitleid, und mit einem analysierenden Blick schildert Carrère dieses zurechtgebogene Leben, das zu keiner Sekunde echt ist. An dieser sprachlichen Leine blickt der Leser in einen menschlichen Abgrund, gesichert durch knappe Sätze und weiß mit jeder Zeile, dass er keinen Krimi vor sich hat, sondern Realität, die er kaum glauben kann.

© manuela haselberger





Emmanuel Carrère - Amok
Übersetzt aus dem Französischen
von Irmengard Gabler
Originaltitel: "L`Adversaire", © 2000
© 2001, Frankfurt, S. Fischer, 186 S., 18 € (HC)
© 2003, Frankfurt, S. Fischer, 193 S., 8,90 € (HC)

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Ermordet. Man hatte die Ronands ermordet. Luc war wie vom Donner gerührt. »Ein Raubüberfall?«, fragte er, als könne er mit diesem Wort das Grauen ein wenig mindern. Die Beamten wussten es noch nicht, aber die Tatsache, dass beide Verbrechen, obwohl achtzig Kilometer voneinander entfernt, Mitglieder derselben Familie betrafen, ließ eher an einen Racheakt oder an eine Abrechnung denken. Die Beamten fragten noch einmal nach möglichen Feinden, und Luc schüttelte ratlos den Kopf: Feinde, die Romands? Sie waren doch allseits beliebt. Wenn man sie umgebracht hatte, dann kam als Täter nur jemand in Frage, der sie nicht gekannt hatte. Die Polizisten wussten nicht, welchen Beruf Jean-CIaude genau ausübte. Arzt, sagten die Nachbarn, aber er betrieb keine Praxis. Luc erklärte, er gehöre zum Forscherstab der WeItgesundheitsorganisation in Genf. Einer der Gendarmen rief dort an, verlangte mit jemandem zu sprechen, der mit Dr. Romand zusammenarbeitete, seiner Sekretärin oder einem Kollegen. Die Telefonistin kannte keinen Dr. Romand. Da ihr Gesprächspartner nicht locker ließ, leitete sie ihn an den Personalchef weiter, der seine Akten zu Rate zog, und tatsächlich: Es gab keinen Dr. Romand in der WHO. S. 12-13

»Ich sagte ihm, er solle die Geschichte für sich behalten. Er hat sich übrigens gefreut, Sie bei den Presseleuten zu sehen, und lässt Sie grüßen.« Es gab keinen Knalleffekt. Romand sagte beim Prozess dasselbe aus wie vor dem Untersuchungsrichter: Zwei Tage vor der Prüfung sei er die Treppe hinuntergefallen und habe sich das rechte Handgelenk gebrochen. Mit diesem »kleinen Unfall« also hatte alles begonnen. Da keine Spur mehr davon existierte und sich außerdem kein Zeuge finden ließ, der hätte bestätigen können, dass sein Handgelenk im September 1975 bandagiert war, drängte sich der Verdacht auf, dass er diesen Unfall sowohl damals als auch jetzt nur vorgeschoben hatte, weshalb er immer wieder ausdrücklich betonte, dass er sich wirklich ereignet habe. Überraschenderweise fügte er hinzu, dass eine gebrochene Hand gar kein Hinderungsgrund hatte sein müssen, da es die Möglichkeit gegeben hätte, die Lösungen zu diktieren.
Am Morgen der schriftlichen Prüfung zeigte sein Wecker zuerst die Zeit an, zu der er hätte aufstehen müssen, dann den Beginn der Prüfung und schließlich ihr Ende. Vom Bett aus sah er dem Vorrücken der Zeiger zu.
Als die Studenten ihre Blätter abgegeben hatten, fanden sie sich vor dem Prüfungssaal und auf den Terrassen der Cafés ein, und jeder wollte wissen, wie es dem anderen ergangen sei. Am frühen Nachmittag riefen Romands Eltern bei ihm an, um ihm die gleiche Frage zu stellen, und er behauptete, die Prüfung sei gut gelaufen. S.64

Bei einer Prüfung nicht anzutreten und so zu tun, als habe man bestanden, ist kein dreistes Täuschungsmanöver mit Aussicht auf Erfolg, selbst wenn man den Einsatz verdoppelt. Man wird notgedrungen auffliegen und die Universität als lächerliche Figur verlassen müssen - was wohl das war, was ihm auf der Welt am meisten Angst einflößte. Wie sollte er auch ahnen, dass es noch etwas weit Schlimmeres geben konnte als aufzufliegen, nämlich nicht aufzufliegen, dass ihn diese kindische Lüge achtzehn Jahre später dazu treiben würde, seine Eltern, Florence und die Kinder, die er noch nicht hatte, umzubringen?

»Aber warum das aIIes?«, fragte die Richterin. Er zuckte ratlos die Achseln.
»Ich stelle mir Tag für Tag diese Frage, seit zwanzig Jahren. Ich weiß keine Antwort,«
Kurzes Schweigen.
»Aber die Prüfungsergebnisse hängen doch aus. Sie hatten Freunde. Hat denn keiner bemerkt, dass Ihr Name auf keiner Liste stand?« »Nein, dabei habe ich ihn bestimmt nicht nachträglich eingefügt. Außerdem waren die Listen ja hinter Glas.« S. 66-67

In der letzten Woche fühlte er sich bleiern müde Er schlief zu jeder Tages- und Nachtzeit ein, auf der Couch, im Auto. Seine Ohren summten wie die eines Tauchers. Am liebsten hätte er sich das Hirn aus dem Schädel gerissen und in die Reinigung gegeben. Als sie aus Straßburg zurückkamen, wo sie mit befreundeten Ärzten Silvester gefeiert hatten, steckte Florence Wäsche in die Waschmaschine, und er blieb im Badezimmer, um sie durch das runde Fenster dabei zu beobachten, wie sie sich im heißen Wasser verrenkte. S. 127

zitiert nach Emmanuel Carrère - Amok













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Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de
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