tipping point
Malcolm Gladwell - tipping point

Wie oft haben wir uns schon gefragt, wieso gerade jetzt irgendeine Sache in Mode kommt. Wieso gerade jetzt alle Welt Jo-Jo spielt, Hush-Puppies wieder getragen werden, das Internet entdeckt wird, Miniröcke oder Wollmützen "in" sind.

Und genauso oft fragt man sich verwundert, wieso man nicht selbst als erster darauf gekommen ist - oder schlimmer, man ertappt sich bei Verhaltensweisen, die eindeutig Mitläufertendenzen haben.

Malcolm Gladwell untersucht in seinem Buch "The Tipping Point" jenen magischen Punkt, an dem aus einer Schrulle, einer Marotte, einem Erkennungszeichen einer kleinen Gruppe Verschworener plötzlich ein Massenphänomen wird, buchstäblich Millionen sich damit beschäftigen, sich so kleiden, so sprechen, so denken, so konsumieren, "es" kaufen oder eben ihr Verhalten ändern.

Gladwell bemüht eine erstaunliche Analogie aus der Medizin: Die Verbreitung von Seuchen und Epidemien. Am Beispiel Baltimores (USA) zeigt er, wie kleine - anfänglich eher unbedeutende - Veränderungen in der Sozialpolitik der Stadt (z.B. Abriss einiger Sozialwohnungen, Einsparungen beim Krankenhauspersonal, Bekämpfung von Crack) Ende 1996 zu einer explosionsartigen Zunahme von Syphilis geführt hat.

Zug um Zug führt er den Leser an den Gedanken heran, dass massenhaftes, menschliches Verhalten den Regeln von bakteriellen und virulenten Epidemien folgt: Ob AIDS, eine Grippe, ein Modegetränk, eine Fernsehsendung, Harry Potter, lange Haare, Rockmusik, Krawatten ...alles hatte irgendwo einen bescheidenen Anfang und verbreitet sich urplötzlich exponentiell nach derselben Gesetzmäßigkeit.

Gladwell beginnt deswegen systematisch einzugrenzen, wodurch eine kleine Idee beinahe spontan zum Megatrend wird, um dann aber auch genauso schnell wieder zu verschwinden.

Er gräbt dazu aus der psychologischen Forschung verschiedene Phänomene aus: 75% schlagen beispielsweise Alarm, wenn sie allein im Wartezimmer sitzend aus einem Nebenzimmer Rauch unter der Tür austreten sehen; aber nur 38% der Leute reagieren, wenn mehr als eine Person im Wartezimmer sitzt.

Dieselben Ergebnisse erhält man bei klingelnden Telefonen, Unfällen im Straßenverkehr, Geräuschen aus Nachbarwohnungen oder kriminellen Gewalttaten - je mehr Menschen zuschauen, desto geringer ist der Grad der Eigenverantwortung.

Diese "Macht der Umstände", wie sie Gladwell nennt, erklärt aber noch nicht den Grund für ein Verhalten, gar eine Verhaltensänderung oder einen Trend.

Erst wenn zwei weitere Faktoren hinzutreten geschieht Großes: Einmal das "Gesetz der Wenigen" und der "Verankerungsfaktor".

Im "Gesetz der Wenigen" unterscheidet Gladwell in 3 Menschentypen, die seiner Meinung nach für gesamtgesellschaftliche Umwälzungsprozesse verantwortlich sind: Die Vermittler, die Kenner und die Verkäufer.

Aus dem Englischunterricht ist den meisten die Boston-Tea-Party ein vertrauter geschichtlicher Fakt - und doch haben sich damals (1775) zwei Männer in unterschiedliche Richtung aufgemacht, um die Nachricht von einer bevorstehenden englischen Intervention im Hinterland zu verbreiten. Der eine (Paul Revere) war bei der Verbreitung seiner Mund-zu-Mund-Epidemie aber ungemein erfolgreicher als der andere. Gladwell behauptet, dass dieser Mann sowohl ein Vermittler-Typ war (ein Mensch, den ganz viele andere -persönlich- kennen) und gleichzeitig auch ein Verkäufertyp (stark und überzeugend in der Verwendung seiner Sprache).

 

Doch Gladwell geht noch weiter: Er behauptet, dass es nur wenige Menschen gibt, die alle irgendwie gut kennen, diese Wenigen aber ganz entscheidend Einfluss auf Massentrends haben. Ein Versuch aus den 60 Jahren zeigt dies anschaulich: 160 willkürlich ausgewählte Personen überall in den USA wurden mit einem Kettenbrief angeschrieben, sie sollten diesen Brief an eine ihnen bekannte Person (Bruder, Vetter, Arbeitskollegen) weitersenden, die eventuell einen ganz bestimmten Börsenmakler in Boston kennen könnte.

Erstaunlicherweise erreichten die Mehrzahl der Briefe über nur 5 - 6 Stationen den Makler und noch überraschender bei diesem "kleine-Welt-Problem" war, dass über die Hälfte der Briefe über nur drei Personen, Jacobs, Jones und Brown, lief.

Das Experiment zeigte einerseits, dass Millionen von Menschen nur 5 - 6 Grade der informatorischen Entfernung voneinander haben, andererseits aber auch, dass die große Masse der Menschen über eine sehr kleine Anzahl besonderer Menschen, den Vermittlern, alle miteinander verbunden sind. Eigenartigerweise sind diese Vermittler nun aber nicht unbedingt Staatschefs, Konzerndirektoren, Showmaster oder Wanderprediger, sondern normale Durchschnittsmenschen, denen das Leben aber offenbar diese gesellschaftliche Rolle zugedacht hat. Sie fungieren lediglich als Überträger, sie sind nicht Verursacher und häufig auch nicht einmal Nutznieser einer Entwicklung.

Doch weil einer einen kennt, der einen kennt, der einen kennt, wird noch lange kein Trend daraus - erst das Statement eines "Kenners", er ist ein Guide, Fachmann, Spezialist, gibt dem Trend einen entscheidenden Kick. (vgl. Internet-Communities)

Der "Kenner" ist meist kein Vermittler-Typ, er beschäftigt sich lieber mit seinem Fachgebiet als mit Bekanntschaften. Auch ist er nicht ein Verkäufer-Typ, er wird also von sich aus nie andere zu etwas überreden wollen. Aber er ist ein Auskenner - jeder von uns hat in seinem Bekanntenkreis solche Menschen: Jemand, den man zu einem bestimmten Problem befragen kann, jemand der weiß, welches Buch gut ist, welche Aktien Marktchancen haben, welche Produkte anderen vorzuziehen sind oder wie man eine Heilung oder Reparatur erreichen kann. Und wenn wir so jemanden konsultieren, dann wird dessen Urteil unsere weiteren Entscheidungen massgeblich beeinflussen - machen wir gute Erfahrungen, wird sich dieser Einfluss sogar festigen und verstärken.

Aber auch dadurch sind Massenpsychosen oder harmlosere Massenentwicklungen noch nicht vollständig erklärbar: Es fehlt noch das Moment des Behaltens, der sogenannte "Verankerungsfaktor". Erst wenn Menschen einen Sachverhalt, eine Botschaft sich einprägen, entsteht auch nachhaltige Handlung. Eine Erkenntnis die Coca-Cola, Nike u.a. seit Jahren in der Werbung nutzen.

Sehr interessant lesen sich seine Ausführungen zu den psychologisch bis ins Detail immer und immer wieder perfektionierteren Methoden Kindersendungen wie die "Sesamstraße" oder "Blues Clues" über Jahre hinweg mit der Verankerungsmethode zu Publikumslieblingen zu entwickeln.

Gladwell berichtet von einem Experiment mit Studenten: In verschiedenen Versuchsanordnungen wurde die Studentenschaft aufgerufen ihren Tetanus-Schutz wieder aufzufrischen. Gleichgültig, ob mit schockierenden Bildern und Geschichten oder mit medizinisch seriöser Aufklärung, im Endeffekt ließ sich nur ein kleiner Prozentsatz der schriftlich aufgeforderten Menschen wirklich impfen, obwohl eine viel größere Anzahl der "Geschockten" das ursprünglich beabsichtigten.

Erst als die Forscher ihre Aufklärung um eine Lage-Skizze zum medizinischen Dienst auf dem Uni-Campus ergänzten, stieg die Zahl der geimpften Personen, unbedeutend mit welcher Art der Informationsvermittlung die Aufforderungen ursprünglich betrieben wurde.

"In anderen Worten, was die Tetanus-Kampagne brauchte, um zu kippen, war keine Lawine neuer oder zusätzlicher Information. Was sie brauchte, war eine subtile, aber signifikante Veränderung der Präsentation."

Und so eigenartig es klingen mag: Gladwell erklärt damit den Rückgang der schwerstkriminellen Verbrechenswelle in New York vor einigen Jahren nicht durch den verstärkten Einsatz von Staat und Polizei, sondern mit der rigorosen Entfernung von Graffitis und Schmierereien von Hauswänden und U-Bahnen und der Verfolgung von Schwarzfahrern. Im ersten Ansatz lächerlich, bei näherer Betrachtung folgerichtig.

In der zweiten Hälfte des Buches beschäftigt sich Gladwell mit verschiedenen Fallstudien: Selbstmord- und Raucherepedemien, Doc Martins, Palm Pilots und Männer-Make-up - alles kann er sinnvoll zuordnen und begründen.

Interessanterweise stößt er auch auf eine Gruppengrößezahl von 150 Individuen - alles was darüber hinaus wächst, scheint viel größere Organisationsprobleme zu haben, als Gruppen, die unter dieser Größe liegen. Dunbar war 1992 einer der ersten, der dieses Phänomen mit der Entwicklung des Neocortex (Großhirn) bei den Primaten und anderen Tieren in Verbindung brachte (siehe: Klatsch und Tratsch - Über die Entwicklung der Sprache). Gladwell nun bringt erfolgreiche Beispiele aus der Industrie: Die Firma Gore und ihre Unternehmensphilosophie der Spaltung - für alle äußerst lehrreich, die Gruppen organisieren müssen. Oder auch die phänomenale Verbreitung des Buches "Devine Secrets of the Ya-Ya Sisterhood" ist aufschlussreicher Stoff.

Damit stellt sich zum Schluss die Frage, an wen sich das an und für sich nicht sehr umfangreiche Buch wendet? Kurz - an jeden, der gesellschaftliche oder wirtschaftliche Wirkungen erzielen möchte: Politiker, Medienleute, Werbefachleute, Marketingstrategen, Verkaufspsychologen, Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter, Spekulanten, Polizisten, Volkswirte ... oder einfach nur solche, die verstehen möchten, wie aus einem anfänglichen Witz, einer "Schnappsidee", die bis zum TIPPING POINT heranwächst, plötzlich eine unaufhaltsame Lawine wird. Radikalismus, Alkoholismus, Selbstmord, Gewaltbereitschaft und vieles mehr wird damit in seiner Entwicklung (nicht aber Entstehung) erklärlicher und man kann der Problemlösung und -bewältigung damit einen Schritt näher kommen.

Insgesamt ist das Buch sehr populärwissenschaftlich und persönlich geschrieben, verzichtet aber glücklicherweise nicht auf die in der Wissenschaft üblichen Fußnoten und Quellenangaben. Sicher wird Gladwell nur ein klein wenig etwas anstoßen, es ist ihm aber zu wünschen, dass er recht behält, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wie aus kleinen Dingen Großes bewirkt werden kann - obwohl auch hier wieder gelten darf: Die Erfindung und Verbreitung des Rades war vermutlich ein Segen, die Gründung der NSDAP wohl eher weniger. Je nachdem in wessen Köpfen dieses Gedankengut aufkeimt, es wird Fluch oder Segen über die Menschheit bringen - im Augenblick kann sich aber jeder damit beschäftigen und seine Schlüsse daraus ziehen. Noch sind Gedanken frei - solange, bis ein Enkel Gladwells kommen wird, um uns zu erzählen, warum wir so und nicht anders denken. © manuela haselberger

Malcolm Gladwell - tipping point
Aus dem Amerikanischen von Malte Friedrich
Originaltitel: © 2000, "The Tipping Point"
2000, Berin, Berlin Verlag, 280 S.

Buch bestellen



© 24.10.2000 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de