... reinlesen




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Sie trug ein veilchenfarbenes Kleid und weiße Ledersandalen, und mir fiel gleich auf, daß sie ihre Fußnägel gelb lackiert hatte. Die junge Frau saß auf einer Bank im Park des Château de Nérac und las ein dickes Buch, und es sah aus, als hätte sie ihre Füße in zwei erfrischenden Krokussträußen vergraben. Ich sah sie zum ersten Mal. Sie las Chateaubriand. Hinter ihr eine Steinfigur mit einem Spatz in der Hand. Als der Spatz davonüog, blätterte die junge Frau eine Seite weiter, dann rührte sie sich nicht mehr. Sonnenlicht fiel auf die hellen Seiten des Buches und sprenkelte ihr Gesicht. Man hätte meinen können, die junge Frau betrachte sich in einem Spiegel.

Sah sie, daß ich vor ihr stehengeblieben war? Spürte sie wenigstens, daß ich so nah an ihrer Bank stand? S. 7 ........... weiter....


Lesezitat nach Jean-Marie Gourio - Die Bibliothekarin, S.


L e s e l u s t
Jean-Marie Gourio - Die Bibliothekarin

Als der junge Fallschirmjäger Mathilde zum ersten Mal im Park sieht, sitzt sie auf einer Bank und liest. Sie ist förmlich von ihrem Buch aufgesogen und beim näheren Kennenlernen, ist ihre erste, alles entscheidende Frage: "Lesen Sie gerne?"

Und in der Zukunft wird der junge Mann, der bisher noch nicht einmal ein Buch freiwillig aufgeschlagen hat, diese Frage ganz eindeutig mit "Ja" beantworten können, ohne lügen zu müssen, denn Mathilde, die Bibliothekarin, schleppt ihn quer durch die Weltliteratur. Und seinen Vater stecken die beiden mit ihrer Leidenschaft für die gedruckten Buchstaben gleich mit an.

Für alle Buchliebhaber, ist dieser Roman ein MUSS! Wer sich jemals Gedanken darüber gemacht hat, welche Bücher zu welchem Getränk passen, (Preisfrage: was trinkt man dann zu Tim und Struppi?) oder wie viele Bücher man lesen muss, um intelligent und gebildet zu sein, der findet hier die richtigen Antworten; und auf jeden Fall wieder einen gleich gesinnten leidenschaftlichen Leser. Nicht zu vergessen die vielen weiteren Bücher, die endlich gelesen werden wollen.

Jean-Marie Gourio - Die Bibliothekarin
aus dem Französischen von Anja Nattefort
Originaltitel: © 1998, "Chut!"
2000, München, List Verlag, 213 S.,

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Fortsetzung des Lesezitats ...

"Darf ich mich setzen?"
"Lesen Sie gerne?" hatte sie gefragt.
"lch bin Fallschirmjäger in Pau."
"Deswegen können Sie doch trotzdem lesen, oder nicht?" S. 9

"Mögen Sie Ponge?"
"Kenne ich nicht."
"Das ist ein Schriftsteller", sagte sie.
"Hat er das geschrieben, was sie gerade lesen?"
"Genau."

"Ponge? Wie der Bimsstein?"
"Nein, der heipt ponce!" lachte sie los.
"Ponge, Francis Ponge."

Ich erinnere mich, daß sie mir einige Seiten vorlas. Ich betrachtete die kleinen Spitzen ihrer Brüste durch den Stoff des Kleides. Ihre zarten Hände auf den Seiten. Ihren Hals, ihren Bauch. Sie las sehr gewissenhaft. Ihre Worte schlüpften angewärmt aus ihrem Mund. Ihre Lippen bewegten sich kaum. Hin und wieder verließ ihr Blick die Seite und fixierte meine Augen. "Gefällt es Ihnen?" Natürlich gefiel mir Die Seife! Und sie mochte ich auch schon! Und ihre Beine! Und ihre Lippen! "Soll ich Ihnen weiter vorlesen?" "Ja, bitte!"
Und weil ich das Gefühl hatte, daß es ihr gefallen würde, fügte ich hinzu: "Das ist sehr gut geschrieben ..." "Finden Sie?" "Auf jeden Fall!"

Dann las sie weiter. Ich fühlte mich wohl und dachte nur an eins: ihr den Bauch und die Brüste einzuseifen. Ich stellte sie mir in ihrem Bad vor.

"Ich bin Bibliothekarin" , sagte sie.
"Gehen Sie gern schwimmen?" S. 11

"Also, was darf ich dem Doktor Schiwago bringen?" Was trank man zu Dostojewski? Gerichte kombinierte man sorgfältig mit dem Wein, warum nicht auch Getränke und Bücher? Gerichte und Bücher? Kleidung und Bücher, damit perfekte Harmonie entstand? (Erst später lernte ich, daß das viele verrsuchen, Lederjacke, Tee mit Milch, Café mit großen Glastüren, Boulevard Sainr-Germain: Le Clézio; oder grober Wollpullover, braune Samthose, Banane, menschenleerer Park: Duras; tailliertes Kleid, beigefarbener Trenchcoat, Sandwich mit Salat, Schultasche, im TGV reservierter Platz für Nichtraucher: Peter Handke; Ernaux das gleiche, nur mit flachen Schuhen, Regionalzug und Keksen für den Hunger zwischendurch.) S. 92

Welches Wunder machte es möglich, daß man auf einmal, mit einem Glas in der Hand, Eiswürfeln im Whisky und einer Schüssel Erdnüsse, von Freunden umringt war? Bohumil Hrabal, oh, là, là, was für ein Genie! Und Duras, oh, là, là, wie langweilig! Konnte man lesen, ohne etwas drüber zu erzählrn? Konnte man das Geheimnis für sich behalten? Hatte es eigentlich einen Sinn zu lesen, wenn man nicht darüber redete? Brachte einen Lesen zum Reden? Drängte es die Stille der gelesenen Wörter nach draußen in den tosenden Lärm der gesprochenen Wörter? Wie hielten sie es miteinander in einem Kopf aus, die stillen und die geschwätziger Wörter? Oder waren sie getrennt voneinander untergebracht? Gab es in unserem Kopf einen Schlafsaal für gelesene und einen für gesprochene Wöner? Und wenn wir überhaupt nicht lasen, blieb dann der eine Schlafsaal ewig leer? Würden die gesprochen Wörter eines Nachts plötzlich ihren engen Schlafsaal verlassen, die unbelegten weißen Betten in dem großen, leeren Schlafsaal belagern und damit eventuellen gelesenen Wörtern für immer die Ruhe stehlen? Und dann noch etwas, erinnerte man sich leichter an ein Buch, wenn man es in Blindenschrift gelesen hatte? Machten unsere Fingerkuppen ihre Arbeit besser als unsere Augen? Müßten wir alle die Blindenschrift lernen? Verschafften unsere Finger, wenn sie empfindsame Leser von Lamartine und Maupassant geworden waren, den Körpern junger Mädchen süßere Sinnenfreuden? Würden Mathildes Brüste in meinen Liebkosungen gern die chinesische Literatur des ausgehenden sechzehnten Jahrhunderts wiedererkennen? Oder eine schöne Passage von Bossuet? Und wenn meine Finger ein paar sanfte Worte der Marquise auf ihrem Bauch hinterließen, würde Mathilde dann in der Nacht "Sévigné", den Namen meiner Zärtlichkeiten flüstern? S. 127


Lesezitate nach Jean-Marie Gourio - Die Bibliothekarin


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 3.8.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger

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