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Triest, 12. September , 1977

Elisa de Kopfersberg hatte nicht mit hinausfahren wollen an diesem Tag. Schon die Vorstellung, mit ihrem Mann auch nur eine Minute auf dem Motorboot verbringen zu müssen, war für sie außerordentlich unangenehm. Sie würde sich in den Schatten setzen und sich auf ihr Buch zu konzentrieren versuchen, während er mit zusammengekniffenen Lippen und sturem Blick zu einem abgelegenen Ankerplatz vor der Steilküste fuhr. Irgendwann, das wußte sie, durchbräche er das Schweigen und würde ihr erst leise, dann immer lauter Vorwürfe machen.

Elisa traf sich an Sonntagen lieber mit ihren Freundinnen in der "Lanterna", dem ältesten Adria-Bad Triests, das unter Maria Theresia erbaut worden war und bis heute die Tradition getrennter Abteilungen für Männer und Frauen pflegte. Ihren kleinen Sohn durfte sie noch ins Frauenbad mitnehmen, er war noch nicht ganz sechs Jahre alt. In der "Lanterna" fühlte sie sich geborgen und fand Verständnis bei ihren Begleiterinnen. Natürlich ahnte sie, daß ihr Mann eine Affäre hatte, auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er steckte in finanziellen Schwierigkeiten und hoffte, daß sie ein weiteres Mal seine Schulden beglich. Doch diesmal blieb Elisa eisern. Diesmal gab es keinen Grund mehr, ihm beizustehen. Als sie ihm seinen Fehltritt auf den Kopf zusagte, hatte er alles abgestritten. "Und wenn es wirklich so wäre", hatte er geschrien, "dann solltest du dich nicht darüber wundern. Du hilfst mir nicht und interessierst dich einen Dreck für meine Probleme." Einmal hatte er sie geschlagen, ein anderes Mal versuchte er es mit Blumen und einem Brillantring, mit Zärtlichkeiten, die ihr zuwider waren und vor denen sie sich in ihrem Zimmer einschloß mit dem weinenden Kind. S. 11

"Bist du deshalb Bulle geworden, Proteo?" Rossana grinste.
"Nur deshalb! Also was ist?" Laurenti war nach einem Blick auf die Wanduhr aufgestanden und hatte es plötzlich eilig. "Denk drüber nach! Ich muß los. Wir sehen uns heute abend. Machst du was mit Laura ab?"

Er hatte zu lange mit Rossana Di Matteo geplaudert, seinen Wagen nicht dabei und zu Fuß einen zu langen Weg vor sich, um pünktlich zur Sitzung beim Polizeipräsidenten zu erscheinen. Er ging schnellen Schrittes vom Campo Marzio in Richtung Zentrum, benutzte nicht den Gehweg, sondern ging neben den parkenden Autos auf der Straße, sich häufig in der Hoffnung umwendend, daß ein Taxi vorbeikäme. Es war fünf vor sechs und dichtester Verkehr. Er hastete schwitzend weiter. In seinem Büro lag immer ein frisches Hemd für besondere Fälle, das hätte er jetzt gerne angezogen. Dazu reichte aber die Zeit nicht mehr, er käme dann nur noch später. Er mußte direkt ins Präsidium, auch wenn dank der großflächigen Schweißflecken sein Hemd aussehen würde wie das Fell einer österreichischen Kuh. Immer wieder wurde er von Motorrollern, die sich durch die Lücken zwischen den Autos zwängten, mit lautem Hupen von der Straße gedrängt. Verdammtes Pack! Einmal streifte ihn sogar einer mit dem Rückspiegel am Arm. Doch vom zugeparkten Gehweg aus würde er beim besten Willen keinen Wagen anhalten können.

Gerade hatte er die Via Belpoggio überquert, als Rettung nahte. Ein blauer Wagen mit dem weißen Streifen der Polizia Statale näherte sich hinter den Fahrzeugen. S. 76


Lesezitat nach Veit Heinichen - Gib jedem seinen eigenen Tod


Ein neuer Kommissar in Triest
Veit Heinichen - Gib jedem seinen eigenen Tod

lle Fans von Commissario Brunetti werden sich freuen, denn nun ermittelt auch in Triest ein nicht minder interessanter Kollege von ihm. Proteo Laurenti, der am liebsten seinen Gedanken bei einem erfrischenden Bad im Meer nachhängt, und auch den schönen Künsten wie der Literatur und der Musik gegenüber nicht abgeneigt ist, betreibt seit vierundzwanzig Jahren seine polizeiliche Ermittlungsarbeit in der faszinierenden Stadt an der Adria.

Als Laurenti den österreichischen Geschäftsmann Bruno de Kopfersberg, der spurlos von seiner Luxusyacht verschwunden ist, wieder finden soll, überrascht ihn die Kälte des Sohnes, der sich überhaupt nicht für seinen Vater interessiert und auch seine Frau scheint nicht auf sein Auffinden erpicht zu sein. So nimmt Laurenti das Import- und Exportgeschäft des verschwundenen Kaufmanns genauer unter die Lupe. Dieser hat für seine Firma gerade einen großen Auftrag erhalten, Hilfelieferungen, die nach dem schweren Erdbeben in der Türkei über Bari nicht rechtzeitig ausgeliefert wurden, nun über sein Unternehmen in Triest abzuwickeln. Unterstützt von einer Menge EU-Gelder - ein gefundenes Fressen für krumme Geschäfte und in die scheint de Kopfersberg verwickelt zu sein. Denn die jungen Frauen in seiner Villa gehören nicht zu seinen häuslichen Angestellten und ihre Dienste gehen bei den nächtlichen Partys für Geschäftsfreunde weit über den üblichen Service hinaus.

In den kommenden heißen Sommerwochen hat Laurenti, der ein richtiger Familienmensch ist, wenig Zeit für seine Frau und die Kinder. So entgeht ihm, dass seine Tochter sich für einen Schönheitswettbewerb beworben hat und auch seine Mutter, die zu Besuch weilt, sieht ihn selten.

Ungeduldig versucht er die Drahtzieher, deren Fäden von der örtlichen Bankdirektion bis zu Stadtverwaltung reichen, dingfest zu machen. Doch die Strukturen der Mafia sind mächtig und so leicht lassen sich die Beteiligten ihr lukratives Geschäft um Prostitution und Menschenschmuggel nicht aus der Hand nehmen.

Es ist der erste Krimi von Veit Heinichen, dem Mitbegründer des Berlin Verlags im Jahre 1994. Den Schauplatz seines Romans kennt er aus erster Hand, denn er lebt heute in Triest. Seine Mischung aus sehr gut gelungenem Lokalkolorit, dem sympathischen Kommissar Laurenti und einem politisch aktuellen Zeitgeschehen, das durchaus in einer ähnlichen Konstellation ein Fall aus den abendlichen Nachrichten sein könnte, das macht den Erstling zu einem Thriller, der gern und schnell gelesen wird und unbedingt nach einer Fortsetzung drängt, denn das Ergebnis des Schönheitswettbewerbs der Tochter Laurentis muss Veit Heinichen seinen Leser schon noch verraten. © manuela haselberger


Veit Heinichen - Gib jedem seinen eigenen Tod
2001, Wien, Zsolnay Verlag, 332 S.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

"Dann können wir anfangen", sagte der Questore. "Es gibt eine gute Nachricht, wegen der ich Sie nicht hergebeten habe, die aber doch verdient, erwähnt zu werden: Die EU hat beschlossen, daß Triest Umschlagplatz für die Türkei-Hilfe sein wird. Wir sind ohnehin der größte türkische Hafen nach Istanbul, und unsere Spediteure haben offensichtlich eine gute Lobby. Schon ab morgen werden die ersten Hilfsgüter erwartet. Der Mob VII ist groß genug. Aber der Fernverkehr wird deutlich zunehmen, und es wird nicht ohne Staus abgehen. Die Stadt kann zeigen, daß sie gut organisiert ist, und wird vermutlich am Unglück der anderen viel Geld verdienen.

Aber der eigentliche Grund dieser Besprechung ist die extreme Zunahme illegaler Einwanderung an unseren Grenzen im Nordosten. Allein in diesem Monat verzeichnen wir fünfzig Prozent mehr Festnahmen als im Vorjahr. Seit die Behörden in Apulien ihre Maßnahmen verstärkt haben, suchen die Schleuser nach Alternativen. An die Dunkelziffer will ich gar nicht denken. Betroffen ist die ganze Grenze bis Villach, aber ausgerechnet unser Abschnitt, von Muggia bis Gorizia, scheint von großem Interesse zu sein. Der Karst ist in vielerlei Hinsicht ideal. Ich habe Sie hergerufen, meine Herren, weil wir unsere Kräfte koordinieren und die Kontrollen verstärken müssen."

Am Tisch saßen der Colonello der Carabinieri, der Maggiore der Guardia di Finanza, der Primo Dirigente der Vigih Urbani für die Stadtpolizei, ein Maggiore der Guardia Costiera und Commissario Laurenti von der Polizia Statale S. 80

Dann war eine unbemerkte Landung unmöglich. Die Küste des Triestiner Golfs wurde immer wieder für illegale Transporte genutzt. Die italienischen Behörden hatten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Verbindung zwischen Albanien und Apulien gelegt, eine Strecke, die mit schnellen Booten in höchstens zwei Stunden zu machen war und vor allem von der Mafia zum Schmuggel von Zigaretten und Menschen genutzt wurde. Nach Norden schleuste man erst seit kurzem auf dem Seeweg. Hier rechneten die Behörden kaum damit. Die Strecke schien zu abgelegen, war keine klassische Balkanverbindung, und der Golf von Triest war überdies mit einem undurchlässigen Radarnetz überzogen. Die dunkelblauen Schlauchboote brauchten für Hin- und Rückweg gerade mal eine Stunde. Vom Radar wurden die Kunststoffboote nicht erfaßt. Sie hatten sich parallel zur kroatischen Küste gehalten, waren ohne Scheinwerfer, nur mit den Navigationsinstrumenten, eine knappe Meile vor der Küste gefahren, ohne in Gefahr zu geraten, anderen Schiffen zu begegnen. Kurs Nord-Nordwest vorbei an Parenzo, Cittanova d'Istria, Umago - bis zur Punta Salvore hatten sie ohnehin nicht viel zu befürchten. Erst dann, an der slowenischen Grenze, wenn sie auf Kurs Nordost zu wechseln hatten, mußten sie wachsam sein. Auf dem letzten Drittel der Strecke waren viele private Schiffe unterwegs, aber sie mußten vor allem auf die großen Schiffahrtswege in die Häfen von Capodistria und Triest achten. Viele Frachter lagen zwischen diesen Punkten vor Anker. Außerdem arbeiteten die Behörden Sloweniens und Italiens eng zusammen, um den Schiffsverkehr in diesem Teil des Meeres zu regeln. Aber es gab eine große Erleichterung: Das Leuchtfeuer des "Faro della Vittoria" von Triest ist das hellste in der nördlichen Adria. Noch auf eine Entfernung von zweiunddreißig Meilen konnte man es erkennen. S. 208


16:25 Uhr

Zumindest in einem Punkt seiner Beschreibung von Polizisten hatte Vincenzo Tremani recht, soweit es Proteo Laurenti betraf: Er war ungeduldig. Er war ungeduldig bis zum Erbrechen und hatte sich darin nie geändert. In seinem Beruf, aber auch privat. Er war es mit anderen und mit sich selbst. Als er Laura kennenlernte, war sie wegen seiner Ungeduld mehrmals vor ihm geflohen. Trotz ihrer Zuneigung zu diesem seltsamen Mann, der dem konventionellen Bild eines Polizisten schon wegen seiner Begeisterung für Malerei und Literatur nicht so recht entsprach, hatte sie lange gezögert, seinem Werben nachzugeben. Laurenti hatte seine spätere Frau mehr als ein Jahr hofiert, ihr Blumen geschickt, sie zum Essen ausgeführt, Bücher geschenkt, sie mit seinen Aufmerksamkeiten so überschüttet, daß sie eines ganz bestimmt wußte: Wenn sie sich diesem Mann hingäbe, dann ließe er sie wie ein trotziges Kind nie mehr los. Das hatte Laura auf Distanz gehalten, und Proteo hatte so sehr darunter gelitten, daß er sich immer wieder völlig zurückzog, sich in seine Bücher vertiefte und auch die engsten Freunde vor den Kopf stieß. Aber Laura ging ihm nie aus dem Kopf. Und irgendwann hatte er gewonnen, hatte sie gewonnen und sich selbst dabei fast verloren.

Nur seine Ungeduld war nicht von ihm gewichen. Auch an diesem Spätnachmittag spürte er sie, als er auf dem Weg in sein Büro an der Questura vorbeikam, wo der Leiter der mobilen Streifen seinen Dienst versah. Mit ihm, Fossa, hatte er eine Rechnung offen. Fossa, davon war Laurenti überzeugt, hatte ihm einen Prügel in die Speichen geworfen. Laurenti hatte ihm blind vertraut und war dafür bitter bestraft worden.S. 250

Lesezitate nach Veit Heinichen - Gib jedem seinen eigenen Tod



© 25.6.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de