1. KAPITEL
Ohne die Wassermelone wäre ich nicht berühmt geworden, und ohne die Hitze hätte ich die Wassermelone nicht gehabt. Deswegen fange ich wohl am besten mit der Hitze an.
Bloß festzustellen, dass es heiß war; erweckt vielleicht den falschen Eindruck. Es lässt Sie womöglich ans Mittelmeer denken, an einsame Strände und Longdrinks mit farbenfrohen Papiersonnenschirmen. Nichts dergleichen. Die Hitze war wie ein großer, fetter, stinkender alter Hund, ein räudiger, schmieriger, furzender, verendender alter Hund, der sich Anfang Juni auf London niedergelassen und drei schreckliche Wochen lang keinen Millimeter bewegt hatte. Es war immer schweißtreibender und schwüler geworden, und das anfängliche Blau des Himmels hatte sich im Lauf der Zeit in eine giftige Mischung aus Gelb und Grau verwandelt. Die Holloway Road hatte inzwischen etwas von einem riesigen Auspuffrohr, weil die Abgase der Autos vom Gewicht noch schädlicherer Schadstoffe auf Straßenhöhe festgehalten wurden. Wir Fußgänger husteten einander an wie Beagle, die gerade aus einem Tabaktestlabor befreit worden waren. Anfang Juni hatte ich es noch als wohltuend empfunden, ein Sommerkleid anzuziehen und den leichten Stoff auf meiner Haut zu spüren, aber mittlerweile waren meine Kleider abends immer rußgeschwärzt und fleckig, und ich musste mir jeden Morgen die Haare waschen.
Normalerweise wird mir die Auswahl der Bücher, die ich meiner Klasse vorlese, nach faschistischen, totalitären, von der Regierung vorgeschriebenen Prinzipien aufoktroyiert, aber an diesem Morgen hatte ich ausnahmsweise mal rebelliert und ihnen eine Brer-Rabbit-Geschichte vorgelesen, die ich in einer Pappschachtel voller ramponierter Kinderbücher gefunden hatte, als ich die Wohnung meines Dads ausräumte. Fasziniert hatte ich alte Schulberichte durchgesehen, Briefe gelesen, ... S. 13
Sie trägt eine cremefarbene Hose und ein kastanienbraunes Shirt. Ihre Hand ist verbunden, und hin und wieder hält sie sie vorsichtig mit ihrer gesunden Hand, als wäre es ein verletzter Vogel Sie hat das Haar hinter die Ohren geschoben, was ihr Gesicht noch schmaler wirken, ihre Wangenknochen noch stärker hervortreten lässt. Sie sieht schon um Jahre älter aus. Ich drehe an ihrer Lebensuhr.
Sie trägt heute keine Ohrringe, kein Parfüm. Der rote Lippenstift macht ihr Gesicht blass. Sie hat den Puder zu dick aufgetragen, sodass ihre Wangen und ihre Stirn fleckig wirken. Sie geht wie eine Schlafwandlerin, ihre Füße schlurfen über den Boden. Sie lässt die Schultern hängen. Hin und wieder runzelt sie die Stirn, als würde sie versuchen, sich an etwas zu erinnern. Sie presst die Hand an ihr Herz, als wollte sie den Puls ihres Lebens unter der Handfläche spüren. Das hat die andere auch gemacht.
Alles an ihr war so sorgsam zusammengehalten, aber jetzt beginnt sie auseinander zu fallen. Stück für Stück bricht ihre Schale auf Ich kann sie sehen. Die Teile von ihr die sie niemals jemandem zeigen wollte. Angst bringt die Menschen dazu, ihr Innerstes nach außen zu kehren.
Manchmal verspüre ich den Wunsch zu lachen. Es ist alles so gut gelaufen. Das kann mein ganzes Leben so weitergehen. Das ist es, worauf ich gewartet habe. S. 178
"Bist du okay?", flüsterte er.
Ich nickte. Mein Blick wanderte immer wieder zu Morris, und jedes Mal, wenn ich ihn ansah, starrte er zurück. Er fixierte mich mit seinem unverletzten Auge, das niemals zu blinzeln schien. Ein Beamter beugte sich über ihn und sagte etwas, aber sein Blick blieb auf mich gerichtet.
"Setz dich", sagte Cameron zu mir.
Ich sah mich um. Mit Camerons Hilfe schaffte ich es bis zum Tisch, wo ich so Platz nahm, dass ich Morris nicht sehen musste. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen, wenn ich noch eine Sekunde länger gezwungen wäre, ihn anzuschauen.
"Hör zu, Nadia, bevor wir weiterreden, muss ich dich über deine Rechte aufklären. Du brauchst nichts zu sagen, wenn du nicht möchtest. Aber wenn du etwas sagst, dann kann alles, was du von dir gibst, als Beweismaterial gegen dich verwendet werden, falls Anklage gegen dich erhoben wird. Außerdem hast du ein Recht auf einen Anwalt. Wenn du möchtest, können wir einen für dich organisieren. Hast du mich verstanden?"
Ich nickte.
"Nein, du musst laut sagen, dass du mich verstanden hast."
"Ich habe verstanden. Ich brauche keinen Anwalt. Ich kann für mich selbst sprechen."
"Was ist passiert?"
"Wirf einen Blick in die Schublade. Dort drüben."
Er trat an die offene Haustür und rief hinaus, dass er jemanden von der Spurensicherung brauche. Gerade kam ein Krankenwagen mit quietschenden Reifen vor dem Haus zum Stehen. Ein Mann und eine Frau im grünen Overall stürmten herein und beugten sich über Morris. Cameron starrte mich an. Dann streifte er sich ein paar dünne Plastikhandschuhe über, nicht solche, wie Chirurgen sie benutzen, sondern eher welche von der billigen Sorte, die man an der Tankstelle bekam. Er zog die Schublade auf und sah sich die Fotos an.
"Er kennt Fred", sagte ich.
Die Situation bekam langsam absurde Züge. Cameron starrte verblüfft auf die Bilder. S. 394
Lesezitate nach Nicci French - Der Sommermörder