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An einem drückend heißen Julitag des Jahres 1749 war ein Trupp französischer Soldaten damit beschäftigt, Steine auf den zerfallenden Festungsanlagen im Norden des ägyptischen Städtchens Raschid zu brechen, das die Europäer Rosette nannten. Der Flecken lag im westlichen Nildelta, dreißig Meilen von Alexandria entfernt, Inmitten eines Waldes von Dattel-, Feigen- und Maulbeerbäumen. Seine Bewohner hatten die Gewohnheit angenommen, aus den Steinen verlassener, allmählich einstürzender Gebäude in deren unmittelbarer Nähe neue Häuser zu errichten, die allerdings auch nicht sonderlich lange hielten. Nun verfuhren die vor kurzem eingerückten französischen Besatzer in derselben Art mit den Verteidigungsbauten.

Die Männer in den blauen Uniformen, die der alten Mauer mit Spitzhacken und Brechstangen zu Leibe rückten, hatten ihre Zweispitze abgesetzt und die Köpfe zum Schutz gegen die stechende Sonne mit Tüchern umwickelt. Nach dem Städtchen hin sicherten Posten die Arbeitenden gegen Überfälle Einheimischer, die es auf die zu kleinen Pyramiden zusammengestellten Gewehre oder die Proviantfässer abgesehen haben mochten, aber Rosette lag in der brütenden Nachmittagshitze wie ausgestorben, so daß die einzige Aufgabe der Wächter darin bestand, die in Scharen herumstreunenden Hunde mit Steinwürfen zu vertreiben.

Den Trupp befehligte ein Ingenieurleutnant namens Xavier Bouchard. Die Soldaten hatten den Auftrag, eine Außenmauer der aus dem frühen 16. Jahrhundert stammenden Befestigung niederzureißen. Hier sollte das Fort Saint Julien entstehen, von dem aus die Franzosen den Schiffsverkehr auf dem bolbitischen Arm des Nils zu kontrollieren und vorbeiziehende Karawanen vor Beduinenüberfällen zu schützen gedachten.

Unter einer Palmengruppe am anderen Ufer des Nilarmes hielt ein Zug Beduinen und beobachtete die Fremden, die hier so unverhofft eingefallen waren und das bis dato als unbesiegbar geltende Heer der Mamelucken, der Herrscherkaste Ägyptens, in einer einzigen Schlacht zusammenkartätscht und niedergemetzelt hatten. Einer der Beduinen feuerte sein Gewehr in die Luft ab und drohte, unter dem Gelächter seiner Kameraden, den Franzosen mit der Faust.

"Laßt euch nicht provozieren, Männer", befahl Bouchard und bedeutete einem Posten, er möge die Wüstennomaden im Auge behalten. Dann klatschte er in die Hände. "Weiter geht's! Bis heute abend will ich von dieser Mauer hier nichts mehr sehen!" Schweigend und schwitzend, von Fliegenschwärmen umtanzt, setzten die Soldaten ihre Arbeit fort. Der Fluß war an dieser Stelle zu breit für einen gezielten Schuß. Mochten die da drüben also ihren Spaß haben.

Die alte Befestigungsmauer, an der sich das Abrißkommando zu schaffen machte, bestand größtenteils aus Sandsteinblöcken unterschiedlichsten Ausmaßes, die ohne jedes System, aber recht geschickt aufeinandergetürmt worden waren. Manche der Quader mußten aus Ruinen jenes Urvolkes der Pharaonen stammen, das hier vor undenkbaren Zeiten gigantische Pyramiden, Tempel, Obeliske und Sphinxe in den Wüstesand gebaut hatte, denn auf ihnen fanden sich noch Reste von Zeichnungen und hieroglyphischen Inschriften. Die Abergläubischen unter den Blauröcken betrachteten sie mit frommer Scheu.

"Heda, Vorsicht!" rief plötzlich einer der Soldaten, und unter Getöse stürzte ein gut zweieinhalb Meter hohes Mauersegment in sich zusammen, wobei die hellen Sandsteinquader von einem hinter ihnen verbauten, offenbar deutlich schwereren schwarzen Block beiseite geschoben wurden. Die Warnung kam zu spät; der schwarze Stein erfaßte einen der Arbeiter, in das Poltern mischte sich ein gellender Schrei, und als der Block auf einer der beiden größeren Seiten liegen blieb, hatte er den Mann unter sich begraben. Nur Kopf, Arme und Stiefel schauten hervor; Blut und Eingeweide quollen aus seinem Mund. Der Leichnam mit dem zentner-schweren Stein auf dem Rücken sah aus wie eine riesige Schildkröte, die sich übergeben hatte.

"Scheiße!" brüllte Bouchard, der herbeigestürzt kam und erkannte, daß hier nichts mehr zu machen war. "Hättet ihr nicht aufpassen können? - Na, wenigstens war er gleich tot und hat nicht leiden müssen."

Er wollte seinen Zweispitz abnehmen, aber er hatte ja keinen auf; da zog er statt dessen das Tuch vom Kopf. Die umstehenden Soldaten taten es ihm gleich. Bouchard schwieg einige Sekunden, dann befahl er: "Los, wälzt den Stein von ihm, und seht zu, daß ihr den Mann begrabt, und dann weiter an die Arbeit!"

Es war eher eine Platte als ein Stein, mehr als einen Meter lang, einen knappen Meter breit, aus massivem Basalt und wohl ungeheuer schwer. Erst nachdem sie die fünfte Brechstange untergeschoben hatten, gelang es den Soldaten, sie anzuheben und wegzukippen. Dann zogen zwei von ihnen den zerschmetterten Kameraden aus dem Sand, legten den Leichnam, froh darüber, daß seine Uniform ihn noch zusammenhielt, auf eine Holztrage und schafften ihn fort.

Der Basalt, der nun auf der anderen Seite lag, blieb eine Weile unbeachtet, bis einer der Soldaten einen Blick auf ihn warf und einen überraschten Schrei ausstieß. "Herr Leutnant!" rief er. "Sehen Sie sich das doch mal an!"

Die anderen unterbrachen ihre Arbeit und umringten die schwarze Platte, die über und über min Schriftzeichen bedeckt war. "Heilige Maria", murmelte einer und bekreuzigte sich. Bouchard kam missmutig herangeschlendert, betrachtete die Inschriften und schien plötzlich sehr aufgeregt. S. 13-15


Lesezitat nach Michael Klonovsky - Der Ramses-Code


Das Geheimnis des Stein von Rosette
Michael Klonovsky - Der Ramses-Code

ätte der Verlag den Publikumsjoker bei der Wahl des Titels eingesetzt, so hätte der vorliegende Roman ruhig "Champollion" oder "Der Stein von Rosette" heißen dürfen, als an Jean Jacqs derzeitig erfolgreiche Titelreihe anzuknüpfen.. Trotzdem geht es um nichts Geringeres als die erstmalige Entschlüsselung der ägyptischen Hieroglyphen.

Wie langweilig, geht es da manchem durch den Kopf: Da wird in einem kleinen, französischem Provinznest Jean François Champollion geboren, dann braucht er 20 Jahre, bis er ausgebildet in Grenoble, einen Job findet und noch einmal weitere 15 Jahre, bis er endlich weiß, wie man die heiligen Schriftzeichen des Pharaonenreiches liest.

Eine mehr oder minder bekannte Persönlichkeit der Weltgeschichte, eine, vielleicht sogar unglückliche Liebesgeschichte und etwas historisches Zeitkolorit (hier z.B. Napoleon) und fertig ist der Roman.

Ja stimmt - wie es bei einer aus alltäglichen Zutaten meisterhaft zubereiteten Mahlzeit auf die richtige Dosierung der Gewürze und das genaue Timing ankommt, so lässt uns Michael Klonowsky am Gedankenprozess einer menschheitsgeschichtlichen Genietat teilhaben.

Sicher - in Zeiten des Internets und gigantischer Suchmaschinen, Packprogrammen und pgp ist ein Verschlüsselungscode kein weltbewegendes Thema mehr, aber zu Beginn des aufgeklärten 19. Jahrhunderts, der Wiederentdeckung des Wissens des Altertums, bedurfte es eines Menschen wie J.F. Champollion, der sich als 5 Jähriger völlig autodidaktisch das Lesen beigebracht hatte und nicht nur in seiner Muttersprache Französisch, sondern Griechisch und Hebräisch ebenso.

Mit 17 dann eine Professur und weit über 20 Sprachen sprechend, darunter das nur noch als liturgische Form existierende Koptisch, das die Nachfahren der Ägypter benutzten, setzt er - im Grunde völlig unpolitisch - auf die Seite der Bonapartisten.

Schließlich waren es napoleonische Soldaten, die auf ihrem Ägyptenfeldzug bei Schanzarbeiten den Drei-Sprachen-Stein aus dem Schlick der Zeit gruben und damit das Schicksal des damals 9 Jährigen Knaben verbanden.

"Ich werde sie lesen"; versprach er 11jährig dem großen Mathematiker Fourrier, der zeitweilig einer seiner größten Förderer werden sollte.


Er meinte damit die wunderschönen, ägyptischen Piktogramme, die die Tempel, Gräber und Pyramiden des Pharaonenreiches zieren.


Aber eine Laune der Geschichte schließt Champollion zunächst von allen Informationen aus - als Verbannter muss er zusehen wie seine Konkurrenten, z.B. der englische Physiker Thomas Young, erste Erfolge bei der Entschlüsselung vermelden.

Aber letztlich braucht es das Genie, das -Heureka- erkennt, dass es sich nicht nur um Symbole, sondern um Phonogramme und Teile einer ersten Alphabet-Schrift handelt, in der die Ägypter ihre Kunde von der nächsten Welt verschlüsselten.

Wie bei Simon Singhs Sachroman zum Beweis von Fermats letztem mathematischen Satz gelingt es Klonovsky den Leser auf die geniale Gedankenreise seines Schützling Champollion mitzunehmen. Man leidet mit ihm und fiebert die letzten 75 Seiten Blatt um Blatt der vollständigen Decodierung entgegen, als ob man selbst demnächst da Studium der Ägyptologie aufnehmen würde.

Ein stilistisch sicherer Roman, ausreichend tief recherchiert und Lehrreiches in eine sehr unterhaltsame Form gegossen, ist es dem Buch zu wünschen, dass es in dieser Saison seinen Weg findet.
Gut verständlich und der Verlag hat nicht mit der drucktechnisch schwierigen Darstellung der ägyptischen Namenskartuschen gegeizt, treibt der Roman möglicherweise sogar einige jüngere Leser in die Arme des Studiums der Semiotik oder der Ägyptologie; warum auch nicht? Schließlich kann man auf dem umgekehrten Weg von Champollion heute noch große Lorbeeren ernten: Immer schnellere Rechner erfordern immer ausgefeiltere Chiffrier-Algorithmen. Vielleicht sollten wir eine ägyptische Mischung aus pikto, phono und alphabetischen Zeichen rückerfinden, bevor der drohende Quantenrechner alle Dämme zum Bersten bringt.
© thomas haselberger




Michael Klonovsky -
Der Ramses-Code
© 2001, Berlin, Rütten und Löning, 474 S., 20 € (HC)
© 2003, Berlin, Rütten und Löning, 474 S., 8.95 € (TB)
  Berge & Meer





      Taschenbuch
     


Fortsetzung des Lesezitats ...

Sein Blick fiel auf den Jungen, der, ohne aufzusehen, weiterlas.
"Was machst du da, Lion?" fragte er.
"Ich lese Mama aus dem Gesangbuch vor", antwortete der Kleine.
"Lion hat ein gutes Gedächtnis", sagte die Mutter.
Einer unbestimmten Ahnung folgend, trat Jacques Champollion hinter den Jungen, deutete auf den Anfang eines Psalms und forderte ihn auf: "Lies mir doch bitte einmal diesen Satz vor!"
"Aber das ist doch Unsinn", mischte sich seine Frau ein, "wie soll denn der Junge ..."
"Wie gütig ist Gott zu den Redlichen, zu allen, die lauteren Herzens sind", las Jean-François, ein wenig unbeholfen zwar ,und etwas holprig bei "lauteren", aber trotzdem flüssig.
Der Vater blätterte verwirrt ein paar Seiten um und befahl:
"Und jetzt diese Stelle!"
"Seinem Grimme schuf er offene Bahn, da war keine Schonung mehr vor dem Tod. Und er schlug alle Erstgeburt in Ägypten", las Jean-François.
Ging das mit rechten Dingen zu? Nein, das konnte nicht sein! Als ob es noch eines Beweises bedurfte, blätterte der Buchhändler hektisch weiter. "Und nun", sagte er mit bebender Stimme, "lies das hier."

Der Junge gehorchte. "Preise den Herrn, meine Seele! Mein Gott, wie bist du überaus groß! Gekleidet bist du in Hoheit und Würde, wie ein Mantel umhüllt dich das Licht. Den Himmel hast du ausgespannt wie ein Zelt, deine Wohnung errichtet über den Wassern. Die Wolken erschufest du dir zum Wagen ... Hört ihr eigentlich noch zu?" fragte er aufblickend.
Die Eltern starrten den Knaben an wie eine Erscheinung.
"Wieso kannst du lesen?" fragte der Vater ihn schließlich. "Ich meine: seit wann? Und wer hat es dir beigebracht?"
"Das habe ich mir selbst beigebracht, mit den alten Büchern in deinem Laden", erwiderte der Junge.
Die Mutter klatschte in die Hände. "Aber das ist ja groß-artig", rief sie und gab ihm einen Kuß. "Mein kleines Genie!
Du wirst bestimmt einmal ein großer Gelehrter. Jacques, ist das nicht wunderbar? Lion kann lesen.
Der Buchhändler teilte ihre Begeisterung nicht und verließ mit finsterer Miene die Küche.

Erregt berichtete er seinem ältesten Sohn von dem Vorfall. Jacques-Joseph zählte damals achtzehn Jahre und galt in der ganzen Stadt als überaus befähigter junger Mann mit großer Zukunft. Mit vierzehn hatte er sein Abitur abgelegt; kurz darauf wurde er am Städtischen Korrespondenzbüro angestellt. Während der Revolutionswirren, als überall im Land die Guillotinen ihr blutiges Werk verrichteten, hatte der Buchhändler einem befreundeten. von den Jakobinern verfolgten Benediktiner, Kanonikus Sevcev, in seinem Haus Asyl gewährt. Dieser Seycey gab Jacques-Joseph Privatunterricht in Philosophie. Geschichte und den alten Sprachen. Für den Flüchtling, der das Haus nicht verlassen durfte, wenn er seinen Kopf behalten wollte, waren die abendlichen Lehrstunden eine willkommene Ablenkung, und der lernbegierige älteste Champollion-Sproß war froh über den Wissenszuwachs inmitten der bildungsfeindlichen Revolutionszeit, denn alle Schulen waren geschlossen worden. Nach dem Sturz der Jakobinerdiktatur und der Hinrichtung ihrer Führer Juli 1794 blieb Jacques-Joseph allein auf seinem Posten im städtischen Korrespondenzbüro. Noch keine sechzehn Jahre alt, war er mit der Verwahrung sämtlicher Akten der Distriktverwaltung betraut, er besaß die Schlüsselgewalt für das Stadtarchiv, und über seinen Tisch gingen Gesetze, Urteilssprüche, Urkunden, Paßgenehmigungen, amtliche Drucke, offizielle Briefe, Denkschriften und Befehle. Die Stadtväter spendeten Jacques-Joseph höchstes Lob und ernannten ihn zum Sekretär. So avancierte der junge Bursche zum begehrten Verwaltungsexperten, und diese frühe Karriere war ein Grund, warum er auf die Lernerfolge seines Bruders nicht mit ähnlich abergläubischem Entsetzen reagierte wie der Vater.
"Ich habe Jean-François das Lesen nicht beigebracht", erklärte Jacques-Joseph.
"Dann war es Seycey", murmelte der Buchhändler.
"Seycey hat uns im Sommer 94 verlassen, da war Lion drei Jahre alt."
"Aber er kann es sich doch nicht selbst beigebracht haben!"
"Offenbar doch. Er ist ein rechtes Wunderkind."
"Wunderkind? Ich denke vielmehr, mein Lieber, daß du hinter der Sache steckst!"
"Ich habe ihm ein wenig geholfen", gab Jacques-Joseph nun zu. "Aber wirklich nur ein wenig - nur, wenn er mich etwas Konkretes gefragt hat. Du weißt doch, wie es um meine Zeit bestellt ist. Meistens schläft er schon, wenn ich heimkomme. Nein, im Grunde hat er allein herausgefunden, was die einzelnen Buchstaben unterscheidet und was sie bedeuten. Wie oft hat er in deinem Laden gesessen und Seite für Seite abgeschrieben. Er sollte bald mit gezielten Studien beginnen."
"Mit fünf Jahren!"
"Warum nicht. Er braucht Unterricht, damit sein Talent in feste Bahnen gelenkt wird.
Ich bin zu beschäftigt, um das allein zu leisten, denn er lernt rasend schnell. Er liest sogar schon Homer und Vergil .. . " Jacques-Joseph wollte noch hinzufügen "im Original", doch der Vater hatte sich von ihm abgewendet. Er eilte zur Tür, rief durch den Flur "Jean-François, komm sofort zu mir!", griff sich Homers "Ilias" vom Bücherbord und wartete auf das Erscheinen seines Jüngsten. Als der, etwas erschrocken ob des barschen Tones, das Zimmer betrat, hielt ihm sein Vater das Buch vor die Nase und schlug eine beliebige Seite auf. "Dein Bruder behauptet, du kannst auch das lesen. Na los", kommandierte er, "lies vor! "

Der Junge blickte abwechselnd auf das Buch und das vor Aufregung dunkelrot angelaufene Gesicht seines Vaters. Der Text war zweisprachig gedruckt, links das griechische Original, rechts die französische Übersetzung. Jean-François holte tief Luft und las, sehr langsam, aber mit klarer Artikulation: "Thebai, Aigyptos Stadt, wo reich sind die Häuser an Schätzen, hundert hat sie der Tor, und es ziehn, zweihundert aus jedem, rüstige Männer zum Streit mit Rossen daher und Geschirren."

Jacques Champollion verstand kein Wort, denn sein Sohn rezitierte den Originaltext (wodurch dem Vater übrigens verborgen blieb, dass er blindlings diue Stelle in Homers Epos aufgeschlagen hatte, wo von Ägypten die Rede ist.)
"Was war das?" fragte Jacques Champollion.
Jacques-Joseph lachte. "Das war Originaltext. Ich sage doch, er muß studieren."
Der Junge sprach altgriechisch.
S. 26-29

"erscheint genausooft im demotischen Text wie der Name des Königs im griechischen, und sie erscheint ziemlich exakt an denselben Steilen. Sie müßte meiner bescheidenen Meinung nach >Ptolemaios< bedeuten. Ich betone: bedeuten - wie man sie liest, weiß ich nicht. Wie Sie sehen, handelt es sich um elf einzelne Striche, wobei nicht festzustellen ist, welcher Strich für sich eine buchstabenähnliche Bedeutung besitzt oder weiche von ihnen zusammengehören. Das Wort Ptolemaios besteht aus zehn Buchstaben, wobei das o zweimal vorkommt. Entdecken Sie in dieser Folge zwei identische Zeichen, die für o stehen könnten? Ich sehe jedenfalls keine. Und schon plagt einen der Zweifel, ob das tatsächlich der Königsname sein kann oder ob das Demotische überhaupt eine Buchstabenschrift ist.
"Und welche Schritte gedenken Sie als nächstes zu unternehmen.?"
"lch werde dasselbe Auszählverfahren mit den anderen Eigennamen durchführen. Den der Berenike glaube ich bereits entdeckt zu haben. Dann werde ich überprüfen, ob sich Zeichen wiederholen, denn in den verschiedenen Namen des griechischen Textes tauchen einige Buchstaben mehrmals auf, beispielsweise das a in Alexandros, Aetes und Arsinoë. Theoretisch könnte man, wenn man solche Zeichen identifiziert hat, außerhalb der Namen nach ihnen suchen und sie an den entsprechenden Stellen einsetzen. Nur: Um dann Worte entziffern zu können, müßte man die Sprache kennen, die wir die demotische nennen."
"Das klingt alles sehr pessimistisch", sagte Fourier.
"Ja. Ich glaube nicht, daß ich viel mehr leisten kann, als im demotischen Text die Stellen zu markieren, an denen ich die Eigennamen vermute."
"Und vor den Hieroglyphen strecken Sie die Waffen?"
"Ja."
"Wie schade." Fourier wirkte aufrichtig betrübt.
"Es gibt Dinge, die kann man nicht zwingen", entgegnete der Orientalist mit verlegenem Lächeln, "seien es Befehle Bonapartes oder jahrtausendealte Geheimnisse. Ich habe getan, was ich tun konnte. Ich bin nur ein einfacher Gelehrter." S. 50

"Woher bekomme ich diese Schrift?"
"Ich werde dir ein Exemplar aus der Bibliothek mitbringen, das kannst du dir abschreiben. Vielleicht finden wir auch eins beim Trödler. In letzter Zeit werden hier oft private Bibliotheken zum Verkauf angeboten, meist für Spottpreise. viele, die durch Revolution und Krieg verarmt sind, verkaufen nach und nach alles, was sie haben."

Jacques-Joseph blätterte in den herausgetrennten Seiten.
"Ja, Horapollo", murmelte er, "der ist konkreter als die Alten, bei denen sich nur Andeutungen über die Schriftzeichen der Ägypter finden."
"Schreibt der denn tatsächlich, diese Hieroglyphe bedeutete das und jene das?"
"So ungefähr."
"Aber dann müßte man sie doch lesen können!" rief Jean-François aufgeregt. "Das ist nicht so einfach. Horapollo schreibt, die Hieroglyphen seien eine Symbolschrift gewesen. Und Symbole muß man deuten."
"Und: Deutet er sie?"
"Ja, aber immer nur einzeln, jede für sich, nie einen größeren Sinnzusammenhang - und die meisten Zeichen haben, wie er es erläutert, eine Mehrfachbedeutung. Es ist also nicht so, daß man sich mit Horapollos Buch wie mit einem Wörterbuch vor eine Inschrift stellen und sie übersetzen könnte. Das nehme ich zumindest an, denn ich habe noch nie eine originale Hieroglypheninschrift gesehen."

"Wozu taugt dieses Buch dann aber?"
Jacques-Joseph zuckte mit den Schultern. "Es versucht, Prinzip der Hieroglyphenschrift zu erklären. Du erinnerst dich doch gewiß an die alte Fabel vom Perserkönig, der mit seinem Heer gegen die Skythen zog. An der Grenze kamen ihm skythische Abgesandte mit einer Botschaft entgegen. Da man keine gemeinsame Sprache hatte, die Botschaft aus Symbolen: einer Maus, einem , einem Vogel und einem Bündel von Pfeilen. Dareios ließ seine Berater kommen, daß sie ihm die Nachricht deuten. Die Ratgeber interpretierten sie so: "Wir unterwerfen uns dir mit unserem Land - das symbolisierte die Maus -, unseren Flüssen und Seen, - das der Fisch -, der Luft, die wir atmen, - dafür stand der Vogel-, und unseren Waffen - die Pfeile eben.

Ein weiser Alter las die Botschaft ganz anders, nämlich: Wenn du dich mit deinem Herr nicht in der Erde verkriechst wie eine Maus, im Wasser verschwindest, wie ein Fisch, wenn du dich nicht in die Lüfte erhebst und davonfliegst wie ein Vogel, dann wirst du unseren Pfeilen nicht entgehen. Wie der Fortgang der Ereignisse zeigte, lag der zweite Deuter goldrichtig. Die beiden Lesarten gingen ziemlich auseinander, obwohl sie auf denselben Zeichen beruhten ... " S. 57-58

Wie du weißt, ist Koptisch seit ein paar Jahrhunderten ausgestorben und existiert nur noch als kirchliche Liturgiesprache; selbst "mein" Kopte spricht kaum Koptisch, sondern kennt eben nur eine Reihe von Worten und religiöse Formeln, aber diese Reste - das ist meine feste Überzeugung - verkörpern die Brücke zum Altägyptischen. Freilich empfinde ich schmerzlich die völlige Unzulänglichkeit meiner Mittel, wenn ich mich diesem uralten Idiom nähere. Es existieren lediglich Wortverzeichnisse, sachlich geordnet, sowie rudimentäre Grammatiken, mit denen sich wenig anfangen läßt; wie die Sprache an sich einst funktionierte, kann ich mir nur mühsam zusammenreimen. Dennoch: Ich muß jedes koptische Wort kennen, bevor ich mich an die Hieroglyphen heranwage. Mitunter ertappe ich mich dabei, daß ich koptisch mit mir spreche.

Ich stoße immer wieder auf Indizien, daß ich mit meiner Theorie, im Koptischen seien Teile des Altägyptischen verborgen, nicht ganz falsch liege. So schreibt Plutarch, der Efeu habe bei den alten Ägyptern "chen-osiris", Pflanze des Osiris, geheißen - und "schen" bedeutet auf koptisch Baum. Schen-en-usiri heißt somit "Baum des Osiris". Plutarch berichtet von einem ägyptischen Fest, welches in der Landessprache "Sairei" genannt worden sei - und das koptische Wort "schairi" bedeutet soviel wie Gaudium oder Fest. Ein weiteres Beispiel: Sowohl Plutarch als auch Diodor haben behauptet, daß Osiris "Der Vieläugige" bedeute - also: os = viel, iris = Auge-, und in der Tat heißt "osch" oder "os" auf koptisch viel. Das Auge des Osiris sei das Zeichen der Vorsehung, schreibt Plutarch; Osiris wohne nicht unter der Erde, sondern weit entfernt von dieser; wenn die Seelen der Menschen "erlöst in das ewige, unsichtbare, ruhige und heilige Reich hinübergehen, ist ihnen Osiris Führer und König". Dazu bedurfte es offenbar vieler Augen. Vorausgesetzt, "iris" bedeutet tatsächlich Auge, wie im Griechischen. S. 142

"Das ist kein Malheur", beschwichtigte sie Jean-François. Ich habe sowieso jedes Zeichen im Kopf und benötige die Kopie gar nicht mehr."
Sie sah ihn ungläubig an. "Jedes Zeichen? Du willst behaupten, daß du jeden einzelnen dieser wirren Schnörkel im Kopf hast?"
Jean-François lachte. "Aber gewiß!"
"Das will ich sehen!"
Madame Deschampes nahm sich die Kopie, trat ein paar Schritte vom Tisch zurück und befahl: "Zeichne mir von der mittleren Schrift die ersten zwanzig Zeichen der sechsten Zeile auf!"
"Von links oder von rechts?"
"Von links natürlich."
"So natürlich ist das nicht", sagte Jean-François und begann zu malen. Sie sah ihm über die Schulter, warf einen prüfenden Blick auf beide Versionen und rief, als er fertig war:
"Perfekt! Kaum zu glauben." "Soll ich weitermachen?"
"Danke, ich glaube es dir. Obwohl ich es unglaublich finde."
"Ach was, wenn man so viele Stunden wie ich mit diesen Schnörkeln verbracht hat, ist das nichts Besonderes. Das ist übrigens demotisch, die altägyptische Profanschrift. Zumindest sind alle Gelehrten dieser Ansicht, wobei manche sogar meinen, es sei eine normale alphabetische Schrift wie unsere."
"So sieht sie beileibe nicht aus. Was meinst du?"
"Ich bin mir nicht sicher. Alphabetisch kann sie jedenfalls nicht aufgebaut sein, weil viel zu viele verschiedene Zeichen vorkommen, viel mehr, als ein Alphabet hergäbe. Es handelt sich um dasselbe Phänomen wie hei den Hieroglyphen. Allerdings kann demotisch auch keine Bilderschrift sein, denn es sind ja keine Bilder."
Und wenn es nur angedeutete Hieroglyphen sind, sozusagen abgekürzte, damit sie sich schneller zeichnen ließen?"
Was sagst du da?! " Jean-François blickte entgeistert und schlug sich mit der Faust vor den Kopf. "Aber ja doch. Eine geniale Idee. Louise, wenn du damit recht hättest .... " S. 271

"Er ist es, aber auf koptisch bedeutet >náu e< jemanden sehen und >náu eros< sie sehen. Es klingt ein bißchen wie Griechisch. Koptisch wird mit griechischen Buchstaben geschrieben. Auf dem Stein kommt Koptisch aber nicht vor?"
"Das ist eine gute Frage. Im Grunde nämlich schon. Ich nehme an, daß Koptisch das Bindeglied zu den ägyptischen Schriftarten ist. Ich weiß, es ist eine gewagte Hypothese, doch ich habe meine Gründe dafür. Es wäre natürlich ein historisch beispielloser Schritt, daß ein Volk sein traditionelles Schriftsystem völlig ablegt und durch ein anderes ersetzt, ohne dabei seine Sprache zu ändern. Es wäre in etwa so, als wenn wir Französisch auf einmal mit arabischen oder kyrillischen Zeichen schrieben."

"Warum sollten die Kopten auf diese merkwürdige Idee gekommen sein?" "Die Kopten waren die Nachfahren der alten Ägypter, deren Kultur sich im Stadium völligen Niedergangs befand.
Die neue Oberschicht bestand aus Fremden, Römern und Griechen. Der Mittelmeerraum war hellenisiert und griechisch eine gebräuchliche Sprache geworden, die zudem einen Vorteil besaß, nämlich daß sie auch die Vokale mitschrieb .

"Die Ägypter haben keine Vokale geschrieben?"
"Ich vermute es. Das ist bei vielen Sprachen dieser Weltgegend gebräuchlich. Nimm das Hebräische. In der Sprache lsraeIs hängt die Bedeutung eines Wortes an den Wurzelkonsonanten: kadosch etwa bedeutet heilig, kadesch - der Geheiligte, kodesch - Heiligtum. Das Konsonantengerippe k-d-sch transportiert diese Grundbedeutung. So lassen sich denn auch Wort- und Sprachverwandtschaften feststellen. Hebräisch heißt König melek, arabisch malik, der gemeinsame Konsonantenstamm ist mlk. In den europäischen Sprachen genügt ebenfalls ein Korsett aus Konsonanten, um die Worte zu verstehen. Ich schreibe jetzt unseren Satz ohne Vokale." Jean-François griff zur Feder und notierte:

D BST D SCHNST FR D CH JMLS GSHN HB

"Mit etwas Phantasie kann man ihn lesen. Während die Vokale des Satzes allein, nämlich:

U I IE ÖE AU IE I EA EEE AE

buchstäblich nichts aussagen. Das mag der Grund sein, um manche Schriftsprachen auf sie verzichtet haben. Sicherlich lag es auch daran, daß sich verschiedene Dialekte innerhalb derselben Sprache am ehesten auf einen gemeinsames Konsonantenbestand festlegen ließen, während der Akzent vor allem auf den Vokalen beruhte."

"Und Koptisch ist also mit griechischen Buchstaben geschriebenes Altägyptisch?" "Louise!" Wieder musterte er sie hocherstaunt. "Diesen Gedanken auszusprechen, dazu ist nicht einmal Silvestre de Sacy in der Lage; keiner dieser gelehrten Esel ist in der Lage, überhaupt zu denken - und du sagst es einfach so dahin ..."
"Ach was, ich habe nur deine Worte wiederholt. "Ganz und gar nicht! Ich sagte, Koptisch sei das Bindeglied zum Altägyptischen. So radikal wie du hätte ich nie formuliert, aber die Idee gefällt mir außerordentlich. Louise, dieser Gedanke ist eine Revolution - und du hast zuerst gedacht!"

Ungläubig verfolgte Madame Deschampes die ihr gewidmete Lobpreisung und sagte schließlich: "Du verulkst mich" nicht wahr?"
"Nein, nein, nein! Ich bete dich an!"
"Nun ja, wenn es dir hilft, den Stein zu entziffern und berühmt zu werden."
Seine Miene verfinsterte sich. "Ich habe Monate auf die Inschrift verwandt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sie nie ganz zu entziffern sein wird", sagte er tonlos.
"Willst du etwa aufgeben?"
"Nein, ich werde niemals aufgeben, aber ohne weite Funde komme ich nicht ans Ziel."
Sie sah ihn mitfühlend an. "Ist es denn so schwierig?" "Manchmal denke ich, ich verliere darüber den Vers. Ich bin vielleicht der letzte Mensch, der sich ernsthaft diesen Zeichen beschäftigt. Außer mir tun es nur noch Phantasten oder Wahnsinnige, und am Ende trete ich in ihre Reihen über." Er lachte gereizt auf. "Weißt du, ich habe nämlich herausgefunden, daß sich die griechische Übersetzung nicht hundertprozentig mit dem ägyptischen Text deckt. Es muß eine ganze Reihe von Abweichungen geben. Ich kann es nicht beweisen und deshalb auch nicht publizieren, aber ich weiß es genau. Der Stein allein ist für die Entzifferung wertlos. Es ist ein Fiasko."

Sein jäher Temperamentswechsel von kindischer Begeisterung zu düsterem Pessimismus rührte Louise. Sie ergriff seine Hand und streichelte ihm die Wange. Jean-François, der seit Monaten niemanden hatte, dem er sein Herz ausschütten konnte, wurde vollends von Selbstmitleid überschwemmt.

"Es ist überhaupt alles so trist hier", klagte er. "Ich bin fremd, wo ich gehe und stehe. Dieses Paris ödet mich an; es besteht aus lauter Menschen, die man vergißt, sobald sie um die Ecke sind. Das gelehrte Hornvieh am College schneidet und benachteiligt mich, weil ich gelegentlich die Lehrmeinung nicht teile, und lernen kann ich dort ohnehin kaum noch etwas, denn ich bin ihnen in meinem Fach sowieso über. Ich kann aber nicht publizieren, weil niemand die Druckkosten trägt, das Material der ägyptischen Kommission, mit dem diese Trottel doch nichts anfangen können, ist mir unzugänglich, ich verdiene kein Geld und liege meinem Bruder auf der Tasche - stell dir vor: Nicht einmal eine Kopistenstelle haben sie mir bewilligt! Ich habe durchgelaufene Sohlen, meine Garderobe hindert mich, Gesellschaften zu besuchen, was ist das für ein Leben? Ja, du. Du bist wahrscheinlich der einzige Grund, weshalb ich Paris noch nicht verlassen habe. Mein Bruder hat mir geschrieben, ich könnte an der Grenobler Universität einen Lehrauftrag annehmen - oder vielleicht sogar eine Professorenstelle erhalten."

Sie sah ihn verblüfft an.
"Du als Professor? Aber du bist doch erst siebzehn!" "Fast achtzehn. Und was spielt das für eine Rolle?"
Offensichtlich imponierte ihr diese Aussicht. "Nicht übel", sagte sie, "du scheinst ein außergewöhnlich gescheites Köpfchen auf den Schultern zu tragen. S. 275

"Kommst du voran?" fragte Jacques-Joseph eines Tages wieder einmal - es war ein Sommerabend des Jahres 1817, und beide saßen im Schein der untergehenden Sonne hinterm Haus.

Es erschien Jean-François, als habe ihn der Bruder das bereits vor einigen Tagen gefragt (in Wirklichkeit erkundigte sich Jacques-Joseph bestenfalls alle vier Wochen nach seinen Fortschritten), und er fühlte sich provoziert.
"Ich glaube, ich stehe kurz vorm Ziel", erwiderte er. Neue Theorien hatte er ständig parat; sie wechselten, wie sich bunte Glasstücke in einem Kaleidoskop aus dem stets gleichen Bestand an Grundbausteinen zu immer neuen Gebilden fügen. Diesmal hörte Jacques-Joseph aber nicht wie sonst kommentarlos zu, sondern unterbrach ihn.

"Moment", sagte er, "du lieferst mir mit schöner Regelmäßigkeit neue Erklärungen und deutest an, daß du des Rätsels Lösung nun endgültig in den Händen hältst, tischst mir jedesmal eine andere Theorie auf und stürzt alles wieder um - was soll ich davon halten? Ich höre, daß dein Hieroglyphenverzeichnis an die 700 verschiedene Charaktere umfaßt, und folge willig deiner Erkenntnis, so viele Zeichen könnten unmöglich ein Alphabet verkörpern. Dennoch, so hast du einmal behauptet, geben sie auch den Ton der Wörter an, denn wie sollten sie sonst die Geschichte der Könige, die Namen der besiegten Völker und die Zahl der Tribute überliefern?

Einverstanden, denke ich mir, Hieroglyphen drücken nicht in jedem Zeichen eine Idee aus, sind also keine Bilder, sondern irgendwie lautlich zu lesen, ohne streng alphabetisch zu sein - So war doch dein Ansatz irgendwann einmal, oder?"

Jean-François nickte zerknirscht, wollte etwas erwidern, aber der Ältere winkte ab. "Ein paar Monate später präsentierst du mir aber keineswegs die ersten identifizierten Laute, sondern behauptest, es müßten dennoch rein symbolische Zeichen existieren, und zwar als Geheimschrift der Priester. Ich weiß nicht, wie ich das verstehen soll. Bedeutet es, daß eine hieroglyphische Inschrift aus mehreren Schriften gleichzeitig besteht, so als würde ich unser Französisch mit ein paar versteckten lateinischen Wörtern anreichern, die, separat gelesen, eine verschlüsselte Botschaft ergeben? Wieder etwas später erzählst du mir, daß es Vorsilben und Nachsilben gebe, die beispielsweise das grammatikalische Geschlecht eines Wortes anzeigen, womit du dich wieder in der Vermutung bestärkt siehst, es handele sich um eine Silbenschrift. Dann postulierst du, eine Hieroglyphe allein bedeute überhaupt nichts, nur in Gruppen enstünde ein Sinnzusammenhang. Wenig später verwirfst du das lautliche Prinzip vollends und kommst wegen der beträchtlichen Anzahl von zeichnerischen Nachahmungen natürlicher Gegenstände auf die Idee der Bilderschrift zurück. Kannst du mir irgendeine Passage auf diese Weise vorlesen? Ich meine, wenn es Bilder sind, müßte das doch möglich sein, oder?"

Jean-François starrte finster vor sich hin.
"So, und heute behauptest du, du habest durch den Vergleich mit dem Koptischen eine lautliche Hieroglyphe eindeutig identifiziert, und zwar die der Viper oder Nacktschnecke, irgend etwas Schlangenartiges jedenfalls - "
"Jawohl!" fuhr der Bruder auf. "Auch wenn ich deinen Worten entnehme, daß du überhaupt nicht mehr an mich glaubst, ich wette meine rechte Hand darauf, daß diese Hieroglyphe die grammatikalische Endung der dritten Person darstellt! Ich habe sie im Demotischen und im Koptischen mehrfach wiedergefunden. Es ist ein alphabetischer Buchstabe!"

"Ach tatsächlich?" versetzte Jacques-Joseph, und es klang sehr unwirsch, "Ja was denn nun, mein Lieber? Der letzte Stand der Dinge ist, sofern ich überhaupt noch etwas verstehe, daß du die Hieroglyphen nun doch für eine Bilderschrift hältst. Gleichzeitig aber entdeckst du grammatikalische Endungen an diesen Bildern? Das wäre in etwa so, als wenn ich, um den Begriff Kutscher auszudrücken, eine Kutsche male und die Endung -er dazuschreibe? Was soll das für eine Schrift sein? Das ist doch alles völlig unlogisch!"S. 403-404

Lesezitate nach Michael Klonovsky - Der Ramses-Code





© 3.7.2001 by
Manuela Haselberger
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