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Der erste Anruf kam am 2. November, auf den Tag genau fünf Wochen nach dem Tod seiner Frau. Zwischen beiden Ereignissen hatte Sutter keinen Zusammenhang hergestellt. Doch die Uhrzeit - 23 Uhr 17 - blieb haften, denn der Anruf wiederholte sich in der folgenden Nacht auf die Minute genau, und seither hätte Sutter die Uhr danach richten können. Das war im Wohnzimmer nicht nötig, denn die Uhr an der Wand, auf die er das erste Mal erstaunt, dann ärgerlich geblickt hatte, richtete ihren Gang sekundengenau nach einem Impuls, den sie, laut Gebrauchsanweisung, aus der Gegend von Frankfurt empfing, also über eine Entfernung von 500 Kilometern. Ruth hatte, gegen alle Gewohnheit, das Spielzeug von einem Versandhaus bestellt, vielleicht weil die zuverlässige Pedanterie seiner Zeitmessung angesichts der Frist, die ihr blieb, etwas Belustigendes hatte.

Als es läutete, saß Sutter im Märchensessel. Das Erbstück von Ruths Tante hatte seinen Namen, weil sich die Kranke auf ihm einrichtete, wenn er Märchen vorlas, Abend für Abend, um ihr die Angst vor der Nacht zu nehmen. Oft konnte er dafür sorgen, daß sie schon in diesem Sessel ein leichter Schlaf überraschte, der mit keinem Medikament herbeizulocken war. Die massiven, die ihr der Arzt verschrieben hatte, lehnte sie ab: Ich will keinen Todesschlaf, bevor ich tot bin.

Im Märchensessel hockte er nun selbst und las, ertappte sich dabei, daß er Ruths Stellung einzunehmen versuchte, nur brachte er seine langen Beine, wenn er sie anzog, zwischen den hohen Armstützen nicht unter.

Er las Kriminalromane, von denen er einen Stapel im Keller gefunden hatte. Dort gilbten sie seit seiner Studentenzeit vor sich hin. S. 11


Lesezitat nach Adolf Muschg - Sutters Glück


Sutters Glück
Adolf Muschg - Sutters Glück

s hat zehn Jahre gedauert, bis der Schweizer Autor Alfred Muschg einen neuen Roman veröffentlichte. Jetzt ist es mit "Sutters Glück" endlich so weit.

Sutter, der im richtigen Leben eigentlich Emil Gygax heißt, "ein Name für den wenig spricht, außer dass sich beim "Scrabble" damit 23 Punkte holen lassen," wurde nur von seiner Frau so genannt. Er ist 66 Jahre alt und seit einigen Wochen Witwer.

Auf der Straße tuscheln die Leute: "Kennst du den nicht mehr? Der war doch einmal ein bekannter Gerichtsreporter. Sieht zehn Jahre älter aus. Kunststück, er hat seine Frau verloren, und weißt du, wie? Sie hatte Darmkrebs und verweigerte die Behandlung. Dafür ist sie ins Wasser gegangen, bei St. Moritz, auf jeden Fall hat sie sich mit Steinen beschwert, sonst wäre sie nicht untergegangen. Sie war eine gute Schwimmerin. Glücklich kann die Ehe nicht gewesen sein. Aber der Mann kommt zurecht."

Ganz so einfach ist das Leben allerdings nach dem Selbstmord Ruths nicht. Sutter zieht sich in sein Schneckenhaus zurück, das er nur mit der Katze bereit ist zu teilen. Das Telefon, das hat er seinen wenigen Freunden gesagt, wird er ignorieren. Und auf Besucher legt er in nächster Zeit keinen Wert. Da bleibt seine Tür geschlossen. Der Rückzug des ehemaligen Gerichtsreporters aus der Welt wird aber doch nicht so hingenommen. Jeden Abend, Viertel nach elf, klingelt das Telefon und niemand meldet sich am anderen Ende. Schließlich baut Sutter selbst die anonymen Anrufe in seine Zurückgezogenheit ein. Sie gehören fast schon zum täglichen Ritual. Bis bei einem Spaziergang ein Schuss fällt und Sutter verwundet wird. Steckt der abendliche Anrufer dahinter?

Alfred Muschg schreibt in seinem neuen Roman keinen Krimi, sondern er schildert eine Zeit des Abschieds und der Trauer, die auf jeden überflüssigen Ballast verzichtet, ohne rührselig zu sein. Ein Happyend findet nicht statt. Es geht um die Rückschau auf ein gemeinsames Leben, das durch den Freitod beendet wurde. Sutter hat seine Frau während ihrer Krankheit gepflegt und das nächtliche Vorlesen von Märchen brachte die beiden einander sehr nahe. "Er hat das Kostbarste aufgewendet, was Menschen besitzen: Zeit, Phantasie und Treue."

"Sutters Glück" ist ein stiller, sehr feinsinniger Roman über das Alter, mit herrlichen Beobachtungen einer Katze. Sie steht stellvertretend für das Kind, das Sutter und seine Frau nie hatten, sie nimmt auch nach Ruths Tod ihren Platz im Gespräch ein, denn vorrangig war es ihr Haustier. So ist der schwarze Kater das Lebewesen, für dessen Existenz Sutter am Ende seines Lebens verantwortlich ist. Sehr schön dazu Muschgs Anmerkung: "Existenz ist das, was einer aushalten muss, gefragt oder ungefragt." Davon erzählt er seinen Lesern. © manuela haselberger


Adolf Muschg - Sutters Glück
2001, Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 335 S.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Sutter - außerhalb seiner Wände: Herr Gygax - wurde noch gegrüßt. Kennst du den nicht mehr? Der war doch einmal ein bekannter Gerichtsreporter. Sieht zehn Jahre älter aus. Kunststück, er hat seine Frau verloren, und weißt du, wie? Sie hatte Darmkrebs und verweigerte die Behandlung. Dafür ist sie ins Wasser gegangen, bei St. Moritz, auf jeden Fall hat sie sich selbst mit Steinen beschwert, sonst wäre sie nicht untergegangen. Sie war eine gute Schwimmerin. Glücklich kann die Ehe nicht gewesen sein. Aber der Mann kommt zurecht. Sie hatte Geld. Die beiden logierten im »Palace«, wie der Schah von Persien.

So kam die Fastnacht, es wurde März, Anfang April heizte, statt des Ofens, der Föhn ein, und über Nacht brach der Frühling aus, Ruth hätte gesagt: wie ein Krieg. Sutter bekam Sein Zeichen, Abend für Abend, regelmäßig um 23 Uhr 17. Er schenkte ihm kaum noch Beachtung. Öfter lag er schon im Bett und sah, wenn es sich meldete, nicht einmal auf. Die Lektüre war wieder anspruchsvoll und machte um so zuverlässiger müde.

So verstand er auch am 12. April das Telefonläuten als Mahnung, das Licht zu löschen. Da läutete es ein drittes Mal. vielleicht wäre er nicht aufgeschreckt, doch die Katze sprang augenblicklich von Ruths Bett und verkroch sich unter ihm. Bewegung suggerierte so zweifellos das Eintreten einer fremden Gegenwart, daß Sutter sich aufrichtete und lauschte. - Ist jemand da? fragte er halblaut.

Er bekam keine Antwort. Doch am nächsten Tag wurde ihn geschossen. S. 31

Als sie den Ausgang erreicht hatten, stellte er fest, daß es das Bild, vor dem sie so lange stehengeblieben waren, als Poster zu kaufen gab. Ein Jahr früher, als er noch allein gelebt hatte, hätte er es gekauft. Mit Ruth kam das nicht mehr in Betracht. Sie wollte nie ein Andenken handfest nach Hause tragen. Nur bei Steinen machte sie eine Ausnahme. Was zur Erinnerung werden will, sagte sie, das meldet sich schon von selbst.

So hatte sie auch in der Zeit ihres Verlobtseins - für sich nannte er sie so, aber es hatte keine Zeremonie gegeben - nie ein Foto von ihm verlangt und ihm auch keins von sich überlassen. Sie brauchte kein Bild, um mit ihm zu leben. Ich glaube, ich kann dich gut aushalten. Sie traute ihm also zu, ihre Gewohnheiten zu teilen, auch die einstweilen unbekannten.

Nach dem Besuch der Ausstellung saßen sie auf einer Terrasse über dem Genfersee. Plötzlich sagte sie: Du bist Soutter.

Ich? fragte er. Ich habe kein »ou«.
Du bekommst auch keins, antwortete sie, und der Name wird nie geschrieben. Ich nenne dich nur so. Nur ich nenne dich so.

Und das tat sie für alle weiteren Jahre ihrer Ehe, auch in Gegenwart anderer Leute, für die er immer noch Gygax hieß. Ein Name, für den wenig spricht, außer daß sich beim »Scrabble« damit 23 Punkte holen lassen. Doch mit Ruth waren Eigennamen nicht zugelassen. Sie hatte ihren Mädchennamen Rohner beibehalten. Im übrigen hieß er auch noch Emil, aus welchem im Gymnasium, dank einem Lateinlehrer, der Spottname »Ämil« geworden war. In der Siedlung »Hummel« machte dann ein Mitgenossenschafter, Künstler mit Berner Hintergrund, einen »Äse« daraus. Die Eltern hatten ihn Gottlieb Emil getauft, und seine früh verwitwete Mutter hatte ihm auch einmal, über sich selbst gerührt, erklärt, warum. Es hatte etwas mit der christlich-abendländischen Zivilisation zu tun, in der sie dem einzigen Sohn eine Hauptrolle zugedacht hatte. Als Ruth ihr vorgestellt wurde, hatte sie nicht nur die Wahl, sondern auch die Person - unter vier Augen, im Vertrauen - hinterher »falsch« genannt, worauf Sutter die Beziehung zu seiner Mutter abgebrochen hatte. Er hatte von ihr immer wieder schnell fertige Urteile über Menschen gehört, und dieses war eines zu viel. Es war nicht Ruths Art, gleich zu wissen, was das Richtige war. Doch kein Wort in irgendeiner Sprache paßte weniger auf sie als »falsch«.

Sutter ließ nicht mehr rütteln an seinem Entschluß, die von der Geburt erzwungene Nähe zu einer Frau mit einer selbstgewählten zu vertauschen, auch wenn diese für ahnungslose Augen distanziert wirken konnte. Diese Distanz war es, die er suchte und liebte. Ruth war die Entfremdung von ihrer Schwiegermutter nicht recht gewesen, doch hatte sie auch nichts dagegen unternommen. Emils Mutter hatte sich einer frommen Gemeinschaft zugewandt und war während eines Erweckungs-Gottesdienstes an einem Herzschlag gestorben. Ich hätte ihr zugetraut, daß sie mich noch lieber Gottlob als Gottlieb getauft hätte, sagte er Ruth. Sie wollte einen Prediger aus mir machen.

Jetzt also hieß er Sutter, und außer einem Fußballer, einem ältergewordenen Jungfilmer und einem kalifornischen Goldgräbergeneral war ihm noch kein Mensch dieses Namens begegnet. Er blieb ihm auch in Ruths Mund Zeit ihres Lebens so fremd wie im ersten Augenblick. Kein Mensch kennt seinen wahren Namen, sagte Ruth, nicht einmal das Rumpelstilzchen. Oder glaubst du, daß es sich wegen eines Namens in Stücke gerissen hat? Er erinnerte sich daran, daß als Kind in der Heidi-Geschichte gelesen hatte, wie der Geißenpeter, nach dem Namen der nahen Berge gefragt, geantwortet hatte: sie heißen nicht. S. 40

»Der ungelenke, nur im Handball große Hellmuth H. als Seele der Musik, als Stimme der Kultur, der deutschen Kultur? In Yalukhas Augen: ja. Der junge Mann hatte, unter den Bedingungen des Sozialismus, standesgemäß, wie ein Held um sie geworben. Er hat das Kostbarste für sie aufgewendet, was Menschen besitzen: Zeit, Phantasie und Treue. Um es, nicht unpassend, im Geiste des Märchens zu sagen: der Dummling hat die Prüfung der Königstochter bestanden. Denn er vollbrachte in seiner Werbung Wunder der Geduld, er zeigte den Reichtum der Armen und Noblen.«
Sutter, sagte Ruth. Sutter!
»Diese Währung gilt bei uns nichts mehr; in Yalukhas Welt gab es keine andere. Hellmuth H. war ihr ebenbürtig geworden. Die Musik, die er ihr drei Jahre lang zukommen ließ, entzog sich der Zensur. Gewiß: in den wunderbaren Räumen, die er baute, begegneten sich nur die Träume, die Sachen stießen sich nicht - und ebensowenig die Menschen. Die jungen Leute brauchten ihrer Verschiedenheit nicht inne zu werden - sie bemerkten sie gar nicht. Und als sie schließlich zusammenlebten, hielt die Täuschung und Selbsttäuschung lange vor, denn die Differenz, in der sie sich zu ihrer Umgebung fanden, war stärker und erdrückender als diejenige zwischen ihnen - sie hätten sich gar nicht leisten können, eine solche zuzugeben. Sie verteidigten die Unvergangenheit ihrer Liebe gegen eine beengende und bedrückende Gegenwart. So war es in Magdeburg; so war es noch in Nürtingen, so blieb es - ob wir das gerne sehen oder nicht - auch in der Schweiz. Das Traurige ist: es mußte dabei bleiben, wenn sie beieinander bleiben sollten. Und je länger es dabei blieb, desto trauriger wurden sie selbst. Es konnte nicht dabei bleiben, als Yalukha den Künstler B. kennenlernte, dem Hellmuth H. aufgetragen hatte, ein Bild seiner Frau zu malen. Dieses Bild hat ihr als Fenster gedient, durch das sie aus ihrer Ehe ausgebrochen ist. Doch Würde und Liebe, Ehre und Passion dürften in der Kultur, die Yalukha geprägt hat, untrennbarer zusammenhängen als bei uns.« S. 92

Das wäre das wenigste, sagte Sutter, aber das Rasieren!
Lassen Sie sich einen Bart stehen, sagte Zimmermann.
Das haben vor dreißig Jahren so viele getan, sagte Sutter. Unsere Siedlung war anfangs eine Dependance von Cuba Libre. Ein paar Jahre später war es für die meisten nur noch die Karriere oder der Alkohol oder beides. Jedenfalls zu wenig, nur noch mehr Geld, und eine echte Havanna für den blauen Dunst. Er verkauft sich besser als die Revolution.

Ich habe Ihre Reportagen gelesen, sagte Zimmermann, die Fälle, das waren für Sie die andern. Sie haben auf denTaten und Leiden der Leute gespielt wie auf einem Xylophon, ein Feinschmecker des Klangs mit dem ein Mensch zerbricht. Jetzt wollen Sie selbst ein Fall sein und erfahren, wie es tut, wenn auf einem gespielt wird. Lungendurchschuss, das ist ein knalliger Anfang. jetzt müsste es subtiler weitergehen, wenn Sie mich fragen.

Ich frage Sie nicht, sagte Sutter, wir werden ja auch nicht gefragt. Keiner wird gefragt. Es passiert. Was, wem oder was, wen oder was. Was tut, wie, womit, woher und wohin, zu welchem Ende - so mußten wir einmal Sätzchen zergliedern. Sehen Sie sich diese Klamotten an: Objekte pur. Sehen Sie mich an: nicht so pur, aber als Objekt ebenfalls ausgewiesen, hinreichend für meinen Geschmack. Fehlt nur eine Kleinigkeit: Wer oder was? Das Subjekt, Herr Pfarrer, hat sich aus unseren Sätzchen so gründlich entfernt, daß wir sein Fehlen kaum noch bemerken. Glauben Sie nicht, ich frage nach dem Täter der Tat, die mich zum Fall gemacht hat. Ich frage nach ihrem Subjekt. Und nennen Sie das nicht zu fix eine theologische Frage.

Ich? fragte der Pfarrer. Ich doch nicht. Die Theologie, Herr Sutter, ist ein Abwesenheitsverfahren. Da gilt nicht einmal mehr: in dubio pro Deo. Alle Hintertüren sind zu, auch diejenige für Schlaumeier. Glauben als Fifty-fifty-Spekulation. Gibt es Gott, so hat sie sich ausgezahlt. Gibt es Ihn nicht, so hast du mit Glauben nicht viel verloren. Falsch, Sutter, alles verloren. Die Rest-Ehrlichkeit unserer Existenz.

Existenz ist das, was einer aushalten muß, gefragt oder unfragt. Kommt von Herausstehen. Wir stehen ins Leere wie blutiger Daumen, und solange er steht, kriegt er immer noch mehr ab. Einziehen kannst du ihn nicht. Fehlt die Hand dazu.

Wahrend der Pfarrer sprach, ordnete er Sutters Zeug in den Schrank ein. Er bückte sich und keuchte. Aber Sutter hatte noch keinen Menschen Kleider aufmerksamer behandeln sehen, nicht geschickt, aber zartfühlend. Dabei bewahrte -Sutters Hose nicht die Spur einer Erinnerung an die Bügelfalte.

Es ist nicht verlangt, sagte der Pfarrer, daß man Subjekte groß schreiben muss. Steht nicht mal bei Luther, ist eine barocke Erfindung, diese Inflation der göttlichen Signatur, ihre Ausdehnung auf jeden beliebigen Fetisch. Es gibt Sprachen ohne Subjekt, die trotzdem wissen, wovon sie reden, oder so klug sind, es nicht zu genau wissen zu wollen. Auch bei uns gedeiht noch subjektarmes Gewächs, Trümmerflora imPark des Urheberrechts und der Eitelkeiten. Es regnet, es hagelt, es schneit. Es gibt.
Es hat mich, grinste Sutter. S. 119

Lesezitate nach Adolf Muschg - Sutters Glück













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© 20.02.2001 by
Manuela Haselberger
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