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ZWEIUNDZWANZIGSTEß JUNI, auf dem Monte Crocione. Hier oben ist die Sonne noch nicht untergegangen, obwohl es schon fast neun ist. Hinter mir das enge Tal unter dem Generoso. Dicke Schwaden ziehen auf, aus den Wiesen steigt der weiße Nebel so wunderbar, als wäre dort unten ein riesiger Brand ausgebrochen. Die Konturen der Wälder treten zurück in die Tiefe des Abends, das Gamelan-Geläut der Kühe schleicht von allen Seiten den Berg hinauf und legt sich mir zu Füßen und Ohren. Vor mir das Intelvi-Tal mit den Dörfern, dessen übereinandergestapelte Fassaden noch nicht vom Dämmerlicht verschluckt werden. Links und rechts die Ausschnitte der beiden Seen, links Richtung Porlezza, rechts über Argegno. S. 9

Natürlich hätte alles anders kommen können. Mit Maren, mit Helena, mit dem Theater. Von dem See am Alpensüdrand, in dessen Nähe sich unser Garten befindet, hatte ich einst durch eine Italienerin erfahren. Vor zwanzig Jahren in Rußland und nachdem ich es nicht gewagt harte, das Abenteuer einzugehen und mit ihr zu fliehen. Sie schickte mir von zu Hause einen letzten Brief. Ich zog das Foto von Giuditta aus dem Kuvert, auf dem sie mit so einem mediterranen Burschen grinsend vor einem See posierte, grüne Berge dahinter, einem Comer Sce, von dem ich damals keinen Begriff haben konnte;

S. 19

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Lesezitat nach Michael Schindhelm - Roberts Reise


Abhandengekommen
Michael Schindhelm - Roberts Reise

Michael Schindhelm, heute Theaterintendant in Basel, schrieb sich mit seinem beeindruckenden Romandebüt "Roberts Reise" den eigenen Lebenslauf von der Seele.

Robert, die Hauptfigur, ist in Thüringen geboren und wird von den Eltern auf die Technische Hochschule geschickt. Mit unglaublicher Präzision und Sensibilität schildert Schindhelm die damalige Stimmung in der DDR.

"Die anderen wuchsen mit Bürstenschnitt und Lakritze zwischen den Zähnen heran, draußen in Prag rollten die Panzer der lieben Sowjetsoldaten, die zu Hause die Wälder vor Pilzsuchern schützten, draußen wurde Rudi Dutschke abgeknallt, starben Jimmy und Janis, und der Lehrer schickte uns heim, wenn die Haare übers Ohr hingen, draußen war Vietnam, und wir klebten Wandzeitungen für die Kinder von My Lei, draußen wurde für Gard Haarspray ein Studio am Bildschirm aufgebaut, und unsere Mütter rollten sich die Frisuren zu turbanähnlichen Türmen, draußen erzählte Rudi Carell seine niederrheinischen Scherze, und drinnen formte sich der Volksmund zum Lachen über den neuesten Parteiwitz."

Später, als er im russischen Woronesch sein Chemiestudium aufnimmt, betrachtet er die Umgebung der Universität als Eingeschlossener. Robert nimmt seine Welt als Käfig wahr, aufgeteilt in Innen und Außen. Und der russische Zwinger fordert seinen Studenten ein unglaubliches Maß an Zumutungen ab. Mit Europäischen Maßstäben haben beispielsweise die hygienischen Verhältnisse nichts mehr zu tun.

Nach der Öffnung der Mauer reist Robert, wie sein Erfinder Schindhelm, in die Schweiz, bricht mit seinem naturwissenschaftlichen Hintergrund und beginnt am Theater zu arbeiten. Doch selbst jetzt, als die Türen seines Käfigs keine Gitter mehr haben, ist er noch nicht heimisch geworden – das Gefühl des Abhandengekommenseins bleibt.

"Roberts Reise" bewahrt die Zeit der ehemaligen DDR vor dem Mauerfall, ebenso wie die russischen Gegebenheiten in den achtziger Jahren vor der Vergessenheit. Schonungslos ehrlich, mit ironischen Passagen, von einem Insider erzählt.





Michael Schindhelm - Roberts Reise
2000, München, DVA, 315 S.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Tarnungen und Halluzinationen. Das Ziel war längst explodiert. Die einen jubelten durch ihre spröden frühen Jahre, wenn Cornelia Ender und Roland Matthes Goldmedaillen zu Olympischen Spielen gewannen und wenn der Freundschaftsratsvorsitzende in der Schule zum Morgenappell das "Immer bereit!" mit der flachen, aufgestellten Hand über dem Käppi einforderte. Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, das ist auch die Partei.

Die anderen wuchsen mir Bürstenschnitt und Lakritze zwischen den Zähnen heran, draußen in Prag rollten die Panzer der lieben Sowjetsoldaten, die zu Hause die Wälder vor Pilzsuchern schützten, draußen wurde Rudi Dutschke abgeknallt, starben Jimmy und Janis, und der Lehrer schickte uns heim, wenn die Haare übers Ohr hingen, draußen war Vietnam, und wir klebten Wandzeitungen für die Kinder von My Lei, draußen wurde für Gard Haarspray ein Studio am Bildschirm aufgebaut, und unsere Mütter rollten sich die Frisuren zu turbanähnlichen Türmen, draußen erzählte Rudi Carrell seine niederrheinischen Scherze, und drinnen formte sich der Volksmund zum Lachen über den neuesten Parteiwitz.

Lenins hundertsten Geburtstag feierten wir und sangen heimlich Abba, beim Fußball waren wir Beckenbauer und Müller, zu Hause unterm Küchentisch zwischen Indianerstämmen Sheriff Dillon und Old Shatterhand. Und der rote Rotz lief uns aus der Nase, und der Lehrer fragte nach dem Testbild und ob die Uhr zu Hause am Fernseher Ziffern hatte oder nicht, weil es nämlich im Westen eine Ziffern auf der Fernsehuhr gab, und der Vater warnte davor, mit diesem oder jenem Schulkameraden allzu offenherzig über Gespräche zu Hause zu reden und wer am letzten Samstag wieder zu Besuch war, und zu Weihnachten gab es Milky Way von Tante Lisbeth, das nach Seife schmeckte, weil für die Mutter auch Waschmittel im Paket gewesen war. Und die Städte erglommen noch sphinxbjau zwischen Schnee und Meer, auch nachd ern der Vater mir eines Abends beim Einparken des Autos in die Garage erzählte, Onkel Helmut, den Wirt von Der Rommelsburg, hätten sie nachts zuvor ahgeholt, und vielleicht sei er jetzt auch dran, denn sie hätten beim Skat immer über Politik gesprochen, und Onkel Helmut habe außerdem Heino-Platten gehört und eine Pistole gehabt, von er besser niemand hätte wissen sollen. Jungpioniere sind wir gewesen, aber ohne Pioniergeist, Kinder der DDR, aber ohne eine positive Vorstellung davon, was die DDR war. "Der Schwarze Kanal" war das Feindbild, nicht der schwarze Kanal Aber der Feind meinte es gut mit uns. S.33

Mit dem Auszug Richtung Osten bot sich die unverhoffte Gelegenheit, den Käfig DDR für eine Weile zu verlassen und von außen zu betrachten. Begrenzungen hatte ich zur Genüge erfahren. Das jenseits hinter einem Waldstück od er einem Flußlauf kannte ich aus der täglichen distanzierten Anschauung meiner Kindheit. Von der Burgruine über Bad Grüningen sah man bei gutem Wetter die Wasserkuppe, greifbar, unerreichbar. Man mußte nur ein paar Buchenzweige wegbiegen, und der Blick ging über in die andere Welt. S. 101


Lesezitate nach Michael Schindhelm - Roberts Reise


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 11.4.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger