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Noch bevor er in die Schule kam, brachte ihm seine Mutter Zahlen bei. Zuerst lernte er die Zahlwörter, indem er sie aufsagte und die Finger der Faust einen nach dem anderen entfaltete. Jede Zahl fühlte sich anders an. Die Eins war perfekt und freundlich. Die Zwei war nicht so kompliziert, wie sie aussah, zumin-dest wenn er sie ordentlich schrieb, so wie ein Z. Betrachtete man nämlich die Mittellinie als Verbindung zwischen dem oberen und dem unteren Strich, so hatte man die Bedeutung dieser Zahl. Die Drei war ihm ange-nehm: Ihre drei Spitzen machten sie leicht eingängig. Zwei Dreien zusammen hatten insgesamt sechs Spitzen. Wenn man die Vier oben offenließ, ergaben sich vier Spitzen. Bei der Fünf funktionierte das System nicht mehr, und sie war entsprechend schwer zu schreiben; aber da es die Hälfte von zehn war, ließen sich schnelle und präzise Operationen damit durchführen. Die Sechs war zwar gerade, aber da sie Kurven hatte wie die Drei und die Fünf, ähnelte sie eher einer ungeraden Zahl. Die Sieben war am schwierigsten; es gab kaum Hinweise auf die Menge der Einheiten, die sie darstellte. Besten-falls konnte man sich fünf Einheiten vorstellen und zwei daneben. Dennoch war sie täuschend einfach zu schrei-ben; ihr war nicht zu trauen. Die Acht empfand er als unangenehm widersprüchlich: Sie hatte Kurven wie eine ungerade Zahl, doch ihre vertikale Symmetrie machte sie zu einem Symbol der Geradheit. Die einzige Mög-lichkeit, mit der Neun umzugehen, war, sie als zehn weniger eins zu betrachten, und dafür daß sie eine ziemlich hohe Zahl war, kam er gut mit ihr zurecht: zwei mal zehn war zwanzig, und zwei mal neun war daher zwei Einser weniger als zwanzig, also achtzehn. S. 5-6


Lesezitat nach Charles Simmons - Lebensfalten


Lebensfalten
Charles Simmons - Lebensfalten

harles Simmons, geboren 1924, gehört, wie James Salter, zu den Autoren, die in Amerika seit vielen Jahren ihre Bücher veröffentlichen, doch bei uns in Deutschland kaum bekannt sind. Mit seinem Roman "Salzwasser", der 1999 auf deutsch erschien und in allen führenden Literaturbeilagen besprochen wurde, gelang Simmons der Durchbruch. Nun erscheint mit "Lebensfalten" ein autobiografisches Buch, das er bereits 1978 veröffentlichte, erstmals auf deutsch.

Es ist keine normale Autobiografie, die Simmons seinen Lesern präsentiert. Er geht auf diesem Gebiet einen völlig neuen Weg, Erlebnisse aus seinem Leben zu berichten. In vierzig kurzen, sehr übersichtlichen Kapiteln, die sich jeweils mit einem Stichwort beschäftigen, gleichsam einer Falte seines Daseins, das für ihn bedeutsam und prägend war und ist, schildert er einzelne Episoden. Zumeist beginnt er in seiner Kindheit, beispielsweise: Was hatte für ihn die erste Begegnung mit den Zahlen zu bedeuten. Das führt er fort bis in die Welt des Erwachsenen, wobei ihn die wichtige Rolle der 80er Zahlen fasziniert. "Als Kind war seine Hausnummer 840; seine High School lag in der Vierundachtzigsten Straße, an der Sechsundachtzigsten mußte er aus der U-Bahn aussteigen, um seine erste feste Freundin zu besuchen; und wenn sich die Industriewerte des Dow Jones sich um die achthundert einpendeln, hat er das Bedürfnis, zu kaufen oder zu verkaufen." Wird dies auch noch so sein, wenn er sechzig ist? In dieser Projektion in die Zukunft, das Alter, den Tod, darin liegt der Reiz seiner Geschichten.

In seiner Jugend bevorzugt er Baumwollstoff für Hosen. Das ging so weit, dass er jahrelang unter seinen normalen Anzughosen eine Schlafanzughose trug und von seiner Umwelt als liebenswerter Spinner wahrgenommen wurde. Bei den Schuhen nimmt er sich vor, sich die kleine Eigenheit, die schon sein Vater pflegte, zu leisten. "Jenseits der sechzig wird er dazu übergehen, immer gleich zwei Paar Schuhe zu kaufen. Es ist eine Maßnahme gegen den Tod. Anzüge wird er sich weiterhin einzeln anschaffen."

Mit seiner unkonventionellen Autobiografie unterhält Simmons über weite Strecken seine Leser ganz vorzüglich, ohne dass seine Konstruktion allzu sehr in den Vordergrund gerät und dadurch langweilig wird.

Ein Autor, den es durchaus noch zu entdecken gilt. © manuela haselberger


Charles Simmons - Lebensfalten
Übersetzung von Susanne Hornfeck
Originaltitel: "wrinkels"; © 1978
2001, München, C.H. Beck Verlag, 161 S.,

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Beim Militär machten er seine Freunde manchmal die Nacht durch, tranken alkoholfreies Bier, redeten, spielten Karten und empfanden Genugtuung dabei, der Truppe am nächsten Morgen ihren ausgeruhten Körper vorzuenthalten. Das überraschendste am Militär war, daß plötzlich nichts, was man ihm zu tun befahl, zu seinem eigenen Nutzen geschah es war genau das Gegenteil von Schule. Nach seiner Entlassung erschien ihm der Schulbesuch als reiner Luxus, aber er hatte auch seine Bedeutung verloren. Was er nun wollte, war, eine Stelle zu finden und zu heiraten: Mit eigenem Geld, einer Frau und Familie würde sein wahres Leben erst beginnen. Nach zwei Ehejahren hatte er eine Erkenntnis, die er seiner Frau mitteilte: «Ich behandle dich besser als alle anderen, aber du behandelst mich schlechter.» Damit wollte er sagen, daß sie die wichtigste Person in seinem Leben sei., während sie, die sich von Verwandten, Freunden, ja selbst von Ladenbesitzern einschüchtern ließ, ihre schlechte Laune an ihm ausließ. Er gewöhnte sich an zu schlafen, wenn sie wach war, und aufzubleiben, wenn sie schon schlief, dann trank er, las und schrieb Geschichten oder Briefe an Freunde. Das Großziehen der Kinder nahm sie beide so sehr in Anspruch, daß sie darüber für einige Jahre ihre Differenzen vergaßen, doch als sie wieder genug Energie hatten, traten die Probleme verschärft zutage. Gegen Ende ihrer Ehe gingen sie einander aus dem Weg und begegneten sich nur noch beim Abendessen. Nachdem er ausgezogen war, schien ihm seine Zeit leer und sinnlos, außer wenn er schrieb arbeitete. Er trank viel, was die Zeit ebenfalls nutzlos verstreichen ließ. Manchmal hörte er dann Musik las etwas (vorzugsweise gut formulierte Banalitäten), das sich in seinem Hirn festsetzte wie Eisenspäne auf einem Magneten. Als er sich verliebte, war die Zeit mit der Geliebten für ihn kostbarer als die Zeit ohne sie; doch als die Frau dann unzufrieden wurde, zerstörten ihre Klagen die Freude an ihrer Gegenwart. Er wird den Bruch mit ihr noch über Jahre hinausschieben, indem er seinen alten Psychiater wieder aufsucht. Das Alleinleben wird nicht mehr so schwierig sein, wie es einmal war, und auch der Sex wird nicht mehr so bestimmend für ihn sein. Während er ohne ernsthafte Erkrankung altert, wird er manchmal dankbar sein, daß ihm eine frühe Zer-störung oder die Desillusionierung der mittleren Le-bensjahre erspart geblieben ist. Je näher das Ende seines Lebens rückt, desto freier wird er über seine Zeit verfü-gen können, weil Zivilisation und Natur ihr Interesse an ihm verloren haben. S. 151-152

Lesezitate nach Charles Simmons - Lebensfalten













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© 16.3.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de