Bis ins Innere der Mongolei
Stuart Cohen - Unsichtbare Welt

Das Leben von Andy Mann aus Chicago ist genauso wie das von vielen anderen Leuten. Eigentlich ist er noch nie von zu Hause fortgewesen - irgendwie war niemals die Zeit dazu, jetzt ist er 40.

Clayton dagegen, sein Schulfreund von der Highschool, hat den Absprung geschafft. Er tingelte in den vergangenen 20 Jahren durch die ganze Welt, vorzugsweise durch Asien und meldet sich immer wieder mit einem seiner ungewöhnlichen Briefe bei Andy. Und jedes Mal fordert er ihn darin auf, ihn doch endlich zu besuchen.

Auch im letzten Brief: "Andyman! Das Reich ist geordnet. Ich begebe mich endlich auf die große Reise. Andy. Die innere Mongolei. Ich möchte, daß du zur Abschiedsparty in drei Tagen kommst."

Und eigentlich wollte Andy ihn zu all den anderen Briefen stecken, wenn da nicht eines Nachts Jeffry Holt gewesen wäre, der ihn aus Montevideo, Uruguay anrief und sagt: "Clayton ist tot. Er hat sich vergiftet."

Andy läßt sich überreden sofort nach Hongkong aufzubrechen, zumal Clayton ihm zu seiner Beerdigung sogar ein Rückflugticket zugeschickt hat.

Äußerst verwirrt tappt Andy in Begleitung von Chang, dem Testamentsvollstrecker seines Freundes durch die Stadt und lernt neben Jeffry Holt auch noch andere Freunde Claytons, z.B. dessen Ex-Freundin Silvia, kennen.

Womit hat Clayton sich eigentlich beschäftigt all die Jahre? Einige Zeit lang war er ein anerkannter Künstler mit Papiermontagen in Japan. Aber es hielt in dort nicht.

Wie Holt, der alten, prähistorischen Stoffen quer über den Globus nachjagt und Silvia, die in Peking mit Koreanern Edelsteingeschäfte betreibt, führte auch Clayton ein unstetes Leben, das ihn bis in die innere Mongolei trieb.

Wie bei einem Detektivspiel lockt der verstorbene Clayton seinen Freund zuerst nach Shanghai, dann nach Peking und zuletzt nach Helan Qi, irgendwo jenseits der großen chinesischen Mauer, in ein Land mit unverständlichen Schriftzeichen und exotischen Menschen.

Doch Andy schlägt sich tapfer. In Begleitung Jeffrey Holts ist er dort auf der Suche nach einem Wandteppich, der das mongolische Reich abbilden soll und den angeblich Dschingis Khan als Geschenk für den römischen Papst vor 700 Jahren hatte anfertigen lassen.

Offenbar hatte Clayton dieses einzigartige Stück Webkunst in einem mongolischen Kloster vor seinem Tod entdeckt.

Doch Andy ist sich nicht klar, wem er trauen soll - auf keinen Fall Silvia; und Holt?

Das Ende ist überraschend, aber wie vieles in der asiatischen Welt gar nicht so wichtig: Der Weg ist das Ziel. Und genau das kann der Schriftsteller Stuart Cohen außergewöhnlich gut: Wunderbare Beschreibungen von Land und Leuten, tiefschürfende Dialoge und eine absolute Kennerschaft von allem, das irgendwie mit Stoffen, Wolle, Seide, Kaschmir, Alpaka zu tun hat.

Er ist ein Autor, der die Gabe hat, ungewöhnliche Vergleiche zu schaffen: "Ein Gang am Ende einer Rolltreppe, dessen Abzweigungen zusammenlaufen wie die Seiten eines Buches." Oder eine Hotelhalle: " Die Musik eines Flügels spülte über das Meer aus poliertem Stein."Auch seine Personenbeschreibungen sind lesenswert: " Er trug einen schwarzen Anzug und eine graue Seidenkrawatte, die so glatt und glänzend war wie die auftauchende Rückenfinne eines Meereslebewesens."

Mit landestypischen Sprachfetzen vermischt "Tranquilo, hombre", "Qué tal." "Guanxi" oder "Café cortado" würzt der Autor seine Dialoge und zeigt, daß er Kosmopolit ist: "Ich mag Hotelzimmer. Sie sehen ständig so sauber aus, als sei man gar nicht da. Du schaust in den Spiegel und bist einfach ... jemand in einem Hotelzimmer."

"... und die Tischdecken erzählten mit einem Vokabular aus Teeflecken und angetrocknetem Reis von vergangenen Mahlzeiten."

Es ist ein realistisches Erlebnis mit Stuart Cohen auf Reisen zu gehen:"Schlechte Restaurants sind wie Parasiten, die sich in den Eingeweiden solcher Reisen einnisten. Sie sind immer aus Beton, und im Winter nimmst du dein Mahl im Mantel ein, während dein Atem sichtbar zwischen öligen Nudeln und talgigem Fleisch entweicht. Das Gemüse hat schwarze Punkte auf den Blättern, und die Bambusstäbchen sind aufgequollen und glitschig."

Ich für meinen Teil werde mich auf jede weitere Reise von Cohen freuen.




Stuart Cohen - Unsichtbare Welt
aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfleck und Franz-Josef Krücker
Originaltitel: 1998 by Stuart Archer Cohen, " Invisible World"
1999, München, List, 413 S., 44.90 DM

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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999/03/03
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Quelle: http://www.bookinist.de
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