Leseprobe

"Der Mann mit den Gummistiefeln trat hinter mir in den Aufzug, doch zunächst sah ich ihn nicht. Allerdings roch ich ihn: den stechenden Geruch nach Rauch und billigem Wein und einem Leben auf der Straße, ohne Seife. Auf der Fahrt hinauf waren wir allein, und als ich ihm schließlich einen Blick zuwarf, sah ich die schwarzen, schmutzigen und viel zu großen Stiefel. Unter dem abgetragenen, zerrissenen Trenchcoat, der ihm bis zu den Knien reichte, waren Schichten ungewaschener Kleider, die am Bauch Falten warfen und ihn stämmig, ja beinahe dick wirken ließen. Dabei war er alles andere als das. Im Winter tragen die Obdachlosen in Washington alle Kleider, die sie besitzen, am Körper - jedenfalls sehen sie so aus.

Er war schwarz und nicht mehr jung. Sein Bart und seine Haare waren halb ergraut und seit Jahren weder gewaschen noch geschnitten worden. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, sah starr geradeaus und ignorierte mich vollkommen. Sein Verhalten war so, daß ich mich einen Augenblick lang fragte, warum ich ihn eigentlich musterte.

Er gehörte nicht hierher. Er gehörte nicht in dieses Gebäude und in diesen Aufzug. Es war ein Ort, den er sich nicht leisten konnte. Die Rechtsanwälte auf diesen acht Etagen arbeiteten für Stundensätze, die mir auch nach sieben Jahren noch obszön erschienen.

Er war bloß irgendein Penner, der sich mal aufwärmen wollte .... "


Robin Hood im Obdachlosenasyl
John Grisham - Der Verrat

Michael Brock, zweiunddreißig Jahre alt, ist dabei, für sich den amerikanischen Traum zu verwirklichen. Seine vielversprechende Karriere als Rechtsanwalt verläuft steil bergauf, in wenigen Jahren wird er sicher zum Teilhaber ernannt werden und seine Frau arbeitet in Kürze als Chirurgin. Die beiden sind so mit ihrer Arbeit beschäftigt, daß sie ihre Umwelt gar nicht mehr wahrnehmen. Selbst für ihre Ehe bleibt zu wenig Zeit. Das ändert sich für Michael schlagartig, als er in seiner Kanzlei von einem Obdachlosen gekidnappt wird. Der verstörte Mann wird einige Stunden später von der Polizei überwältigt, doch Michael beginnt Nachforschungen über ihn anzustellen und lernt Washington aus einer ganz anderen Perspektive kennen. Bislang hat er sich darum bemüht, als Spezialist für das Kartellrecht die Bilanzsummen seiner Mandanten um einige entscheidende Nullen zu mehren, jetzt trifft er Menschen mit ihren Nöten und Sorgen, die auf der Straße leben oder höchstens ein Auto als ihre Wohnung bezeichnen.

Der Tod eines Obdachlosen wird zum Wendepunkt in seinem Leben: Er beginnt sich für die Armen der Gesellschaft zu engagieren, auch wenn er von ihnen keine horrenden Honorare zu erwarten hat. Noch dazu leitet er gegen seine ehemalige Kanzlei rechtliche Schritte ein, da sie es zu vertreten hat, daß siebzehn Menschen obdachlos wurden, als sie das Gebäude, in dem sie wohnten, im Auftrag eines Mandanten räumen ließ.

Um an sein Ziel zu kommen, sind einige nicht ganz legale Schritte nötig, doch der amerikanische Erfolgsautor John Grisham hat seinen Plot handwerklich gut im Griff, hat er doch selbst lange genug als Rechtsanwalt gearbeitet. Allerdings liest sich "Der Verrat" längst nicht so spannend wie zum Beispiel "Die Firma", das wundert jedoch niemand, wenn man die rasante Geschwindigkeit betrachtet, mit der seine Bücher erscheinen. Für hartnäckigen Fans, von denen Grisham eine ganze Menge hat, will man den Bestseller-Listen Glauben schenken, liegt im Original bereits sein nächster Roman, "The Testament" vor.


John Grisham - Der Verrat
aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Originaltitel: © 1998, "The Street Lawyer"


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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999/04/06

Quelle: http://www.bookinist.de