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»Erklär es mir«, sagte Jenny. »Du mit deiner Bildung mußt es doch wissen: Was ist das Leben?«

»Der vorübergehende Aufenthalt eines Sonnenstrahls auf seinem Weg in das Weltall«, sagte ich. Noch bevor ich etwas hinzufügen konnte, rief eine resolute Frauenstimme: »Wir schließen jetzt.«

Im Spiegel mir gegenüber sah ich, wie sich eine Gestalt sofort aufrichtete. Der dort - das sollte ich sein? Ich hatte doch noch nie zuvor bis tief in die Nacht in einem Café gesessen? Ich kehrte meinem Spiegelbild den Rücken; erleichtert wandte ich mich dem Ausgang zu. Auf der Schwelle wurde prickelnd frische Luft herangetragen; ein zaghafter Wind ließ die Blätter rascheln. Für einen Augenblick teilte eine feurige Gabel den Himmel, aber es folgte kein Donnerschlag. Vorsichtig steuerte ich auf einen Laternenpfahl zu, lehnte mich dagegen. Jenny stand neben mir, ohne sich irgendwo festzuhalten. Es schien, als sei sie größer als ich. Sie trug eine blaue Jacke und einen abgetragenen Rock. Unter dem ausgefransten Saum glänzten weiße Stiefel mit erstaunlich hohen Absätzen. Sah sie deshalb größer aus? »Wollen wir noch etwas bei mir zu Hause trinken?« fragte ich.


Was geschah wirklich?
Maarten´t Hart - Die schwarzen Vögel

Ihren letzten Abend verbringen Thomas, Pharmakologe, und seine Freundin Jenny im Café mit einer angeregten Unterhaltung: Du mit deiner Bildung mußt es doch wissen: Was ist das Leben?" - "Der vorübergehende Aufenthalt eines Sonnenstrahls auf seinem Weg in das Weltall." Nach etlichen Gläsern Rotwein trennen sich die beiden, obwohl Thomas Jenny gerne noch zu sich nach Hause eingeladen hätte, denn erst am nächsten Morgen wird seine Frau wieder zurückkommen.

Einige Tage später steht die Kriminalpolizei bei Thomas vor der Tür. Jenny ist seit jenem Abend spurlos verschwunden und mit ihm zusammen wurde sie zum letzten Mal gesehen.

Aus dieser einfachen, scheinbar überschaubaren Ausgangssituation entwickelt der Niederländer Maarten´t Hart, der in Deutschland vor allem durch seinen Roman "Das Wüten der ganzen Welt" bekannt wurde, einen spannenden, psychologisch ausgefeilten Krimi, der den Leser atemlos in Bann schlägt.

Der Reiz der Geschichte "Die schwarzen Vögel", die in den Niederlanden bereits 1983 erschien und erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde, liegt hauptsächlich darin, wie virtuos Maarten´t Hart die unterschiedlichen Perspektiven handhabt, mit denen er das Geschehen ausleuchtet: Thomas erzählt der Polizei seine Sicht der Dinge, führt mit seiner Frau Leonie einen kurzen Briefwechsel aus dem Gefängnis, bis Leonie selbst eingreift. Sie besucht die Cafés, in denen sich Thomas und Jenny getroffen hatten, spricht mit Jennys Freundinnen und Bekannten und hält ihre Beobachtungen in einem Tagebuch fest.

Und für Sätze wie den folgenden, werden "Die schwarzen Vögel" zu einem Lieblingsbuch, das viel mehr ist als nur ein guter Krimi: "Es ist nicht die Bestimmung des Menschen glücklich zu sein. Durch Glück wirst du nicht ein bißchen weiser. Du lernst nur durch Schmerz, Kummer und Leid; du kommst nur durch Unglück weiter. Aber wohin weiter?"




Maarten´t Hart - Die schwarzen Vögel
aus dem Niederländischen von Marianne Holberg
Originaltitel: © 1983, "De kroongetuige"
1999, Zürich, Arche Verlag, 316 S., 38.00 DM

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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999/04/07

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger