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Man kann einfach weggehen, dachte ich. Entweder man geht ein bißchen weg, oder man geht richtig weg, oder man bleibt.

René war nach New York gegenagen. Natürlich würde er wieder kommen, aber das könnte dauern.

Man kann auch bleiben, und während man bleibt, denken, eines Tages gehe ich einfach weg, und während man es denkt, bleibt man und wartet, bis René wiederkommt, und eines Tages ist man geblieben und gar nicht weggegangen, weder ein bißchen noch richtig. Und dann ist man traurig und sagt: Wo ist das Leben bloß hin.


Ich bin erst geblieben und habe gedacht eines Tages gehe ich weg, inzwischen ist das Kind immer mehr gewachsen, und ich bin immer noch dagewesen, und eines Tages habe ich gedacht, wenn du jetzt nicht bald weggehst, bleibst du womöglich da, und hinterher wirst du traurig, und da bin ich weggegangen, und alle sind dageblieben, wo sie waren. Erst bin ich ein Stückchen weggegangen und habe gemerkt, ein Stückchen ist schon zuviel, aber noch nicht genug.


Vom Weggehen und Ankommen
Birgit Vanderbeke -
Ich sehe was, was du nicht siehst

Birgit Vanderbeke ist für die Kürze ihrer Romane inzwischen bekannt. Selten schreibt sie mehr als hundert Seiten, doch die haben es immer in sich. Ihr neues Buch "Ich sehe was, was du nicht siehst" bezieht sich im Titel auf ein altes Kinderspiel. Zugleich ist es auch der Name der Radio-Sendereihe der Autorin, die sie für Kinder schreibt. Doch "Ich sehe was, was du nicht siehst" deutet auch auf einen neuen Blickwinkel hin, den die Heldin in ihrem Leben sucht und den sie in der vertrauten Umgebung nicht mehr findet.

Zusammen mit ihrem Kind verläßt sie nach der Wende Berlin und zieht nach Frankreich. Von ihren Freunden und ihrer Mutter wird sie vor der Fremde gewarnt, eine andere Sprache, ein neues Schulsystem, wer weiß, ob sie sich zurechtfindet.

"Als ich meinen eigenen Blick wiederhatte, sah ich immer noch, was meine Mutter gesehen hätte, aber weil ich es mit meinem eigenen Blick sah, sah es anders aus, und es war vielleicht in diesem Moment, daß ich es begann, es zu lieben."

Birgit Vanderbeke hat sicher autobiographische Erlebnisse verarbeitet, denn sie lebt und schreibt seit vielen Jahren in Frankreich. Sie ist eine ungemein genaue Beobachterin und kann ihre Empfindungen und Eindrücke in eine oft recht spröde Sprache fassen, die in Bann schlägt und mit einer ungeheure Sogwirkung nicht mehr losläßt. Vielleicht deshalb, weil ihre Beobachtungen dem Leser nur allzu bekannt vorkommen.

Noch eine Kostprobe: "Wenn man Angst hat, ist man von hinten gehetzt und nach vorne vernagelt, und auf die Art kommt man längst nicht so schnell vom Fleck, wie man müßte, wenn man von hinten gehetzt ist.."

Ein schmales Büchlein, mit soviel schönen Formulierungen, das man unbedingt mehrmals lesen sollte.



Birgit Vanderbeke - Ich sehe was, was du nicht siehst
1999, Berlin, Alexander Fest Verlag, 121 S.

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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999-07-28

Quelle: http://www.bookinist.de
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