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    Der blinde Mörder
    von Margaret Atwood
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    Zehn Tage nach Kriegsende lenkte meine Schwester Laura ein Auto von einer Brücke. Auf der Brücke wurde gebaut: Laura fuhr mitten durch die Absperrung. Das Auto stürzte dreißig Meter in die Tiefe, krachte durch die Bäume mit ihren fedrigen neuen Blättern, ging in Flammen auf und blieb in dem seichten Bach am Grund der Schlucht liegen. Brückenteile stürzten darauf herab. Außer ein paar verkohlten Überresten blieb nicht viel von ihr übrig.
    Ein Polizist informierte mich über den Unfall: das Auto gehörte mir, sie hatten mich über das Nummernschild ausfindig gemacht. Der Ton des Polizisten war respektvoll: zweifellos wusste er, wer Richard war. Er sagte, vielleicht habe sich ein Reifen in einer Stra-ßenbahnschiene verklemmt, oder die Bremse habe versagt, aber er fühlte sich auch verpflichtet, mir mitzuteilen, dass zwei Zeugen - ein Anwalt im Ruhestand und ein Bankkassierer, beide glaubwür-dig - angegeben hatten, den Vorfall beobachtet zu haben. Sie hatten ausgesagt, Laura habe das Steuer scharf und absichtlich herumgeris-sen und das Auto so beiläufig, wie man von einem Bürgersteig her-untertritt, über den Rand der Brücke hinausgelenkt. Durch die wei-ßen Handschuhe, die sie getragen hatte, hatten sie ihre Hände auf dem Steuerrad deutlich sehen können.
    Es waren nicht die Bremsen, dachte ich. Sie hatte ihre Gründe. Nicht dass diese Gründe je dieselben Gründe wie die anderer Leute gewe-sen waren. In dieser Hinsicht war sie absolut skrupellos.
    »Wahrscheinlich wollen Sie, dass jemand sie identifiziert«, sagte ich. »Ich komme, sobald ich kann.« Wie aus weiter Entfernung hör-te ich, wie ruhig meine Stimme klang. In Wahrheit bekam ich die Worte kaum über die Lippen; mein Mund war rauh, mein ganzes Gesicht war starr vor Schmerz, als wäre ich gerade beim Zahnarzt gewesen. S. 13