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Mythen gewinnen in Familiengeschichten stets die Oberhand über die Wahrheit. Und so fragte ich vor zehn Tagen meinen Vater, warum unser großer Vorfahr Jussuf Pascha vor nahezu zweihundert Jahren beim Sultan von Istanbul in Ungnade gefallen und verbannt worden war. Ich stellte diese Frage meinem Sohn Orhan zuliebe, der schüchtern neben mir saß und hin und wieder einen verstohlenen Blick auf seinen Großvater warf, den er bis dahin noch nie gesehen hatte.Wenn man nach langer Abwesenheit über die kurvigen Straßen durch die grünen Hügel fährt und schließlich hier eintrifft, wird man von den vielen Wohlgerüchen schier überwältigt, und der Gedanke an Jussuf Pascha drängt sich förmlich auf. Denn dies war in all den Jahren der Verbannung sein Palast, und die grazile, doch beständige Schönheit des Anwesens hatte noch nie ihre Wirkung auf mich verfehlt. Als Kinder flohen wir oft in der stickigen, lähmenden Sommerhitze von Istanbul hierher, und noch ehe wir die kühle Brise tatsächlich auf unserer Haut spürten, hatte uns der Anblick des Meeres bereits in gehobene Stimmung versetzt. Nun endlich war unsere beschwerliche Reise zu Ende.Jussuf Pascha selbst hatte dem Architekten den Auftrag erteilt, einen abgelegenen Platz ausfindig zu machen, der jedoch nicht allzu weit von Istanbul entfernt sein durfte. Zwar sollte sein Haus am Rande der Einöde erbaut werden, aber dennoch in Reichweite seiner Freunde liegen. So sollte allein schon der Standort die Strafe widerspiegeln, die über ihn verhängt worden war - einerseits sehr nah der Stätte seines Triumphs in der alten Stadt, doch zugleich auch unendlich fern. Dies war der einzige Punkt, in dem sich Jussuf Pascha den Auflagen des Sultans beugte. S. 9


Lesezitat nach Tariq Ali - Die steinerne Frau


Ein Sommer am Meer -
am Rand einer neuen Zeit

Tariq Ali - Die steinerne Frau

»In unserer Kindheit hatten meine Schwester und ich uns häufig in den Höhlen nahe eines alten Felsens versteckt, der früher einmal die Statue einer heidnischen Göttin gewesen sein musste. Er überragte die Mandelbäume hinter unserem Haus, und von ferne ähnelte er einer Frau.«

Diese steinerne Frau gehört zum Anwesen einer herrschaftlichen Sommerresidenz am Marmara-Meer, in welcher 1899 die Familie des islamischen Aristokraten Iskander Pascha ihren Sommer verbringt.

Die Stimmung birgt etwas Leichtes, Süßliches, ja fast schon Verfaulendes; nach einem Schlaganfall des alten Patriarchen Iskander besuchen ihn wieder erstmals seit langen Jahren seine Kinder Salman, Halil, Zeyneb und Nilofer dort in der luftigen Villa am Meer.

Ebenso tauchen überraschend Mehmed und Kemal, seine Brüder, auf. Mehmed, wie schon seit Jahrzehnten, in Begleitung seines Lebensgefährten Jakob von Hassenberg, einem Baron aus Berlin.

Gekonnt führt der Autor die Lebensweise und lockeren Beziehungen der etwa zwei Dutzend handelnden Personen vor. Wie mit einem leichten, dünnen, orientalischen Schleier, webt Tariq Ali eine Familiengeschichte, eingebettet in das Ende einer Epoche: Das osmanische Reich wird untergehen, das christliche Europa vorerst seinen Sieg davontragen.

Aber - es sind nicht die großen Ereignisse, die den Leser beschäftigen, sondern der sommerliche Alltag dieser aristokratischen Familie, ihre teilweise traurigen Lebensschicksale, die sie nach und nach, jeder für sich alleine, jener archaischen Steinskulptur am Meer ungeschminkt erzählen, als ob ihnen Trost und Verzeihung vom kühlen Granitgestein gespendet werden würde.

Es ist von Liebe, unglücklicher Liebe, Fremdenhass und Mord die Rede. Und plötzlich erhebt sogar die Tagespolitik ihr Haupt in dem sonst so unbeschwerten Sommerhaus: Halil, der zweitälteste Sohn, ist türkischer Offizier und offensichtlich an einer Verschwörung mit dem Ziel den regierenden Sultan in Istanbul zu stürzen beteiligt.

Doch ansonsten verhält man sich standesgemäß: Die Domestiken führen Gäste in den großzügig möbliert und gestalteten Empfangssaal, man tafelt, trinkt Champagner und diskutiert allabendlich in der Bibliothek über Politik und Kultur, Literatur und moderne Kunst, Frankreich und die Türkei. Teilweise werden dabei alte Familiengeschichten aufgerollt, teilweise gestehen sich die Familienmitglieder alte Schulden ein, die die Beziehungen untereinander völlig neu definieren.

Ein wunderbarer Roman, der als seine bislang dritte historische Geschichte sich wieder der heute besonders umstrittenen Frage der Beziehungen zwischen Ost und West, dem Islam und dem Christentum widmet. Ali suchte sich auch dieses Mal wie schon in seinen beiden vorherigen Romanen "Im Schatten des Granatapfelbaums" (1993) und "Das Buch Saladin" (1998) eine äußerst spannende historische Situation und lässt den Leser diese aber aus der Sicht von Menschen betrachten, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung zwar sehr eng mit der herrschenden Macht verknüpft sind, andererseits aber im großen Rad der Geschichte wiederum so unbedeutend sind, dass sie nahezu machtlos sich dem Lauf der Zeit unterwerfen müssen.

Selbstverständlich würzt Ali all das mit feinfühligen, sensiblen Liebesgeschichten, allerdings sind diese im aktuellen Roman sehr viel dezenter gehalten als 500 Jahre vorher unter dem spanischen Granatapfelbaum. Auch darin beweist Ali, dass er als Schriftsteller einen für den Leser sehr erfreulichen Reifungsprozess hinter sich gebracht hat. Man darf auf seine weiteren Romane gespannt sein, ist er doch einer der wenigen Autoren, der die Kunst des Brückenbauens zwischen den zwei sich manchmal so unendlich weit entfernten Kulturen des Islams und des Christentums beherrscht. © thomas haselberger


Tariq Ali - Die steinerne Frau
© 2000, The Stone Woman
übersetzt von Petra Hrabak,
Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß

© 2001, München, Diederichs, 318 S., 22.00 € (HC)
© 2003, München, Heyne, 318 S.,    9.00 € (TB)





Fortsetzung des Lesezitats ...

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, Steinerne Frau. Es geschah ganz plötzlich, ohne jede Vorwarnung, und nun befinde ich mich in vielleicht größeren Schwierigkeiten als jemals zu vor in meinem Leben. Es geschah gestern Abend im Licht des Mondes. Ich wollte allein sein und ging, am Strand die Sterne zu zählen. Dabei nahm ich den kleinen Pfad, der von den Klippen zu dem Höhleneingang führt, von dem man übers Meer blicken kann. Als Kinder glaubten wir, kein Erwachsener, sondern nur wir wüssten von diesem Pfad. Und wenn doch, hätte man uns nur unter Mühen folgen können, denn der Weg war wirklich sehr schmal. «

Als ich hörte, wie die Wellen leise plätschernd den Sand liebkosten, erfasste mich ein Gefühl tiefen Friedens. Ich sah hinaus auf das im Mondlicht schimmernde Meer, dann richtete ich den Blick hinauf zu den Sternen, und schon sah ich alles aus einer anderen Perspektive. Meine eigenen Probleme schrumpften zu einem Nichts: Verglichen mit der großartigen Natur, waren wir nur winzige Körnchen Sand. Während ich noch tief in Gedanken versunken war, vernahm ich aus der Dunkelheit eine vertraute Stimme.

»Verzeihen Sie mir, hanim effendi, aber ich dachte, ich sollte mich bemerkbar machen für den Fall, dass Sie das brennende Verlangen packt, in den seidenweichen Fluten zu baden. « Es war Selim, Hasan Babas Enkel, mit dem ich seit der Beschneidungszeremonie schon mehrmals ein paar Worte gewechselt hatte. Er kümmerte sich um Orhans Wunde und sorgte daflir, dass sie richtig verheilte. Orhan hatte Zuneigung zu dem jungen Mann gefasst, und auch ich musste mir eingestehen, dass ich seine Gesellschaft als angenehm empfand. S. 75

»Schreitet das Komplott wacker voran, Nilofer? Wann dürfen wir auf unsere Befreiung hoffen? «
»Heute Abend werde ich dies bestimmt besser beurteilen können, aber du als gebildeter und viel bereister Mann solltest dem Komitee unbedingt beitreten. « Salman schüttelte heftig den Kopf. »Nein. In diesem Punkt stimme ich vollkommen mit Vater überein. Dies ist übrigens ein weiterer Grund, weshalb wir uns jetzt so nahe stehen. Wir beide finden, dass dieses Komitee zu sehr von Uniformen beherrscht wird. Die Bärte und die Eunuchen loszuwerden ist ein gewaltiger Sprung nach vorn. Aber sie durch das Militär zu ersetzen, bringt uns vielleicht nicht so weit voran, wie es unabdingbar wäre, wollen wir jemals unsere Rivalen einholen. «
»Wer sonst könnte den Wandel bewirken? Etwa die Dichter?«
»Der Hirnmel sei gepriesen«, lachte er.»Nilofer, bist du neuerdings etwa eine von ihnen? «
»Ich denke darüber nach. «
Nun sprach er von seinen weiteren Befürchtungen. Die letzte Etappe der Reformen war konstruktiv gewesen. »Den Turban durch den Fes zu ersetzen, mag vielleicht nur ein symbolischer Akt gewesen sein, aber es war zumindest ein Anfang. Und noch eines dürfen wir nicht außer Acht lassen: Das Edikt von 1839, das diese Reformen verkündete, hatte egalitären Charakter und war insofern großzügig, als es allen Untertanen des Reichs die gleichen Möglichkeiten eröffnete. Doch jetzt ist die Stimmung umgeschlagen. Es gibt Leute in dem Komitee, die dem Nationalismus das Wort reden, und das, meine liebe Schwester, ängstigt mich. Meiner Meinung nach wird es immer gefährlich, wenn die ethnische Zugehörigkeit zum Thema wird.«
»Warum?« Ich wollte ein Argument hören.
»Niemand wirft den Griechen vor, gefährlich zu sein, nur weil sie sich von jedermann abschotten. Im Gegenteil, die meisten europäischen Länder unterstützen sie.«
»Aber müssen wir denn deshalb jedem Griechen, der hier leben möchte, gleich die Kehle durchschneiden - so wie deinem Mann?«, erwiderte Salman.

»Muss wirklich jeder Armenier aus seinem Haus vertrieben werden? Petrossians Familie lebt seit über fünfhundert Jahren in ihrem Dorf, also seit Beginn der Osmanischen Herrschaft. Sollen wir nun Petrossians Dorf ´säubern´? Dies sind die Fragen, die sich dann stellen und einer Antwort bedürfen. Erkundige dich bei deinen neuen Freunden, was für eine Gesellschaft sie errichten wollen, nachdem sie Sultan Abdulhamid auf ein Schiff gebracht haben, das Kurs auf Großbritannien nimmt. «

Salman zwang mich, ernsthaft über dieses Thema nachzudenken. Natürlich war ich für einen radikalen Umbruch, aber keinesfalls für »ethnische Säuberungen«, vor allem wenn dann sämtliche Christen aus unserem Reich vertrieben würden. Zweifellos hatte Salman in dieser Hinsicht Recht, aber es ist nun einmal eine unumstößliche Wahrheit, dass es immer zu Tumulten kommt, wenn Reiche zerbrechen.

Wäre unserem Propheten Mehmed und seinen Anhängern auch dann ein so rascher Erfolg beschieden gewesen, wenn das Römische Reich nicht kurz vor seinem Untergang gestanden hätte? Die Moslemkrieger konnten Spanien mit nur wenigen tausend Soldaten erobern, was ihnen nie und nimmer möglich gewesen wäre, hätte Rom noch über seine einstige Macht verfügt. Und wie war es einst bei unserem Osman? Konnte er seinen Traum nicht nur deshalb verwirklichen, weil das Byzantinische Reich bereits im Niedergang begriffen war? Und nun, da unser eigener Untergang bevorstand, nahm man uns eben wieder weg, was wir in der Vergangenheit errungen hatten. Das war nun einmal der Lauf der Welt.
Großbritannien und Frankreich waren uns überlegen, wie wir einst Römern und Byzantinern überlegen gewesen waren. Der Sturz des Sultans würde zu Unruhen führen. Man musste kein tiefschürfender Philosoph sein, um das Offensichtliche zu verstehen. Das Komitee war gerade deshalb wichtig, weil es gegebenenfalls die Gewalt und das zu erwartende Durcheinander in Grenzen zu halten vermochte.
Eben wollte ich mich zu meinen neuen Freunden in der Bibliothek gesellen, als ich den Baron und Onkel Mehmed tief ins Gespräch mit Halil versunken sah. Mein Bruder war von den Worten des Barons sichtlich erschüttert, er nickte ernst und eilte dann zurück ins Haus.

Eine Stunde später, das Komitee war mitten in seiner Sitzung, schien Halil die Fassung wieder gefunden zu haben. Als sich der General, der bisher nichts gesagt hatte, räusperte, wurden wir alle still.

»Wir können nicht länger unsere eigene Geschichte leugnen. Schon immer neigten wir zur Prahlerei. Ständig blicken wir nur zurück und sagen uns: Wir, die wir aus dem Nichts gekommen sind, haben ein riesiges Reich zum Ruhme des Islam errichtet. Unablässig traktieren wir unsere Kinder mit unseren Siegen, die fraglos zahlreich waren. Was wir indes nicht zu begreifen vermögen, ist unser Niedergang, und deshalb sind wir jetzt an einem toten Punkt angelangt. Ich möchte nicht zu weit ausholen, aber gestattet, dass ich unseren Verfall kurz skizziere. Wir befinden uns nun schon seit zwei Jahrhunderten auf dem Rückzug.

Als wir 1683 Wien nicht einnehmen konnten, wendete sich unser Glück. Das Ergebnis dieses Wendepunktes ist im Friedensvertrag von Karlowitz nachzulesen, den wir 1699, vor genau zweihundert Jahren, unterzeichnet haben. Damit haben wir Ungarn den Habsburgern überlassen und uns selbst nach Belgrad zurückgezogen. 1774 erlaubten wir in unserer osmanischen Einfalt den Russen, die Interessen unserer christlichen Untertanen zu wahren. Warum verlangte der Sultan oder sein Wesir im Gegenzug denn nicht das Recht, die russischen Sklaven zu schützen, deren Behandlung ein Affront unserem ganzen Volk gegenüber war?

Weitere Niederlagen folgten 1792 - dem Jahr, in dem die Franzosen ihren König köpften -, 1799, 1812, 1829 und schließlich eine weitere vor zwanzig Jahren, als wir nicht nur Serbien, Rumänien und Montenegro verloren, sondern sich die Österreicher sogar Bosnien und die Herzegowina einverleibten. Dazu schickte die französische und englische Marine ihre Schiffe bis in die Außenbezirke von Istanbul und droht uns mit Strafen, sollten wir ihren Weisungen nicht Folge leisten. Das ist das Ende dieses Reiches. Wir müssen nun handeln, um das Ausmaß der Katastrophe gering zu halten. Natürlich könnten wir schon nächste Woche mit unseren Armeeeinheiten den Sultan gefangen nehmen. Aber das ist sinnlos, solange wir uns nicht darauf geeinigt haben, was an seine Stelle treten soll. Das ist alles, was ich im Augenblick dazu sagen möchte.«

Dieser General hatte nichts beschönigt und mit fester Stimme kundgetan, was wir alle bereits wussten. Doch war mir die Dimension unseres Niedergangs noch nie so deutlich vor Augen geführt worden. Eine Frage hatte mich indes schon seit jeher bewegt.

»Verzeihen Sie mir meine Unwissenheit, General. Aber warum waren wir eigentlich nicht in der Lage, Wien einzunehmen?«
Alle stöhnten auf, als hätten sie dieses Thema schon ihr Leben lang erörtert, und nun wollte auch noch ausgerechnet eine Frau die Antwort von ihnen wissen. Es war der junge Offizier aus Saloniki, der schließlich das Wort ergriff.

»Wie Sie sich vorstellen können, diskutieren unsere Militärhistoriker diese Frage schon seit langem, doch sie werden sich nicht einig. Dass unsere Truppen 1683 vor Wien geschlagen wurden, ist verständlich. Die Habsburger und die Polen verfügten über eine neue Technik der Kriegsführung. Unsere Soldaten hingegen waren demoralisiert und mit allem unzufrieden. S. 209-212


»Reductio ad absurdum ist hier nun wahrlich fehl am Platz, Baron! Spotte, so viel du willst, aber den Konflikt der Omayaden und Abbasiden auf Weltniveau zu heben ist grotesk. Feuerbach hätte dir den Hintern versohlt, weil du dich in Sarkasmus flüchtest, wenn Argumentte versagen.«
Der Baron klopfte verärgert mit dem Stock auf den Holzboden. »Mich erstaunt weniger deine Naivität, Mehmed, als dein dünkelhafter Eigensinn. Wenn es dir an Kenntnis über eine Sache mangelt und sich dein alter, geschätzter Freund bemüht, die Wolken deiner Unwissenheit zu zerstreuen, die sich auf deine hochgezogenen Augenbrauen gelegt haben, solltest du zumindest so viel Höflichkeit an den Tag legen und dir seine Darlegungen bis zum Ende anhören. Das hilft! Sobald deine Wissenslücken gefüllt sind, darfst du selbstverständlich widersprechen.«
Jetzt war es an Onkel Mehmed zu schmollen. »Tu, wie dir beliebt, Baron. So wie du es immer tust.«

Doch der Baron ging auf den gereizten Ton nicht ein. »Nun hör mir einmal gut zu, Mehmed! Es handelte sich um zwei rivalisierende Gruppen. Darüber herrscht kein Zweifel. Aber worum ging es denn eigentlich bei dieser Feindschaft? Um Macht? Ja, aber weshalb? Wir dürfen nicht vergessen, dass in diesem Bürgerkrieg Tausende ihr Leben lassen mussten. In meinen Augen handelte es sich um einen Kampf der Araber, die allmählich an Stärke einbüßten und seit dem Tod eures Propheten den Islam für sich beanspruchten, gegen die wie drücke ich es am besten aus? - mehr kosmopolitisch ausgerichteten Kräfte des Islam. Warum wurde die Omayaden-Dynastie derart gnadenlos ausgerottet? Bis auf einen einzigen Mann wurde jedes noch lebendige männliche Wesen getötet. Ich gebe zu, dass Abdurrahmans Flucht ein ausgeklügeltes Wunderwerk war. Er war der Inbegriff eines begabten politischen Führers und hat allerhand Tatkraft bewiesen, als er sich nach Spanien aufmachte. Nachdem er in Cordoba angekommen war und nichts mehr zu fürchten brauchte, rief ihn die Bevölkerung zum Kalifen aus. Aber im Grunde war es der Jubel der Soldaten, der den Ausschlag gegeben hatte. Weil sie Araber waren, hatten sie sich loyal verhalten. Sind wir diesbezüglich einer Meinung? Gut. Dann fahre ich fort.

Der Kampf um das Kalifat im arabischen Herzland spielte sich zwischen einer in Damaskus ansässigen arabischen Oligarchie ab, vertreten durch Omayaden und Abbasiden, die von Persern, Türken - einschließlich deiner Vorfahren, mein Freund -, Kurden, Kaukasiern, Aramäern, Armeniern und vielen anderen Völkern Rückenstärkung erhielten. Sie waren die neuen Konvertiten. Doch da sie eine stattliche Anzahl darstellten und die Omayaden sich hochmütig weigerten, ihre zahlenmäßige Überlegenheit anzuerkennen und sich die Macht im Interesse des Islam zu teilen, blieb nur eine Lösung: Man musste sie ausrotten. Dazu bedurfte es einer neuen gesetzlichen Grundlage, denn inzwischen hatte sich der Islam zu einer Weitreligion entwickelt. Die arabische Eitelkeit duldete diesbezüglich keinen Kompromiss.«

Onkel Mehmeds Nase krauste sich leicht, als er den Baron mit einem herablassenden Lächeln bedachte. »Aber ist es nicht interessant, dass das Kalifat von Cordoba unter dem Einfluss der eitlen und engstirnigen Araber in vielfacher Hinsicht fortschrittlicher war als deine kosmopolitischen Abbasiden? Die Omayaden in Spanien erwiesen sich als weitaus toleranter und weit weniger anfällig für den Unsinn, den die Geistlichen verbreiteten. In Bagdad wurden die andalusischen Philosophen fortwährend als Abtrünnige denunziert, und man hielt Gelehrte davon ab, sich der Lektüre ihrer Bücher zu widmen.«

»Wie wahr!«, antwortete der Baron. »Doch herrschten in Andalusien völlig andere Bedingungen. Die Omayaden traten dem Christentum direkt entgegen, sie kämpften zwischen den beiden Kulturen. Dafür brauchten sie ihre Philosophen, um neue Anhänger des Islam zu gewinnen, was sich nicht so ohne weiteres im Zeichen des Schwertes bewerkstelligen ließ. Die Sachlage verlangte nach intellektueller Überlegenheit. Wie du weißt, schlägt mein Herz für die andalusischen Denker. Ohne sie hätte sich die Renaissance in Europa vielleicht anders entwickelt. Doch man darf nicht aus dem Auge verlieren, dass jene Männer ihren brillanten Verstand nur entfalten durften, weil ihnen mit der katholischen Kirche ein intellektuell mächtiger Feind gegenüberstand. Als die Bischöfe erkannten, dass sich der Feind nicht durch Debatten bezwingen ließ, riefen sie zum Heiligen Krieg, und der Papst bescherte Europa die Inquisition. Das all beweist. dass sich neue Ideen am besten im Kampf gegen orthodoxe Kräfte entwickeln. Eine solche Konstellation verleiht Stärke und verbindet.

Die katholischen Gelehrten in Granada gingen umsichtig vor, als sie im fünfzehnten Jahrhundert die islamische Kultur einem Autodafé preisgaben. Medizinische Schriften und andere Lehrbücher, die sie für ihr eigenes Überleben benötigten, entrissen sie dem Feuer. Hat dich das, mein lieber langjähriger Gefährte, nun endlich überzeugt?«

Onkel Mehmed sah den Freund an und hob eine Augenbraue. Um diese Fähigkeit hatte ich ihn stets beneidet. Es sei eine Kunst, erklärte er mir, die man nicht erlernen könne.
»Es hat mich vielleicht nicht gerade völlig überzeugt, aber du hast mich zweifellos zum Nachdenken angeregt, Baron.«
»Es sind die kleinen Siege, die das Leben eines Menschen bereichern«, murmelte der Baron, als mein Vater, flankiert von Halil und Salman, den Raum betrat.
Dem Vater und seinen Söhnen folgten Hasan Baba und Selim, die offenbar vor der Bibliothek auf die Rückkehr meines Vaters gewartet hatten. Einer jahrelangen Gewohnheit folgend, hatte Hasan Baba die Haltung eines Gefolgsmannes eingenommen. Selim war solcherart Befangenheit fremd, und er kam erhobenen Hauptes herein. Als ich ihn sah, klopfte mein Herz rascher. Ich erwiderte sein Lächeln mit einem zärtlichen Blick, ehe ich mich beiläufig im Raum umsah, um herauszufinden, ob jemand etwas bemerkt hatte. Vater hatte seinen Stammplatz in jenem Sessel eingenommen, der dem Fenster am nächsten stand, und Petrossian trug einen großen Krug frisch gepressten Orangensaft herein. Der Baron und Mehmed sahen einander ungläubig an. Sollten sie tatsächlich den ganzen Abend ohne Alkohol auskommen? Ihre Sorge erwies sich jedoch als unbegründet. Petrossians Enkel brachte Champagner und Gläser, die ich noch nie gesehen hatte, und die Miene der beiden Freunde erhellte sich augenblicklich.

»Nun, Iskander«, sagte Mehmed, »weshalb hast du uns am heutigen Abend zusammengerufen? Welche Freuden erwarten uns?« S. 148-150

Lesezitate nach Tariq Ali - Die steinerne Frau



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Tariq Ali
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© 2002


© 21.1.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de