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OMNIA SUNT COMMUNIA
Luther Blissett - Q

talien spendiert dem Genre des historischen Romans einen außergewöhnlichen Beitrag: Ein (öffentlich unbekanntes) vierköpfiges Autorenteam aus Bologna wählte die Zeit der Reformation in Deutschland zum Thema seines Romans. Herausgekommen ist dabei ein historischer Thriller, der sich über vier Jahrzehnte von 1518-1555 zwischen zwei Gegenspielern entwickelt.

Lediglich einen Nebenschauplatz, aber quasi den Ausgangspunkt des Romans, markiert Martin Luther, indem er seine Thesen an die Kirche Wittenbergs nagelt.

In Folge zieht es viele junge Leute an die Wittenberger Universität, neben Philipp Melanchthon auch die damals ungefähr zwanzigjährige Hauptperson des Romans, die das Schicksal dazu auserkoren hat, an allen entscheidenden Abschnitten der Reformation und den anschließenden Bauernkriege beteiligt zu sein. Thomas Müntzer und sein historisch bitteres Ende in Frankenhausen erlebt der Mann mit den vielen Namen ebenso, wie die Verfolgung der Wiedertäufer in Strassburg.

Auch die Herrschaft des Narrenkönigs, jener letzte grandiose Versuch, den Fürsten, Papstanhängern und der Kirche die Macht abzunehmen und den Bauern und Städtern ihre Selbstbestimmung zu erringen, scheitert 1534 in Münster.

Es ist tragisch mitanzusehen, wie der Held des Buches, der immer wieder unter einem neuen Namen in die Geschichte eintaucht, zwar jedes Mal mit dem Leben davonkommt, aber wieder ein Stück mehr seiner Illusionen beraubt wird. Zumal er nicht weiß, dass seine Sache über Jahre hinweg von einem genialen, unbekannten Spitzel, der seinem Herrn, Kardinal Gianpetro Carafa, in umfangreicher Geheimpost ständig nach Rom berichtet, systematisch unterwandert wurde.

Technisch brillant verschränken die Autoren in sehr kurzen Kapiteln, Briefen, Berichten und Erzählungen den Fortgang der Geschichte. In Rückblenden erfährt der Leser Zug um Zug, worum es damals überhaupt gegangen ist. Und ebenso ergeht es dem Ich-Erzähler: Stück um Stück, wie die Schalen einer Zwiebel, entblättern sich ihm die Zusammenhänge. Auch die bittere Erkenntnis, dass es nicht um Freiheit, Selbstbestimmung und ein wahres Verhältnis zu Gott ging, sondern um die Erhaltung der Macht und insbesondere um den Schutz des Vermögens und der Geschäfte, bleibt ihm nicht erspart.

Es reißt ihn buchstäblich aus seiner Naivität heraus, als er erfährt, dass das Bankhaus Fugger aus Augsburg diesen Spion des Papstes mit einem unbegrenzten Kredit ausgestattet hatte, um seiner Sache zu schaden. Nicht die Reformation war das Gefährliche für Kirche und Kaiser, denn mit dem Bruder Martin aus Eisenach bzw. den protestantischen Fürsten konnten trefflich Abkommen geschlossen werden.

Nein, die Befreiung des Volkes war das Problem. Und hier standen die alten und die neuen Mächte, Papsttum, Kaisertum und Hochfinanz ebenso wie die Lutheraner zusammen, um Müntzers Wahlspruch "Omnia sunt communia" nach Kräften zu vereiteln, denn niemand hatte mehr als sie zu verlieren, einzig das Volk und die Bauern hatten die Chance zu gewinnen. Aber die Schläue der Mächtigen bewerkstelligte es, dass, als die Schwachen an den Schalthebeln der Macht saßen, sie sich durch Ungehobeltheit, Ungebildetheit, persönliche Bereicherung und Genusssucht korrumpierten und selbst disqualifizierten.

Ein historischer Roman, der nicht nur unterhält, sondern auch geschichtliche Zusammenhänge auf anspruchsvollem Leserniveau in neuem Licht zeigt.
© thomas haselberger


Luther Blissett - Q
Originaltitel: Q, © 1999
Übersetzt von Ulrich Hartmann

© 2002, München, Piper Verlag, 800 S., 22.90 € (HC)




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Brief nach Rom aus dem sachsischen Wittenberg an Gianpietro Carafa, Mitglied des theologischen Rats seiner Heiligkeit Leos X.,
vom 17. Mai 1518.

An den hochverehrten und hochwürdigsten Herrn, meinen allergnädigsten Gebieter Giovanni Pietro Carafa, Mitglied des theologischen Rats Seiner Heiligkeit Leos X. in Rom.

Hochverehrter und hochwürdigster Herr, mein allergnädigster Gebieter, der treueste Diener Eurer Gnaden schickt sich an, Bericht zu erstatten, was in diesem entlegenen Landstrich geschieht, der seit nunmehr einem Jahr zum Herd allen Streits geworden zu sein scheint.

Seit der Augustinermönch Martin Luther vor acht Monaten seine berüchtigten Thesen an das Portal der Schloßkirche geschlagen hat, ist der Name Wittenberg landauf, landab in aller Munde. Aus den angrenzenden Staaten strömen junge Studenten in diese Stadt, um von dem Prediger selbst jene unglaublichen Thesen zu vernehmen.

Vor allem die Predigten gegen den Ablaßhandel haben offen-kundig den größten Erfolg bei diesen jungen, für neue Gedanken aufgeschlossenen Menschen. Was bis gestern allgemeine und unbestrittene Praxis war, der Erlaß der Sünden gegen eine fromme Gabe an die Kirche, scheint heute von allen kritisiert zu werden, als wäre es ein unaussprechlicher Skandal.

Dieser so geartete und so rasch entstandene Ruhm hat Luther überheblich und anmaßend gemacht, schon fühlt er sich, als hätte er einen überirdischen Auftrag, was ihn dazu verleitet, sich noch mehr zu erkühnen, sich noch weiter vorzuwagen. Und in der Tat hat er gestern, als er wie jeden Sonntag von der Kanzel über das Evangelium des Tages predigte (nämlich Johannes 16,2: "Sie werden euch in den Bann tun"), dem "Skandal" des Ablaßhandels eine weitere, meines Erachtens weitaus gefährlichere These angefügt.

Luther hat behauptet, man müsse die Folgen eines ungerechten Banns nicht übermäßig fürchten, da er nur die äußere Gemeinschaft mit der Kirche betreffe und nicht die innere. Bei letzterer gehe es ausschließlich um das Band Gottes mit dem Gläubigen, das kein Mensch für gelöst erklären könne, selbst der Papst nicht. Also vermöge ein ungerechter Bann der Seele keinen Schaden zuzufügen, und wenn er mit kindlicher Ergebenheit gegenüber der Kirche ertragen werde, könne aus ihm auch ein wertvolles Verdienst erwachsen. Wenn also einer zu Unrecht gebannt werde, solle er nicht mit Worten und Taten den Grund, weswegen er gebannt wurde, verleugnen, sondern den Bann demütig tragen, selbst wenn er im Bann sterben sollte und nicht in geweihter Erde bestattet werde, weil diese Dinge unvergleichlich geringer seien als Wahrheit und Gerechtigkeit.

Und er schloß mit diesen Worten: "Selig aber und gesegnet ist, wer in einem ungerechten Bann stirbt! Weil er auch noch mit einer so großen Geißel für die Wahrheit geschlagen worden ist, die er nicht verlassen hat, wird er die Krone des ewigen Lebens empfangen."

Aufgrund meines Wunsches, Euch zu dienen, vereint mit der Dankbarkeit für das mir erwiesene Vertrauen, erkühne ich mich, meinen Eindruck hinsichtlich des oben Dargelegten zu schildern. Dem demütigen Beobachter Eurer Gnaden scheint deutlich, daß Luther den Geruch seines eigenen Banns in der Luft wittert wie der Fuchs den Geruch der Spürhunde. Er schärft die Waffen seiner Lehre und sucht Verbündete für die nächste Zukunft. Im besonderen, so glaube ich, sucht er die Unterstützung seines Herrn, des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, der seine eigene Haltung gegenüber Bruder Martin noch nicht öffentlich kundgetan hat. Nicht umsonst wird er der Weise genannt. Der Herr von Sachsen bedient sich weiterhin des geschickten Mittlers Spalatin, seines Bibliothekars und Beraters bei Hofe, um die Absichten des Mönchs zu erkunden. Welche Art treuloser und verschlagener Mensch dieser Spalatin ist, davon berichtete ich bereits kurz in meinem letzten Brief.

Euer Gnaden werden besser als Euer Diener ermessen können, wie verderblich die von Luther vorgebrachten Thesen sind: Er möchte dem Heiligen Stuhl sein stärkstes Geschütz rauben, die Waffe des Banns. Gleichermaßen offenkundig ist, daß Luther niemals wagen wird, seine These schriftlich niederzulegen, ist er sich doch ihrer Ungeheuerlichkeit bewußt und der Gefahr, die davon für ihn selbst ausgehen könnte. Ich habe es also für gelegen erachtet, es von meiner Seite her zu tun, damit Euer Gnaden zur rechten Zeit alle Vorsichtsmaßnahmen treffen können, die Euer Gnaden für notwendig erachten, um diesem teuflischen Mönch Einhalt zu gebieten.

Ich küsse meinem hochverehrten und hochwürdigsten Herrn die Hand und anempfehle mich weiter Eurem Wohlwollen.
Wittenberg, am 17. Mai 1518
Der getreue Beobachter Eurer Gnaden
Q


1. KAPITEL

Frankenhausen, Thüringen,
15. Mai 1525. Nachmittag.

Beinahe blindlings.
Tun, was ich tun muß.
Schreie in den Ohren, in denen noch der Donner der Kanonen dröhnt. Geronnenes Blut und Schweiß verschließen mir die Kehle, ein Hustenanfall zerreißt mich.

Die Blicke der Fliehenden: Entsetzen. Verbundene Köpfe, zerquetschte Glieder... Immer wieder sehe ich mich um: Elias ist hinter mir. Er bahnt sich einen Weg durch die riesige Menge. Trägt den reglosen Magister Thomas auf den Schultern. Wo ist der allgegenwärtige Gott? Seine Herde wird hingemetzelt.
Tun, was ich tun muß. Die Briefsäcke festgezurrt. Nicht stehenbleiben. Das Schwert schlägt mir an die Seite.
Elias immer hinter mir.
Eine wirre Gestalt kommt auf mich zugerannt. Das Gesicht halb unter Verbänden, offenes Fleisch. Eine Frau. Sie erkennt uns. Tun, was ich tun muß: Der Magister darf nicht entdeckt werden. Ich packe sie: nicht sprechen. Schreie hinter meinem Rücken:
"Landsknechte! Landsknechte!"
Ich stoße sie fort; weg, sich in Sicherheit bringen. Eine Gasse zur Rechten. Im Laufschritt, Elias hinter mir, Hals über Kopf. Tun, was ich tun muß: Haustüren. Die erste, die zweite, die dritte, sie geht auf. Drinnen.

Wir schließen die Tür hinter uns. Der Lärm gedämpft. Durch ein Fenster fällt mattes Licht. Die Alte sitzt in einer Ecke hinten im Zimmer, auf einem halbzerfetzten Strohstuhl. Ein paar einfache Dinge: eine schadhafte Bank, ein Tisch, glühende Holzscheite, die verraten, daß in dem rußgeschwärzten Kamin noch vor kurzem ein Feuer gebrannt hat.
Ich trete zu ihr: "Schwester, wir bringen einen Verwundeten. Er braucht ein Bett und Wasser, im Namen Gottes ...
Elias ist in der Tür stehengeblieben, er füllt sie ganz aus. Immer noch den Magister auf seinen Schultern.
"Nur für ein paar Stunden, Schwester."
Ihre Augen sind wäßrig und blicken ins Leere. Ihr Kopf wackelt. Noch immer ein Pfeifen in meinen Ohren. Die Stimme von Elias: "Was sagt sie?"
Ich gehe näher zu ihr hin. Ein leiser Singsang im Getöse der Welt. Ich erfasse die Worte nicht. Die Alte weiß nicht einmal, daß wir da sind.

Tun, was ich tun muß. Keine Zeit verlieren. Eine Treppe führt nach oben, ich gebe Elias ein Zeichen, wir steigen hoch, endlich ein Bett, um Magister Thomas hinzulegen. Elias wischt sich den Schweiß aus den Augen.
Er sieht mich an: "Wir müssen Jakob und Matthias finden." Ich fasse nach meinem Schwert und schicke mich an loszulaufen.
"Nein, ich gehe, du bleibst beim Magister."
Ich habe keine Zeit zu antworten, schon steigt er die Treppe hinunter. Magister Thomas rührt sich nicht, starrt zur Decke. Der leere Blick, kaum ein Zucken der Wimpern, fast, als würde er nicht atmen.

Ich sehe nach draußen: eine Häuserzeile vor dem Fenster. Es geht auf die Straße hinaus, zu hoch, um zu springen. Wir sind im ersten Stock, wenigstens gibt es einen Dachboden. Ich betrachte die Decke, erkenne mit Mühe die Ritzen einer Speicherluke. Auf dem Boden ist eine Leiter. Von Würmern zerfressen, doch sie hält. Ich schiebe mich auf allen vieren hinein, der Speicher ist sehr niedrig, die Dielen mit Stroh bedeckt. Die Balken knarren bei jeder Bewegung. Kein Fenster, ein paar Lichtstrahlen dringen von oben durch die Balken des Spitzbodens.

Noch mehr Balken, Stroh. Ich muß mich fast flach ausstrecken. Eine Öffnung geht auf die Dächer hinaus: Sie fallen steil ab. Unmöglich für Magister Thomas. Ich kehre zurück zu ihm. Sein Lippen sind trocken, seine Stirn glüht. Ich suche Wasser. Unten auf dem Tisch liegen Nüsse, steht ein Krug. Der Singsang geht unaufhörlich weiter. Als ich die Lippen des Meisters mit dem Wasser benetze, fallen mir die Briefsäcke ins Auge: besser, sie zu verstecken.

Ich sitze auf dem Schemel. Meine Beine schmerzen. Ich stütze den Kopf in die Hände, nur einen Augenblick, dann wird aus dem Sausen ein ohrenbetäubendes Getöse: Schreie, Lärm von Pferden, Waffengeklirr. Diese Bastarde im Fürstensold dringen in die Stadt ein. Ich eile zum Fenster. Zur Rechten, auf der Hauptstraße: Reiter, die Lanzen stoßbereit, sie durchkämmen die Straße. Wüten gegen alles, was sich regt.

Auf der anderen Seite: Elias taucht in der Gasse auf Sieht die Pferde, bleibt stehen. Fußsoldaten erscheinen hinter ihm. Es gibt kein Entrinnen. Er sieht sich um: Wo ist der allgegenwärtige Gott?
Sie zielen auf ihn.
Er hebt den Blick. Sieht mich.
Tut, was er tun muß. Er zückt das Schwert, stürzt sich schreiend auf die Fußsoldaten. Einen hat er aufgeschlitzt, einen anderen mit einem Kopfstoß zu Boden geworfen. Sie fallen zu dritt über ihn her. Er spürt die Hiebe nicht, packt das Heft des Schwertes mit beiden Händen, schlägt weiter um sich.
Sie weichen aus.
Von hinten: ein langsamer, schwerer Galopp, der Reiter ist in seinem Rücken, er greift an. Der Schlag wirft Elias um. Es ist aus.
Nein, er steht wieder auf: sein Gesicht eine blutige, wütende Maske. Das Schwert noch immer in der Hand. Niemand nähert sich ihm. Ich höre ihn keuchen. Ein heftiger Ruck am Zügel, das Pferd macht kehrt. Das Beil hebt sich. Wieder im Galopp. Elias steht mit breiten Beinen da, zwei Wurzeln. Arme und Kopf zum Himmel, er läßt das Schwert fallen.
Der letzte Schlag: "Omnia sunt communia, ihr Hundesöhne!" Sein Kopf fliegt in den Staub.
S. 12-22

Lesezitate nach Luther Blissett - Q



© 1.9.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de