Die Kunst des Lokomotivführens
"Steven Carroll - Die Kunst des Lokomotivführens"

em kleinen Münchner Verlag liebeskind ist schon mit dem vielfach prämierten Krimi "1974" von David Peace eine Überraschung gelungen. Nun wartet er erneut mit einer großen Entdeckung auf: er präsentiert den Lesern den australischen Autor Steven Carroll, geboren 1949, mit seinem wunderbaren Roman "Die Kunst des Lokomotivführens".

Bei diesem Buch stimmt einfach alles. Allein der Titel ist schon richtig gut. Schauplatz der Handlung ist eine schmale Straße in South Melbourne in den 50er Jahren. Alle Nachbarn sind zur Verlobungsfeier von George Bedsers Tochter eingeladen. George lebt seit vielen Jahren von seiner Frau getrennt und nachdem er auch nicht so viele Freunde und Verwandte hat, lädt er seine Nachbarn zum Feiern ein.

So gehen Rita und ihr Mann Vic mit ihrem Sohn Michael zur abendlichen Party. Langsam spazieren sie die Straße entlang und jeder hängt seinen Gedanken nach. Rita ist mit Vic nicht besonders glücklich, denn er trinkt viel zu viel. Sein größter Wunsch ist es hingegen, schon bald in den großen Zügen im Führerhaus zu sitzen. Gelernt hat er die Kunst des Lokführens bei Paddy Ryan, dem nachgesagt wird, dass er bei seinen Fahrten geradezu die Schienen glättet, mit der Lokomotive beinahe verschmilzt und darum so gut wie keinen Blick auf die Instrumente werfen muss. Doch Vic leidet unter epileptischen Anfällen und die Kombination seiner Tabletten mit Alkohol ist eine tückische Mischung.

Während Vics Familie sich noch auf dem Weg zu den Bedsers befindet, bahnt sich im Zug von Paddy Ryan, der unterwegs nach Sidney ist, ein Unglück ahnt. Wie kann es geschehen, dass der begnadete Lokführer mehrere Haltesignale hintereinander überfährt?

So sehr sich der kleine Junge Michael auch wünscht, dass dieser Abend gut verläuft, die Vorzeichen stehen nicht günstig. "Am Anfang des Abends war alles so, wie es sein sollte. Sie sind zusammen zur Party gegangen wie all die anderen Familien, und als sie so die Straße entlanggingen, dachte Michael, dass es jeden Abend so sein sollte. Aber so sind die Abende nie. Immer geht irgend etwas schief, und am Ende sind sie auf der Straße und stapfen durch die Dunkelheit nach Hause."

Stevens Carroll ist ein begnadeter Schriftsteller. Immer wieder wechselt er die Erzählperspektive und erzeugt so eine ungeheure Spannung. Gerade schildert er noch, wie die Familie zur Party unterwegs ist, dann wechselt er direkt in den Kopf zu Rita und lauscht ihrem inneren Monolog über die Unzufriedenheit mit ihrem Ehemann, ihrem Job und ihrem ganzen Leben. Blitzschnell schwenkt er zu Vic, zeigt, wie dieser im Laufen zurück fällt, langsamer wird und greift dessen Gedanken zum perfekten Bedienen einer Lok auf.

Neben dem Motiv der Bewegung - zum einen stellt er die rasante Zugfahrt dem gemächlichen Schlendern eines Spaziergangs gegenüber - spielt auch immer die Sehnsucht nach einem anderen möglichen Leben eine große Rolle.

"Manchmal geschieht so etwas. Man steht herum, macht das, was man immer so macht, und plötzlich spaziert ein vollkommen anderes Leben herein. Nein, kein anderes Leben. Der Ausblick auf ein anderes Leben. Das bringt einen ganz durcheinander." "Die Kunst des Lokomotivführens" gehört zu den kleinen unscheinbaren Büchern, die voller Weisheit stecken und die es am Ende auf einen Ehrenplatz im Regal schaffen. Hoffentlich können wir bald mehr von Steven Carroll lesen.
manuela haselberger

Steven Carroll -    Die Kunst des Lokomotivführens     Originaltitel: »The Art of the Engine Driver«, © 2001     Übersetzt von Peter Torberg     © 2006, München, liebeskind, 269 S., 19.80 € (HC)               gebundenes Buch
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