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Mit dreiunddreißig Jahren haben sie mich und Jesus Christus ans Kreuz geschlagen.
Er ist nach drei Tagen wieder auferstanden.
Ich muss sterben. Nach und nach.
Meinem Gefühl nach stimmte da irgendwas nicht.
"Oh!", sagte der Doktor. "Das Kreatinin ist bei acht Komma drei."
Kreatinin, erklärte er mir, ist ein Stoff, den die Nieren abbauen müssen. Wenn man viel davon im Körper findet, heißt das, die Nieren verabschieden sich langsam. Normal ist höchstens eins Komma zwei.
"Aber mir tut nichts weh", sagte ich.
"Das ist bei jedem anders", erklärte er mir. "Der eine liegt schon bei vier im Koma, der andere bei sieben, acht oder erst zehn."
Ich hörte die Stones und hatte nicht das Gefühl, dass ich was Besseres zu tun hätte.
S. 5


Lesezitat nach Rocco Fortunato - Nichts als leben


Nieren auf Urlaub
Rocco Fortunato - Nichts als leben

er Italiener Rocco Fortunato führt mit seinen dreiunddreißig Jahren ein ziemlich unbeschwertes Leben. Seine Freundin und die Musik, die er mit seiner Band macht, reichen ihm völlig. Alles andere wird weit weg geschoben. Bis eines Tages sein Arzt ihm mitteilt, dass seine Nieren nicht mehr richtig arbeiten. "Na ja, ein Arzt braucht fünf Minuten, um dir das Ganze zu erklären. Du brauchst ein bisschen länger, um zu kapieren, dass dein Leben von da an vollkommen anders ist."

In den langen Stunden der Dialyse, dreimal die Woche, über jeweils vier Stunden, hat Rocco eine Menge Zeit über seine Situation nachzudenken. Seine Gedanken beherrschen nun Kreatinin-Werte, die richtigen Phosphor-, Kalium- und Magnesium- Mengen in seiner Nahrung. Der Alptraum Osteoporose ist allgegenwärtig. Zaghaft tastet er sich an eine mögliche Transplantation heran. "Kurz und schlicht, es ging darum die Regeln dieses neuen Lebens zu lernen. Man lernt sie schnell, wie alles was unausweichlich ist."

In einem lockeren, ironischen und vor allem sehr ehrlichen Ton erzählt Rocco Fortunato den Verlauf seiner Krankheit. Er erspart seinen Lesern nicht die Ängste, Schmerzen und quälende Zeit im Krankenhaus während der Dialyse und nach der Transplantation. Der zermürbende Umgang mit Ärzten, die ihren Patienten nicht ernst nehmen und viel zu spät eine Ansammlung von Wasser in seinem Bauch registrieren.

"Das ist der Unterschied zu den anderen Transplantationen: Ohne Nieren krepierst du nicht. Du wirst nur in das beschissene Leben zurückgejagt, das du vorher geführt hast, an den Ausgangspunkt, für den Rest der Tage und der Jahre, die noch kommen, während deine Kräfte nachlassen und die Hoffnung versiegt. Du bist in jedem Fall angeschmiert, nur dass dir in diesem Fall dein ganzes Leben bleibt, um darüber nachzudenken."

Es dauert lange, bis der Musiker wieder selbständig und nicht mehr auf ständige Pflege angewiesen ist. Dass er während seiner Krankheit auch noch von seiner Freundin verlassen wurde und eine neue Beziehung mit einer verheirateten Frau eingeht, dient ebenfalls nicht unmittelbar seiner Genesung. Doch es kommt die Zeit, da kann er wieder mit Freunden auf Tour gehen, am Meer sitzen und der Musik der Stones lauschen. Dass es neue Kumpels aus dem Krankenhaus sind, und Rocco einen Stock braucht, weil sein Bein nicht mehr ganz in Ordnung ist - Hauptsache sie leben.

Im Augenblick arbeitet Rocco Fortunato am Drehbuch seines Erstlings "Nichts als leben", der in Italien ein sensationeller Erfolg war.
© manuela haselberger


Rocco Fortunato - Nichts als leben
Originaltitel: I reni di Mick Jagger, 1999
Übersetzt von Ulrich Hartmann
2001, München, Goldmann Verlag, 220 S., 19 €

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Es ist, als wäre da eine Truppe kleiner Männchen in dir, die alle in die Pedale treten, sagte er.
Das gefiel mir. Ich stellte mir kleine Japaner in Overalls vor, die sich eifrig für die Firma abstrampelten. Ab und zu fiel einer aus. Und die Übriggebliebenen mussten auch für die anderen radeln. Aber irgendwann war auch der letzte kleine Japaner drauf und dran zusammenzubrechen. Man wusste nicht, wie lange du dauern konnte. Und bis zuletzt merkte man nichts. Bis zum heftigen, abrupten Zusammenbruch. Daher kamen die meisten direkt in die Notaufnahme. Ja klar, nachher verstand man die Müdigkeit, die einen manchmal plagte - ein bisschen oft in letzter Zeit -, oder die geschwollene Zunge und den schlechten Atem, den man seit einer Weile hatte, dass man immerzu gurgeln wollte. Dann eines Tages geht's einem plötzlich sauschlecht. Also nichts wie ins Krankenhaus, du denkst, du hast dir den Magen verdorben, irgendwas Schlechtes gegessen, getrunken, geraucht... Du hast keine Ahnung, was Dialyse ist, und genauso wenig, wozu die Nieren gut sind! Na ja, ein Arzt braucht fünf Minuten, um dir das Ganze zu erklären. Du brauchst ein bisschen länger, um zu kapieren, dass dein Leben von da an vollkommen anders ist.S. 12

Wir müssen mit der Untersuchung für die Transplantations-Warteliste anfangen. Deshalb soll ich, wenn ich nachher fertig bin, rüber in die Kardiologie, um ein EKG machen zu lassen und dann eine Osteodensitometrie - das kenne ich nicht. Das ist die Knochendichtemessung, erklärt mir der Doktor. Auch eine Sache, die passiert, wenn die Nieren in Urlaub gehen:
Das Kalzium bleibt nicht mehr in den Knochen, und auf Dauer gibt es Osteoporose. (Ah!)

Inzwischen prustet Farini, dass man meint, einen Dokumentarfilm über die Seelöwen auf Ross Island zu sehen.

Die Oberschwester ist eine winzige dunkle Frau, unheimlich quirlig. So klein, dass man denkt, man muss sie wie Trockenpilze eine Nacht lang einweichen, damit sie am nächsten Morgen eine normale Größe hat und du dich über sie hermachen kannst, ohne zu riskieren, wegen Verführung Minderjähriger angeklagt zu werden. Sie kommt und gibt mir zwei transparente Behälter - Schätzchen -, der größere ist für Urin, in den kleineren musst du spucken. Ich habe das deutliche Gefühl, dass zwischen uns nie was sein wird. Wie kann eine Frau sich in dich verlieben, wenn das Erste, was du ihr in die Hand drückst, ein Becher Pipi ist? Sie geht, und der Arzt steckt mir die Nadeln in den Arm. Eine schiebt er mir weit oben rein, über dem Bizeps, nicht neben die andere, am Unterarm, wie er es normalerweise tut. Angenehme Überraschung: Es tut weniger weh! Das ist, weil man um so weniger schmerzempfindlich ist, je weiter man sich von der Hand entfernt, erklärt er mir. Die Nervenenden, sagt er, werden weiter oben immer weniger. S. 43

Sie hatte geheiratet, Barbara. Einen reichen Mann. Das war der Bus, den sie genommen hatte. Auch sie war müde, auch für sie war die einzige Richtung, die sie kannte, die, aus der sie gekommen war. Wir zögerten es lange raus, wie es unser Stil war, doch zum Schluss trafen wir uns. Und machten Liebe. Das letzte Mal, dass wir es so gemacht hatten, war sieben Jahre und ein halbes Dutzend Frauen her. Eine Obsession wird nicht geheilt. Man braucht eine andere, die noch gewaltiger, noch verheerender ist. Vielleicht geht es nur so.

Ich sagte ihr, dass ich sie liebte. Ich sagte ihr, dass ich nie damit aufgehört hatte, und presste sie an mich, als dürfte es nun nie mehr enden, als hätten wir die Lektion zusammen gelernt, wenn auch weit voneinander entfernt. In ihr spürte ich mich wieder als einer, der Hunger hat und isst, der Durst hat und trinkt.

"Erkennst du mich wieder?", flüsterte ich ihr zu.
Sie schloss die Augen und klammerte sich noch fester an mich.
Ich verließ Tania.S. 67

... keine Diabetes wie Iolanda, keinen Wanst wie lbmno, keine leeren Knochen wie Maria, keine Anämie wie Celestini, kein Herz, das im Akkord schlägt, wie Signor Umberto, keinen künstlichen Darmausgang wie Sabbatini, Gott hab ihn selig, kein brejiges Hirn wie Vinaccia, keinen schlappen Pimmel wie der Unkoffizier und keine unmögliche Blutgruppe wie Spinelli. Ich war gesund. Nur meine Nieren funktionierten nicht. Ich strotzte vor Gesundheit. Aber klar! Ich verputzte zweihundert Gramm Pasta am Tag, verschlang Steaks und vögelte mit einer tollen Frau - ich hatte eine bekackte Arbeit, okay, aber immerhin doch eine Arbeit -, ich hatte wieder angefangen, an der Uni Prüfungen zu machen, ab und zu griff ich mir meine Gitarre und sang und spielte, dass die Fetzen flogen, ich war schon an Ostern von oben bis unten schokoladenbraun - etwas ins Grünliche tendierend allerdings -, aber jedenfalls lebte ich, verdammt noch mal, ich war gesund und munter! Okay, ich pinkelte nur ein paar Tröpfchen am Tag, aber ich kackte regelmäßig, da konnte man die Uhr nach stellen. Ich schaltete das Radio ein. Sie spielten das Stück aus Quadrophenia, als er alles verloren hat, Frau, Arbeit, Freunde, und mit schwarzumrandeten Augen vom Zugklo kommt, völlig fertig von den Amphetaminen, mit Bläsern und einem Piano, dass sich mir jedes Mal alle Armhärchen aufstellen und ich fühle, wie es mich in den Fingern juckt, Luftklavier zu spielen (ich war immer ein Pianist, gefangen im Körper eines Gitarristen)... Grandios! Ich stellte mich vor den Spiegel und begann zwischen Klo und Waschbecken zu tanzen. S. /"'' Dieser ganze Aufwand, der Schmerz, die Angst, die Schläuche und die Katheter und die Pissebeutel und die wunden Stellen am Hintern, weil man sich nicht bewegen konnte, und so weiter und so fort.... für nichts! Dann dachte ich an Fidel. Wenn das Teil bei ihm nicht funktionierte, würde er geradewegs im Jenseits landen. Das ist der große Unterschied zu den anderen Transplantationen: Ohne Nieren krepierst du nicht. Du wirst nur in das beschissene Leben zurückgejagt, das du vorher geführt hast, an den Ausgangspunkt, für den Rest der Tage und der Jahre, die noch kommen, während deine Kräfte nachlassen und die Hoffnung versiegt. Du bist in jedem Fall angeschmiert, nur dass dir in diesem Fall dein ganzes Leben bleibt, um darüber nachzudenken. Wovon mir keiner was erzählt hatte, war das danach. Den Schmerz der Wunde, den hatte ich mir noch vorstellen können, aber niemand hatte mir etwas von der Angst gesagt, in den Büchern kommt sie nicht vor. Über die Angst wusste ich nichts. S. 113

Das gelbe Flurlicht drang durch die offene Tür und brannte mir in den Augen, sie vergaßen immer, es auszumachen. Ich versuchte, mich mit meinen zitternden Händen zu schützen. Ich zitterte, verdammt noch mal! Ich zitterte wie ein elender Wackelpudding.

Der Doktor kam, ich sagte ihm ebenfalls, dass ich keine Luft bekam. Er maß den Blutdruck. Ziemlich hoch. Er sagte der Krankenschwester, sie solle mir zwanzig Tropfen von irgendwas geben und Bentelan spritzen. Es sei nur eine Atemkrise, sagte er, eine Nebenwirkung von Cycl~ sporin, COrtison und all der Scheiße, mit der sie das Immunsystem meines Körpers bombardierten. "Versuchen Sie jetzt zu schlafen."

Ich sah ihn an. Er war jünger als ich. Nach seiner Schicht wurde er nach Hause gehen. Er schien nicht verheiratet zu sein. Vielleicht lebte er noch bei seinen Eltern. S. 122

Mein Bauch war nur noch halb so dick, nach der Kamera im Nabel und so weiter, doch er sah immer noch aus, als wäre ich im dritten Monat. Aber er war in Ordnung. Wenn ich jetzt zu Ärzten ging, eierte ich nicht mehr lange herum. Die Wunde tat mir weh? Hier! Ich ließ direkt die Hosen runter und knallte ihnen die Wunde ins Gesicht: Wirf mal'n Blick drauf, Doc, der liebe Gott wird's dir vergelten. Elegant war das nicht. Kein bisschen. Aber Dank eines solchen Benehmens entging ich weiteren Problemen, Typ vergessene Fäden knapp vor der Infektion, Varikozelen, Hydrozelen, Zysten, Zystitis... Schließlich war ich ja verrückt! Wenn ich mir vorstelle, dass jemand mitgekriegt hätte, was für ein Theater ich morgens vor dem Spiegel aufführte... Aber abgesehen von den Kontrolluntersuchungen im Krankenhaus und der Planung meiner Abschlussarbeit hatte ich nicht viel zu tun. Denken. Ich betrachtete die Hügel, hinter denen die Sonne unterging, wo das Meer war, und ich fragte mich, warum ich hier allein sein musste, ohne sie. S. 160

Tania durfte sich eine aussuchen - zuerst hatte sie absoluten Stil bewiesen und abgelehnt - und entschied sich erst nach vielen Entschuldigungen, Schmeicheleien und diversen schönen Worten für ein grässliches Täschchen, das angeblich aus Straußenleder war, aber mich bringt keiner davon ab, dass der Kadaver die Pocken oder eine besonders bösartige Form von Akne haue. Jedenfalls hatte ich viele gute Gründe, Tonino bei einer Verabredung niemals die Initiative zu überlassen.S. 198

Es gibt wenig Ärzte, die einem was erklären, eine Menge erfährt man in Wartezimmern, von Leuten, die das Gleiche durchgemacht haben.

Während ich zusammen mit Michele darauf wartete, dass Farini mit seiner Show beim Professor fertig wurde, unterhielt ich mich mit einem Typ, so einem schmächtigen Kerl mit einem verschlagenen Gesicht. Er hinkte. Schlimmer als ich.

"Träumst du davon zu rennen, nachts?" fragte er mich.
"Nein", antwortete ich.
"Heute Nacht träumst du davon, bestimmt", sagte er. "Ich träume, dass ich renne, um den Bus zu erwischen. Er steht da mit offenen Türen an der Haltestelle, will gerade wieder abfahren, achtet nicht auf mich, doch ich fange an zu rennen .... Es wirkt echt. Nicht wie ein Traum", sagte er.
"Und schaffst du es?"
Hinky lächelte ... 5,.

Lesezitate nach Rocco Fortunato - Nichts als leben



© 14.9.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de