Nein, so ist sie nicht!, dachte Robert. So ganz bestimmt nicht. Nein, so kann eine Frau, die mit dir im Bett war, nicht lügen! So nicht! So bestimmt nicht.
Er wählte ihre Nummer. Zum achten Mal. Das Freizeichen ertönte. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Warum, um Gottes willen, geht sie nicht ran? Es klingelte weiter. Endlos. Sinnlos. Ist sie vielleicht ins Bad gegangen? Oder unmittelbar nach dem Anruf aus dem Haus? Zu dem vielleicht, mit dem sie so lange gequatscht hat. Sich verabredet hat? Und warum hat sie keinen Anrufbeantworter an?
Er versuchte es wieder. Wieder ohne Erfolg. Er ging eine halbe Stunde ins Café, las zerstreut einige Zeitungen, dann stürzte er zurück ins Büro.
Er wählte ihre Nummer. Das Freizeichen, einmal, zweimal, dreimal. Dann hob sie ab.
"Wo warst du?", herrschte er sie an.
"Du sollst mich nicht anrufen", sagte sie.
"Ich muss dich sehen", sagte er.
"Das geht nicht", sagte sie
"Ich komme zu dir", sagte er
"Nein", sagte sie. Und dann wiederholte sie: "Das geht nicht." Und dann: "Warum hast du dich nicht gemeldet?"
Er wollte ehrlich sein und deshalb sagte er: "Weil ich Angst hatte."
"Ich habe auch Angst", sagte sie. "Schreckliche Angst."
Später sollte er an dieses Gespräch denken: Zum ersten Mal hätte er merken können, dass sie miteinander in einem unentwirrbaren Gemisch aus Lüge und Wahrheit sprachen. Komm nicht, hieß: Komm! Aber es hieß genauso gut: Komm nicht! Ruf mich nicht an, hieß dasselbe wie: Warum hast du mich nicht angerufen?
Angst bedeutete Lust und Lust Angst.
Ihre Antworten, wenn sie einander mit der Wahrheit belogen und durch die Lüge die Wahrheit sagten, waren taktische Antworten, durch Verlustängste diktiert. Wenn sie einander hinhielten, dann taten sie es, um sich nicht zu verlieren. Aber es gab auch strategische Manöver, mit denen sie versuchten, einander auszuweichen, sich und dem anderen zu entkommen: Sie wollten dahin, wohin sie nicht wollten. Sie hassten einander von dem Moment an, in dem sie spürten, dass sie einander liebten. Es machte sie verrückt, dass sie voneinander durch ihre Worte und durch ihr Schweigen nichts und alles erfuhren.
Er jedenfalls versuchte immer, "zwischen ihre Zeilen" zu hören. Und so wusste er schon bei dieser ersten Verabredung, dass sie es ehrlich meinte, wenn sie ihn bat, nicht zu ihr zu kommen. Und dass er ihr keinen größeren Tort antun könnte, als ihr zu glauben. S. 76-77
- eventuell - am späten Abend ein heißblütiger Harald mit hundertachtzig durch die Nacht bretterte, von Frankfurt nach Hamburg, schnelle fünfhundert Kilometer, um dann wie ein Teufel auf seiner, auf Roberts Katta herumzureiten. Dass er vorher "dran" war, tröstete ihn nicht. Und auch nicht, dass sie sich wahrscheinlich tief schlafend stellen würde. Das wäre sie ihm schuldig, schließlich und endlich und letztendlich! Aber, wer weiß! Sinnlich und heftig, wie er sie kennen gelernt hatte, das war sie doch nur bei ihm. War sie das nur bei ihm? Seine Liebe, die ihn doch so veredelte, zum höheren Menschen machte, wie er, in sentimentalen Stunden, am Altar seiner Leidenschaft knieend, dachte. Liebe ist ein ganz schön egoistischer, Hass erfüllter, rigoroser Zustand, besitzen will man, allein besitzen, allein!, dachte er. Nicht schön! Gar nicht schön! Ihm fiel der Satz von Max Frisch ein, Eifersucht, das sei die Angst vor dem Vergleich. Ich und Angst, dachte er. Ich doch nicht!
Und als ob sie seine Gedanken erraten oder zumindest intuitiv verfolgt hätte, sagte sie: "Und du? Was wirst du heute Nacht machen, wenn du unentschuldigt zu Hause ankommst? Schwänzt unentschuldigt die Ehe! Tätige Reue üben? Oder so was Ähnliches!"
"Ich? Ich bin doch schon seit über sieben Jahren verheiratet."
"Was hat denn das damit zu tun?"
Er zögerte, dann sagte er: "Überhaupt nichts!" Und dann, abrupt: "Eine unerträgliche Situation ist das ... die zwischen uns."
"Stimmt", sagte sie. Und nach einer Pause: "Aber so unerträglich auch wieder nicht!"
Als sie die zweite Flasche Rotwein tranken, fragte sie:
"Und deine Frau? Die trinkt wirklich nie."
"Nie", sagte er. Und dann erzählte er ihr die Geschichte von seinem Weinkeller. Er habe sich in den ersten Jahren seiner Ehe, die Kinder waren noch klein, einen Weinkeller zugelegt. Gut gelagerte Rotweine und Weißweine, dazu zwei
Getränke-Kühlschränke, für Champagner und Sekt der eine, für Weißwein der andere. Im Keller hätten auch die übrigen Getränkekisten gestanden. Apfelsaft, Mineralwasser, Cola, Sprite, Fanta, Orangensaft, alles, was Kinder so gerne und maßlos trinken.
Er habe sich tagtäglich, manchmal auch zweimal, eine Flasche Wein geholt, mittags meist einen gut gekühlten Sekt oder Champagner, abends Rotwein oder Weißwein. Auch dann, wenn sie auszugehen vorhatten. Oder eingeladen waren. Dann trank er, vor dem Weggehen, noch ein, zwei Gläser, während er auf seine Frau wartete, die (jedenfalls in seinen Augen) endlos brauchte, um sich fertig zu machen. Am Ende hörte er immer den Föhn, dann wusste er, dass es bald so weit sein würde.
"Es ist wie bei dir", sagte er zu Katta. "Soweit ich das beurteilen kann!"
Ihr Gesicht verschattete sich kurz. Offenbar wollte sie in keinen Vergleich mit seiner Frau gezerrt werden, sagte kurz "Danke!", und hob das Glas. "Also sagte ich tagsüber oder abends zu meiner Frau", fuhr er fort, "... zu deiner Frau", äffte Katta ihn nach und nahm wieder einen Schluck. "Ich sagte also zu Eva: >Eva, ich gehe jetzt in den Keller und hole mir einen Wein.< Sie missbilligte das, das wusste ich, das brauchte sie mir nicht zu sagen. Aber sie gab es mir doch zu verstehen. Sie seufzte etwas, was wie >Schon wieder!< klang. Schon wieder holt der sich Alkohol! Selbst der edelste Bordeaux oder Chiraz oder Barbarino war für sie nur eins, Alkohol. Und ein Dom Perignon oder eine Witwe ... Alkohol, nix weiter. Also sagte sie, sie rief es mir hinterher, wenn ich die Tür zum Keller schon geöffnet hatte, >dann bring wenigstens Apfelsaft für die Kinder mit!< Apfelsaft, oder Orangensaft, oder Fanta, oder Cola! Dann bring wenigstens ... S. 88-89
Und dass sie ein tapferes Mädchen sei, ein wirklich tapferes Mädchen. Und dass er auf ihr und "unser Wohl" trinke.
Und nach einer Weile und einem weiteren Glas fragte er, ob sie sich nicht duzen wollten.
Sie rückten eng zusammen auf der gepolsterten Eckbank unter der glockenförmigen Deckenlampe am runden Tisch, nachdem Roswitha alle Lichter bis auf das Licht über ihrem Tisch und das gedämpfte hinter der Theke gelöscht hatte. Sie saßen in einem schummrigen kleinen Lichtzelt, das sie vor der Welt abzuschotten und zu schützen schien.
Als Robert zur Toilette gegangen war, hatte er den Empfang inspiziert und gesehen, dass es einen Nachtportier offenbar nicht gab. Am Schlüsselbrett, wo die Schlüssel mit Holzklöppelanhängern nach Zimmernummern geordnet baumelten, fehlten lediglich zwei Schlüssel: seiner und offenbar der von der rothaarigen Schriftstellerin. Er erinnerte sich noch, wie sie gekichert hatte, als sie, von den Buchhändlerpaaren begleitet, vor Stunden, wie ihm schien, in den Lift gestiegen war.
Roswitha hatte die Theke aufgeräumt und alle Flaschen, bis auf den Rotwein, der vor ihnen auf dem Tisch stand, weggeschlossen. Sie hatte Robert aus ihrem Leben erzählt, und er hatte nicht zugehört, weil er bereits vom Jagdfieber gepackt war. Roswitha würde seine Beute sein, wobei er nichts durch Überhastung, oder gar grobe Plumpheit verderben wollte. Bei dieser Pirsch war Behutsamkeit geboten; ein unbedachter Griff und das Wild würde flüchten. Und während sein alkoholisiertes Hirn ihm immer wieder handgreifliche Schritt-für-Schritt-Strategien ausmalte (jetzt lege ich meine Hand auf ihr Knie, jetzt prüfe ich, ob sich ihre Schenkel vor meiner Hand schließen oder öffnen), spürte er vage Schuldgefühle, wusste nicht mehr, ob gegenüber Eva oder gegenüber Katta.
Von Roswithas Erzählung hatte er nur so viel mitbekommen, dass ihr polnischer Lebensgefährte sie ab und zu leider schlage. Schlage? Ja, aber nur, wenn er zu viel getrunken habe. Leider jedoch trinke er oft zu viel.
Warum schlage er sie denn?
Aus Eifersucht. Und das, obwohl sie ihm dazu nicht den geringsten Grund biete. Sie erlaubte Robert gleichzeitig, die Innenseite ihres Schenkels zart zu streicheln.
Grün und blau sei sie manchmal, sagte Roswitha. Und "Grün und blau?", fragte Robert ungläubig. Ja, sie könne es ihm zeigen, sagte Roswitha, öffnete zwei Knöpfe ihrer Bluse und zeigte ihm eine weiße Schulter, auf der man blasse Striemen sehen konnte.
Robert beugte sich sanft und etwas ungeschickt ihrer Schulter entgegen, er war dankbar für ihre Wundmale, die ihm die Gelegenheit boten, sie sanft zu küssen und sich dabei, neben aller Wollust, als zarter feinfühliger Mann im Unterschied zu ihrem groben Schläger-Freund zu erweisen. Als seine Lippen ihre Haut berührten, die mit einem leichten Schweißfilm überzogen war, kam ihm aus ihrer Achselhöhle ein beißender und gleichzeitig dumpfer Geruch entgegen, der ihr süßliches Parfüm plötzlich übertönte. Aber Roberts Rührung überwand seinen Ekel schnell. Mit schwammigem Mitgefühl dachte er daran, dass Roswitha sicher den ganzen Tag an der Theke gestanden und gearbeitet hatte. Schon wollte er ihre vom Gläserspülen aufgeweichte Hand ergreifen und küssen, als Roswitha seinen Kopf von ihrer Schulter wegdrückte und sagte: "Na! Na! Na!" Es klang nicht unfreundlich, trotzdem setzte sich Robert brav zurück. Und während er sich noch fragte, ob er denn eben einen Schritt vorangekommen oder einen Schritt zurückgefallen sei, nestelte Roswitha schon entschlossen und ungeduldig an seiner Hose, suchte mit energischer Hand, was sie finden wollte, und als sie es in dem gewünschten Zustand fand, sagte sie:
"Ah, was haben wir denn da? Mein Kleiner ist erregt und scharf?<
Und obwohl sich Robert der Lächerlichkeit der Situation, bei aller Hitze, die ihn durchschoss, bewusst war, war ihm klar, dass er sein Leben lang für diesen Augenblick, für die Wiederholung dieses Augenblicks mit neuen Frauen die verrücktesten, zerstörerischsten Anstrengungen auf sich nehmen, alle Scham und alle Selbstachtung beiseite schieben würde. Und blitzartig wurde ihm bewusst, dass auch seine Liebe zu Katta, die er jetzt aus Verzweiflung betrog, dass auch diese Liebe sich auf einen ähnlich lächerlichen Moment zurückführen ließ.
Dann lagen Roswitha und er in seinem Zimmer, und als er sich über sie stürzte und in sie fallen ließ, roch er immer stärker ihren zwiebligen Achselgeruch. Er hatte es, aus falschem Feingefühl, nicht gewagt, sie zu bitten, erst mal die Dusche zu benutzen, war ihr auch nicht mit gutem Beispiel vorangegangen, so als hätte er Angst gehabt, sie könnte es sich, während sie duschten, anders überlegen und ihm doch noch davonlaufen. Daran, dass er für sie wahrscheinlich auch beißend roch, dachte er nicht. Denn während er sich auf ihr bewegte, sein Kopf über ihrem hing, spürte er die Magensäure brennend in sich hochsteigen.
Zu viel Wein, dachte er, ich habe eindeutig zu viel getrunken.
Und dann dachte er: Was tue ich eigentlich? Aber da tat er schon gar nichts mehr und schlief schon fast ein und bemerkte noch schwach und undeutlich, wie Roswitha ihre Sachen zusammenraffte, sich anzog, und sehr leise und schnell sein Zimmer verließ.
Am nächsten Morgen war der Schnee weggetaut. Sein Auto stand an einem schmutzig grauen Morgen auf einem schmutzig grauen Parkplatz. Robert kam sich auch grau und schmutzig vor. Dabei hatte er mit einer verbissenen Intensität geduscht, so als hätte er in einem Bergwerk gearbeitet und müsste sich Schweiß und Kohlenstaub aus jeder Pore waschen. S. 208-211
Lesezitate nach Hellmuth Karasek - Betrug